Gedankengut aus meinen Wanderjahren

Gedankengut aus meinen Wanderjahren – Max Dauthendey

Dauthendey, der viel auf Reisen war, beschreibt in dieser autobiographischen Schrift die Weltanschauung, die sich bei ihm mit zunehmendem Studium der Werke Schopenhauers immer mehr veränderte.

Gedankengut aus meinen Wanderjahren

Gedankengut aus meinen Wanderjahren.

Format: eBook

Gedankengut aus meinen Wanderjahren.

ISBN eBook: 9783849655013

 

 

Auszug aus “Zur Stunde der Maus”:

Vor ein paar Tagen sagte ich zu meiner Frau:

«Ich fühle noch nicht die nötige Andacht zu dem neuen Buche, das ich schreiben will.»

Und während ich dies sagte, erinnerte ich mich dabei an jene japanische Dichterin, die, um die nötige Weihe für ein großes Werk zu empfangen, sich in einen Tempel einschließen ließ und nachts in dem einsamen Tempelraum auf dem Deckel eines Gebetbuches die Niederschrift ihrer dichterischen Eingebungen begann.

Der deutsche Übersetzer ihres Buches, der diesen Vorfall in der Einleitung berichtet, fügte hinzu: «Wo wäre heutzutage in Europa der Dichter zu finden, der eine ähnliche Vorbereitung für ein Buch nötig fände?»

Wie wenig kannte doch der Mann die Dichterherzen aller Zeiten!

Wo große Werke entstanden, sind auch die Männer, die diese schufen, immer mit herzklopfender Andacht an ihr Schaffen herangetreten.

Wenn sich die Dichter auch nicht in die Sakristeien der Kirchen zurückgezogen haben, so ist doch immer jeder ihrer geistigen und ernsten Arbeiten eine seelische und körperliche Kasteiung vorausgegangen.

Jeder künstlerische Schöpfungsakt wird durch Entsagungsakte vorbereitet. Der Beispiele sind viele, und wer die Geschichte der Zeiten verfolgt, wird immer wieder auf diese Vorbereitungen stoßen, Vorbereitungen voll innerster Andacht, die jedem bleibenden Werk vorangehen müssen.

Als ich nun meiner Frau neulich gestehen mußte, daß ich mich noch nicht andächtig genug fühle, das neue Buch zu beginnen, das meine Kameraden und mich in der Zeit der neunziger Jahre (1890-1900) in unseren Begegnungen und im Ringen um neue Ideale schildern soll, und als ich sagte, daß ich noch nicht die Weihe zur Mitteilung dieses Lebensabschnittes hätte – dessen Aufzeichnungen eine Art Fortsetzung meines letzten Buches «Der Geist meines Vaters» werden sollten –, da ahnte ich in meiner Niedergeschlagenheit nicht, auf welche seltsame Weise mir mein Schicksal die Weihe zu dieser Arbeit erteilen würde.

Seit zwei Jahren ungefähr trage ich den Wunsch, dieses Buch zu schreiben, mit mir herum.

Seit das erste Jahrzehnt unseres neuen Jahrhunderts vollendet war und ich bei mir bemerkte, wie schnell wir uns von einem vergangenen Jahrhundert entfernen, und wie viele Lebensäußerungen in die Vergessenheit sinken und verlorengehen können, wenn sie nicht in schriftlicher Erinnerung aufgespeichert und damit der Nachwelt wieder zugänglich gemacht werden, – seit ich also wahrnahm, daß auch das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts bereits in meiner Erinnerung zu verblassen begann, drängte es mich, das starke Dichterleben dieser neunziger Jahre, das reich an neuen Idealen, reich an großen Geistern war, in Aufzeichnungen für mich festzulegen.

Ich kann in diesem Buche, sagte ich mir, nur den bescheidenen Teil, der vom Jahrhundertende mit meiner Person zusammenhängt, wiedergeben. Aber es werden sich daraus für den Leser von selbst anziehende Fernblicke auf die ganze Dichterwelt der neunziger Jahre öffnen, und mancher junge Dichter findet vielleicht dann ein besseres Verständnis für seine eigene Zeit, wenn er einen Ausschnitt aus jener, die deutsche Dichtung so umwälzenden Vergangenheit nacherlebt.

Aber nicht bloß den jungen Dichtern und Denkern sei dies Buch gewidmet, das ihnen einiges von ihren Kameraden erzählen will, – vor allem dem deutschen Volk, das einen kleinen Einblick gewinnen soll in die Arbeitsernsthaftigkeit, in das märtyrerhafte Leiden und in die weltfernen Freuden, zwischen denen sich das Leben der oft verkanntesten Söhne des Volkes, das Leben der jungen Dichter und Denker, bewegt.

Den Wunsch, Andacht zu diesem Buche zu bekommen, trug ich besonders heftig nach der Drucklegung meines letzten Buches, im Herbst 1912, mit mir herum.

Aber ich war, teils zu zerstreut von alltäglichen Sorgen, teils fortgerissen vom äußerlichen Leben und vom Krieg, der im Balkan sich abspielte, unaufmerksam für meine Vergangenheit geworden, da mir stündlich blutende Wirklichkeit vor Augen stand.

Ich hatte mir gewünscht, dieses Buch in den zum Niederschreiben von Erinnerungen so angenehmen Wintertagen zu beginnen und es bis Frühjahr vielleicht vollendet zu haben.

Und nun war schon die Weihnachtszeit gekommen, und ich stand unzufrieden am Fenster und fütterte hungernde Vögel, und unter den Hungernden sah ich auch als grauen Vogel meine Seele hin und her fliegen.

Aber sie war scheu. Fürchtete sie den Wirklichkeitsblick meiner Augen? Sie wollte sich nicht in mir niederlassen und mir nicht von der Vergangenheit vorsingen.

Die Sperlinge, Amseln und Finken, die auf die Fensterbank kamen, wurden satt, aber meine Seele blieb hungrig, und meine Hände nahmen täglich unruhigere Bewegungen an, und meine Augen lasen nur die hastigen Kriegsnachrichten der Zeitungen und nahmen sich nicht die Ruhe, in mir selbst zu lesen.

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