Wert und Ehre deutscher Sprache – Hugo von Hofmannsthal
Dieses Werk ist eine von Hofmannsthal herausgegebene Sammlung biografischer und literaturkritischer Essays. Neben dem gleichnamigen Aufsatz enthält dieser Band Schriften über Justus Georg Schottel, Leibniz, Justus Möser, Wieland, Herder, Goethe, Jean Paul u.v.a.
Format: eBook
Wert und Ehre deutscher Sprache.
ISBN eBook: 9783849656003.
Auszug aus “Herder:”
Wenn uns jemand ein Rätsel vorlegte, wie Bilder des Auges und alle Empfindungen unsrer verschiedensten Sinne nicht nur in Töne gefaßt, sondern auch diesen Tönen mit inwohnender Kraft so mitgeteilt werden sollen, daß sie Gedanken ausdrücken und Gedanken erregen; ohne Zweifel hielte man dies Problem für den Einfall eines Wahnsinnigen, der, höchst ungleiche Dinge einander substituierend, die Farbe zum Ton, den Ton zum Gedanken, den Gedanken zum malenden Schall zu machen gedächte. Die Gottheit hat das Problem tätig aufgelöset. Ein Hauch unsres Mundes wird das Gemälde der Welt, der Typus unsrer Gedanken und Gefühle in des andern Seele. Von einem bewegten Lüftchen hangt alles ab, was Menschen je auf der Erde Menschliches dachten, wollten, taten und tun werden: denn alle liefen wir noch in Wäldern umher, wenn nicht dieser göttliche Atem uns angehaucht hätte und wie ein Zauberton auf unsern Lippen schwebte. Die ganze Geschichte der Menschheit also mit allen Schätzen ihrer Tradition und Kultur ist nichts als eine Folge dieses aufgelösten göttlichen Rätsels. Was uns dasselbe noch sonderbarer macht, ist, daß wir, selbst nach seiner Auflösung, bei täglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zusammenhang der Werkzeuge dazu begreifen. Gehör und Sprache hangen zusammen: denn bei den Abartungen der Geschöpfe verändern sich ihre Organe offenbar mit einander. Auch sehen wir, daß zu ihrem Consensus der ganze Körper eingerichtet worden; die innere Art der Zusammenwirkung aber begreifen wir nicht. Daß alle Affekten, insonderheit Schmerz und Freude, Töne werden, daß, was unser Ohr hört, auch die Zunge reget, daß Bilder und Empfindungen geistige Merkmale, daß diese Merkmale bedeutende, ja bewegende Sprache sein können – das alles ist ein Concent so vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund gleichsam, den der Schöpfer zwischen den verschiedensten Sinnen und Trieben, Kräften und Gliedern seines Geschöpfs eben so wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zusammenfügte.
Wie sonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige, wenigstens das beste Mittel unsrer Gedanken und Empfindungen sein sollte! Ohne sein unbegreifliches Band mit allen ihm so ungleichen Handlungen unsrer Seele wären diese Handlungen ungeschehen, die feinen Zubereitungen unsres Gehirns müßig, die ganze Anlage unsres Wesens unvollendet geblieben, wie die Beispiele der Menschen, die unter die Tiere gerieten, zeigen. Die Taub- und Stummgebornen, ob sie gleich Jahre lang in einer Welt von Gebärden und andern Ideenzeichen lebten, betrugen sich dennoch nur wie Kinder oder wie menschliche Tiere. Nach der Analogie dessen, was sie sahen und nicht verstanden, handelten sie; einer eigentlichen Vernunftverbindung waren sie durch allen Reichtum des Gesichts nicht fähig worden. Ein Volk hat keine Idee, zu der es kein Wort hat: die lebhafteste Anschauung bleibt dunkles Gefühl, bis die Seele ein Merkmal findet und es durchs Wort dem Gedächtnis, der Rückerinnerung, dem Verstande, ja endlich dem Verstande der Menschen, der Tradition einverleibet: eine reine Vernunft ohne Sprache ist auf Erden ein utopisches Land. Mit den Leidenschaften des Herzens, mit allen Neigungen der Gesellschaft ist es nicht anders. Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht, indem sie die ungeheure Flut seiner Affekten in Dämme einschloß, und ihr durch Worte vernünftige Denkmale setzte. Nicht die Leier Amphions hat Städte errichtet, keine Zauberrute hat Wüsten in Gärten verwandelt: die Sprache hat es getan, sie, die große Gesellerin der Menschen. Durch sie vereinigten sie sich bewillkommend einander, und schlossen den Bund der Liebe. Gesetze stiftete sie und verband Geschlechter; nur durch sie ward eine Geschichte der Menschheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der Seele möglich. Noch jetzt sehe ich die Helden Homers und fühle Ossians Klagen, obgleich die Schatten der Sänger und ihrer Helden so lange der Erde entflohn sind. Ein bewegter Hauch des Mundes hat sie unsterblich gemacht und bringt ihre Gestalten vor mich; die Stimme der Verstorbenen ist in meinem Ohr: ich höre ihre längstverstummeten Gedanken. Was je der Geist der Menschen aussann, was die Weisen der Vorzeit dachten, kommt, wenn es mir die Vorsehung gegönnt hat, allein durch Sprache zu mir. Durch sie ist meine denkende Seele an die Seele des ersten und vielleicht des letzten denkenden Menschen geknüpfet: kurz, Sprache ist der Charakter unsrer Vernunft, durch welchen sie allein Gestalt gewinnet und sich fortpflanzet.
Die Sprache ist mehr als ein Werkzeug: sie ist gleichsam Behältnis und Inhalt der Literatur – wie viel freies Feld geben uns diese Worte zu übersehen, zu bearbeiten, zu nützen?
Wenn Wörter nicht bloß Zeichen, sondern gleichsam die Hüllen sind, in welchen wir die Gedanken sehen: so betrachte ich eine ganze Sprache als einen großen Umfang von sichtbar gewordenen Gedanken, als ein unermeßliches Land von Begriffen. Jahrhunderte und Reihen von Menschenaltern legten in dies große Behältnis ihre Schätze von Ideen, so gut oder schlecht geprägt sie sein mochten: neue Jahrhunderte und Zeitalter prägten sie zum Teil um, wechselten damit, und vermehrten sie: jeder denkende Kopf trug seine Mitgift dazu bei: jeder Erfinder legte seine Hauptsumme von Gedanken hinein, und ließ sich dieselbe durch Wucher vermehren: Ärmere liehen davon, und schafften Nutzung – falsche Münzer lieferten schlecht Geld, entweder zur Erstattung des Geborgten, oder sich ein ewiges Andenken zu prägen – heldenmäßige Räuber wußten sich bloß durch Raub und Flammen einen Namen zu machen – und so ward nach großen Revolutionen die Sprache eine Schatzkammer, die reich und arm ist, Gutes und Schlechtes in sich faßt, gewonnen und verloren hat, Zuschub braucht, und Vorschub tun kann, die aber, sie sei und habe was sie wolle, eine ungemein sehenswürdige Merkwürdigkeit bleibt.
Jedes Buch ist ein Beet von Blumen und Gewächsen; jede Sprache ein unermeßlicher Garten voll Pflanzen und Bäume: giftig und heilsam, nahrhaft und dürre, für Auge, Geruch und Geschmack, hoch und niedrig, aus allen Weltteilen und mit allen Farben, aus mancherlei Geschlechtern und Arten – ein sehenswürdiger Anblick! – Wer wird hier bloß den Riß des Gartens in toten Linien sehen wollen, wo der lebendige Inhalt desselben so viel zu lehren verspricht; und wer wird bloß bei der dürren Form der Sprache stehen bleiben, da das Materielle, was sie enthält, der Kern ist?
Und dies Materielle der Sprachen, der große gedankenvolle Raum, den sie einschließen, wird sich in verschiednen Ausdehnungen betrachten lassen. Es gibt eine Symbolik, die allen Menschen gemein ist – eine große Schatzkammer, in welcher die Kenntnisse aufbewahrt liegen, die dem ganzer Menschengeschlechte gehören. Der wahre Sprachweise, den ich aber noch nicht kenne, hat zu dieser dunkeln Kammer den Schlüssel: er wird sie, wenn er kommt, entsiegeln, Licht in sie bringen, und uns ihre Schätze zeigen – das würde die Semiotik sein, die wir jetzt bloß dem Namen nach in den Registern unsrer philosophischen Enzyklopädien finden: eine Entzifferung der menschlichen Seele aus ihrer Sprache.
Jede Nation hat ein eignes Vorratshaus solcher zu Zeichen gewordenen Gedanken, dies ist ihre Nationalsprache: ein Vorrat, zu dem sie Jahrhunderte zugetragen, der Zu- und Abnahmen, wie das Mondlicht, erlitten, der mehr Revolutionen und Veränderungen erlebt hat, als ein Königsschatz unter ungleichartigen Nachfolgern: ein Vorrat, der freilich oft durch Raub und Beute Nachbarn bereichert, aber, so wie er ist, doch eigentlich der Nation zugehört, die ihn hat, und allein nutzen kann – der Gedankenschatz eines ganzen Volks. Schriftsteller der Nation! wie könnt ihr ihn nutzen? und ein Philolog der Nation, was könnte er nicht in ihm zeigen, durch ihn erklären?
Alles, was dieser Nationalschatz Eignes hat: Ursprung, Geschichte, und wahre Art dieser Eigenheit: das Besondre desselben in Fächern der Armut und des Überflusses: das Sehenswürdige in Gestalten der Schönheit, und in Mißgeburten: Münzen, die wohl oder übel geprägt sind: Schaustücke, die sich durch ihre Seltenheit, oder innern Wert, oder durch ihre Geschichte empfehlen: Merkwürdigkeiten, auf bequemen oder unbequemen Stellen: Figuren von außerordentlich leichten, oder besonders widrigen Stellungen – und hundert unerhörte Dinge mehr würden uns über diesen Gedankenvorrat eines Volks gesagt werden können, die jeder Eingeborne der Sprache, ihr mit begierigem Ohr hörete.
Wir sind Menschen, ehe wir Weltweisen werden: wir haben also schon Denkart und Sprache, ehe wir uns der Philosophie nähern, und beide müssen also zum Grunde liegen, die Sprache des Verstandes: der Vernunft, die Denkart des Lebens: der Spekulation. Und wie viel liegt damit zum Grunde? Muttersprache, der ganze Umfang von Begriffen, die wir mit der Muttermilch einsogen – Muttersprache, die ganze Welt von Kenntnissen, die nicht gelehrte Kenntnisse sind – Muttersprache, das Feld, auf welchem alle Schriften des guten Verstandes hervor wuchsen – was ist sie also für eine Menge von Ideen! Ein Berg, gegen welchen die kleine Anzahl philosophischer Abstraktionen ein künstlich aufgeworfener Maulwurfshügel – einige Tropfen abgezogenes Geistes gegen das Weltmeer!
Wir haben noch keinen sprachkundigen Philosophen gehabt, der auch nur einiges für unsere Sprache getan hätte, was ich bisher über mehrere Sprachen gleichsam in die weite Welt geredet habe. Und wie ergötzend würde mir der Anblick sein, einige von diesen Aufgaben untersucht und im einzeln bestätigt zu sehen:
Wiefern hat die Sprache der Deutschen eine Harmonie mit ihrer Denkart? wiefern ihre Sprache Eindrücke auf die Gestalt ihrer Literatur gemacht? Wie kann man es ihrer Mundart, von ihren Elementen, von ihrer Aussprache und Silbenmaßen an, bis zu dem ganzen Naturell derselben an kennen, daß sie unter dem deutschen Himmel gebildet worden, um unter demselben zu wohnen, und zu wirken?
Wie viel kann man in ihr aus der Welt von Umständen und Begebenheiten erklären, so daß der eigentümliche Inhalt derselben von ihrer Denk- und Lebensart gesammlet wurde? Wie manches läßt sich von der Etymologie einzelner Wörter bis zum ganzen Bau der Schreibart aus den Gesichtspunkten bestimmen, die ihnen eigen waren, so daß die Regeln der Sprachlehre mit den Grundstrichen ihres Charakters parallel laufen, und das ganze große Geheimnis des deutschen Idiotismus ein Spiegel der Nation ist?
Welche Revolutionen hat die deutsche Sprache teils in ihrer eigenen Natur, teils durch die Zumischung fremder Sprachen und Denkarten erfahren müssen, daß sich ihr Geist wandelte, wenn gleich ihr Körper derselbe blieb?
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