Staatsanwalt Sierlin

Staatsanwalt Sierlin – John Henry Mackay.

Mackays Ausflug in die Welt der Krimis entwickelt sich zu einem rasanten Duell zwischen Sierlin, dem Staatsanwalt und Braun, der wegen ihm unschuldig im Knast saß … .

Staatsanwalt Sierlin

Staatsanwalt Sierlin.

Format: eBook

Staatsanwalt Sierlin.

ISBN eBook: 9783849656416.

 

Auszug aus dem Text:

1.

 

An einem Märzabend kam Staatsanwalt Sierlin vom Landgericht in Berlin, wie gewohnt, nach Hause, als in der Nähe seiner Wohnung ein junger Mensch hinter ihm herging, der – wie es ihm schien – beim Vorübergehen seine Schritte verlangsamte. Da er aber weder ihn ansah noch zurückblickte, glaubte er sich getäuscht zu haben.

Zwei Tage später, und fast um die gleiche Stunde und auf derselben Stelle, geschah das gleiche: wieder schien es ihm, als ob Schritte, die er hinter sich gehört, beim Näherkommen und Vorüberschreiten langsamer wurden. Diesmal faßte er die Person des Betreffenden ins Auge und sah ihr nach. Aber weder erkannte er in ihr die von vorgestern wieder, noch hatte er Veranlassung, sich weiter um den Fremden zu kümmern, denn er verschwand in dem trüben und mit Regen drohenden Abend. Er hatte den Vorfall bereits vergessen, als er die Tür seines, von der Straße durch einen kleinen Vorgarten getrennten, Hauses aufschloß.

Erinnert wurde er erst wieder an die Begegnung, als sie sich am nächsten Abend, um eine Stunde später, aber wieder in nächster Nähe seines Hauses, zum zweiten Male wiederholte. Wieder war die stille Vorstadtstraße menschenleer. Die wenigen Häuser an ihr – voneinander getrennt stehende Villen – lagen still, wie immer. So auch der kleine Park ihnen gegenüber – Stolz der Anwohner und Freude ihrer Kinder, die im Sommer in ihm spielten.

Wieder also hörte Staatsanwalt Sierlin beim Nachhausekommen die Schritte hinter sich und ihr allmähliches Verlangsamen beim Näherkommen. Wieder ging der junge Mensch – derselbe von gestern und vorvorgestern – ohne ihn anzusehen oder sich sonst im geringsten um ihn zu kümmern, aber wieder – wie er diesmal nicht umhin konnte, zu bemerken – dichter, als es bei der Breite des Trottoirs nötig war, an ihm vorbei. Diesmal warf er ihm einen prüfenden Seitenblick zu und blieb stehen, um ihm nachzusehen, bis er um die Ecke verschwunden war. Es war ein noch junger Mensch, in den Zwanzigern, einfach, aber durchaus anständig gekleidet, ohne Überzieher, mit weichem Filzhut. Er hielt – wie die beiden ersten Male – die Hände in den Taschen seines Jacketts vergraben.

Ein Bankangestellter oder so etwas Ähnliches, dachte der ihm Nachblickende, den sein Beruf um dieselbe Stunde wie mich entläßt, und der wahrscheinlich im Ort selbst wohnt. Aber das muß doch eigentlich ein Umweg für ihn sein. Und warum geht er immer so dicht an mir vorbei: –

Diese jungen Leute von heute haben schlechte Manieren, resümierte er beim Aufschließen seiner Haustür. Sollte ich ihm nochmals begegnen, werde ich ausweichen und beiseite treten, um ihn so auf das Ungehörige seines Betragens aufmerksam zu machen.

Da der junge Mensch indessen in den nächsten Tagen fortblieb, hatte er keine Gelegenheit, seine Absicht auszuführen, und die flüchtigen und gleichgültigen Begegnungen entschwanden seinem Gedächtnis völlig.

2.

Sie würden es für immer gewesen sein, wenn er nicht etwa acht Tage später – und ebenfalls beim Nachhausekommen – auf einer der Bänke, die am Rande des kleinen Gehölzes jenseits der Straße in regelmäßigen Abständen aufgestellt waren (und zwar auf der, die seinem Hause am nächsten und ihm schräg gegenüber stand), eine Gestalt hätte sitzen sehen, in der er den jungen Mann, der ihm in der letzten Woche mehrere Male hier begegnet war, wiederzuerkennen glaubte. Es geschah selten, daß die Bänke um diese Jahreszeit schon benutzt wurden. Es war noch recht kühl, und der Frühling ließ sich in diesem Jahre besonders schlecht an. Fremde Spaziergänger kamen fast nie in diese abgelegene Gegend, und die hier Wohnenden hatten sich so daran gewöhnt, diese Anlagen als zu ihren Häusern und daher gewissermaßen ihnen allein gehörig zu betrachten, daß unbekannte Personen, die sich hierher verirrten, auffallen mußten.

Was also einen Menschen bewegen konnte, sich an einem so kühlen und feuchten Tage, wie dem heutigen, auf einer der Ränke niederzulassen, war auf den ersten Blick hin unverständlich und konnte seinen Grund nur in einem vorübergehenden Unwohlsein oder großer Übermüdung haben. Wenn keine Absicht vorlag. Aber welcher Art sollte diese wohl sein? – Einbrecher, die nach einer Gelegenheit suchten, die Gegend auszuspionieren, fingen es wohl anders und auf weniger plumpe Weise an. Nach einem solchen sah dieser junge Mensch auf der Bank dort drüben auch gar nicht aus. Daß es jedoch derselbe war, an den er wieder erinnert wurde, darüber war sich Staatsanwalt Sierlin nicht mehr im Zweifel: es war derselbe braune Anzug, derselbe weiche Hut, und es war dieselbe Haltung der in den Seitentaschen vergrabenen Hände. Er blieb, bevor er sein Haus betrat, einen Augenblick stehen, um noch einen zweiten Blick hinüberzuwerfen: ob der dort Sitzende etwa seinerseits zu ihm herübersehen oder aufstehen und weggehen würde. Aber der junge Mann, der dort, nur durch den Fahrdamm und um die halbe Breite der Nebenvilla von ihm getrennt, unter den noch kahlen Bäumen saß, schien ihn auch diesmal nicht gesehen zu haben und auch jetzt noch nicht zu sehen. Sein Gesicht war, soweit es sich auf diese Entfernung erkennen ließ, in die Höhe gewandt, und seine Blicke gingen über die Häuser hinweg und in den Himmel über ihnen. Es war die Haltung eines tief in seine Gedanken Versunkenen, eines seiner Umgebung ganz Entrückten.

Heute ist er früher frei gewesen als ich, sagte sich Staatsanwalt Sierlin, als er die Treppe hinaufstieg, scheint aber noch kein Verlangen zu haben, nach Hause zu kommen, sondern will sich lieber noch die schönste Erkältung holen. Verrückter Kauz! – Und er rief, so zugleich seine Ankunft meldend, wie gewöhnlich nach dem Essen.

Da es nicht gleich kam, während er im Eßzimmer auf die Seinen wartete, trat er noch einen Augenblick ans Fenster und sah hinüber. Der junge Mann saß noch immer dort auf der Bank und in derselben unveränderten Haltung.

Hungrig scheint er auch nicht zu sein. Aber ich bin es! – dachte der ihn Betrachtende weiter. Er trat in das Zimmer zurück, da eben die Suppe aufgetragen wurde.

Er hatte die abermalige Begegnung schon vergessen, als er bei Tisch saß und sich von seiner Frau und seinen Kindern, zwei Knaben im Alter von neun und dreizehn Jahren, die kleinen, aber für sie so wichtigen Neuigkeiten aus Ort und Schule erzählen ließ.

Als er nach der Mahlzeit nochmals an das Fenster trat, diesmal ohne jede Absicht, war die Bank drüben leer. Er bemerkte es nicht.

3.

Nicht so am nächsten Tage, als er, um eine volle Stunde später als gewöhnlich – denn er war durch eine Sitzung aufgehalten worden – in seine Straße einbog.

Noch weniger als der gestrige lud dieser Tag zum Sitzen im Freien ein: es hatte geregnet, die Bänke waren noch naß, und von den Zweigen der Bäume tropfte es nieder.

Aber er saß da. Dieselbe Haltung: Blick nach oben, Hände in den Taschen.

Ein hirnverbrannter Idiot! murmelte Staatsanwalt Sierlin vor sich hin, als er ihn wieder so dasitzen sah, man müßte ihn einsperren lassen, den Narren, damit er sich nicht die Schwindsucht holt … Obwohl er sich sagte, daß ihn dieser Fremde und sein Gebaren nicht das geringste anging, unterließ er es doch nicht, nach dem Essen einen Blick hinüberzuwerfen, um zu sehen, ob er noch immer dasaß. Es war reine Neugier. Wie lange hielt es so ein Mensch bei solchem Wetter auf einer Bank im Freien aus? –

Wie wenn der so Beobachtete nur auf diesen Augenblick gewartet hätte, erhob er sich, tat ein paar Schritte und überschritt dann den Fahrdamm, geradewegs auf seine Haustür zukommend, aber ohne aufzusehen. Er sah ganz so aus wie ein Mensch, der sich entschlossen hat, einen langgehegten Entschluß endlich auszuführen.

….

 

 

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