Abhandlungen über die Psalmen, Band 2

Abhandlungen über die Psalmen, Band 2 – Hilarius von Poitiers

Hilarius’ “Abhandlung über die Psalmen” ist ein mindestens ebenso großes Werk wie die “Bücher über die Dreieinigkeit”, aus dem wir sogar noch mehr über den Autor erfahren können. Die “Bücher über die Dreieinigkeit” sind ein Appell an alle Christen der Zeit, geschrieben für künftige Generationen ebenso wie für sie selbst; so charakteristisch es in vielerlei Hinsicht für den Autor ist, so sehr verbergen der Umfang des Werkes und seine ausgeprägte Rhetorik seine Persönlichkeit. Aber die “Abhandlung über die Psalmen”, die uns fast in der Form von Notizen eines Stenographen erreicht zu haben scheinen, so kunstlos und redselig ist ihr Stil, zeigen uns Hilarius von einer anderen Seite. Er belehrt seine vertraute Gemeinde, und er kennt seine Schäfchen so gut, dass er alles ausschüttet, was ihm durch den Kopf geht. In der Tat scheint er oft laut über Themen nachzudenken, die ihn interessieren, anstatt sich an die Bedürfnisse seiner Zuhörer zu wenden. Die praktische Ermahnung findet tatsächlich einen viel kleineren Raum als die mystische Exegese und die spekulative Christologie. Doch werden abstruse Fragen niemals durch eine stilistische Entfaltung noch undurchsichtiger gemacht. Die Sprache ist frei und fließend, immer die eines gebildeten Mannes, der durch Übung Leichtigkeit erlangt hat. Und hier verrät er, so seltsam es einem Leser der anderen Werke auch erscheinen mag, eine Vorliebe für poetische Worte, was zeigt, dass er an anderer Stelle bewusst auf solche Verzierungen verzichtet hat. Doch auch hier schwelgt er nicht in eindeutigen Reminiszenzen an die Dichter. Dies ist Band zwei von zwei.

Abhandlungen über die Psalmen, Band 2

Abhandlungen über die Psalmen, Band 2.

Format: eBook/Taschenbuch

Abhandlungen über die Psalmen, Band 2

ISBN eBook: 9783849660581

ISBN Taschenbuch: 9783849667993

 

Auszug aus dem Text:

Der hundertachtzehnte Psalm.

Vorrede.

Vorrede zu ps. 118. 1.

Diejenigen, welche zum Unterrichte in der vernünftigen und vollkommenen Weisheit vorbereitet werden, müssen sogleich von dem Alphabete der Buchstaben an unterwiesen werden, damit sie die vollkommene und wahre Ansicht gleichsam von dem Beginne der ersten Unterweisung an erlangen.  Weil dieses der heilige Apostel Paulus wußte, daß nämlich nur jene Weisheit die wahre, und die einer nützlichen Lehre sey, welche von dem frühesten Alter und schon von dem Beginne der Kindheit anfängt, so schrieb er unter den großen und erhabenen Lehren des Glaubens und des Eifers im zweiten Briefe an den Timotheus folgendes:627 „Du aber bleibe bei dem, was du gelernt und geglaubt hast; denn du weißt ja, von wem du es gelernt hast. Auch kennst du von Kindheit an die heiligen Schriften, welche dich unterweisen können zur Seligkeit.“ Dieses sey des gegenwärtigen Psalmes wegen gesagt, in welchem, weil in ihm die Erkenntniß der Wahrheit zur Unterweisung der menschlichen Unwissenheit kund gethan werden sollte, der Gang der Lehre eben nach dem Anfange mit den Buchstaben des Alphabetes eingerichtet ist. Denn nach den Buchstaben der Hebräer fangen jedesmal acht Verse nach einander mit demselben Buchstaben an. Die ganze Zahl der Verse aber besteht aus hundert sechs und siebenzig Versen. Denn da die ganze hebräische Sprache aus zwei und zwanzig Buchstaben besteht, und auf jedesmal acht Verse ein Buchstabe trifft; so gibt es, wenn man die jedesmaligen acht Verse mit der Zahl der Buchstaben multiplizirt, diese Verse-Zahl. Die Ursache also, warum dieser ganze Psalm die Ordnung der Buchstaben durchläuft, glaube ich, sey diese, daß, wie die Kleinen und die Unwissenden, welche die erste Anleitung zum Lesen erhalten sollen, zuerst diese Buchstaben des Alphabetes, aus welchen die Worte zusammengefügt sind, kennen lernen müssen, so auch die menschliche Unwissenheit zur Sittlichkeit, zur Zucht, zur Erkenntniß Gottes durch diese jedesmalige Achtzahl eines jeden Buchstabens, wie gleichsam durch die Anfangsgründe der Kinderlehre, unterrichtet werden möchte.

2.

Denn schwer und ungemein schwierig ist es für den Menschen, durch sich selbst, oder durch weltliche Lehrer den Sinn der himmlischen Vorschriften zu erfassen; und unsere schwache Natur ist für den Unterricht in den göttlichen Lehren nur durch die Gnade dessen, welcher dieselben gegeben hat, fähig. Denn die, welche das, was ihnen gerade in die Hände kommt, nur oberflächlich lesen, glauben, es liege in den Worten, in den Namen und in den Sachen kein Unterschied. Wenn es aber schon die Sprache bei ihrem gewöhnlichen Gebrauche nicht zuläßt, daß wir annehmen, durch verschiedene Benennungen der Dinge sey nicht Verschiedenes bezeichnet, dürfen wir dann glauben, diejenigen, welche Gottes Aussprüche vortrugen, seyen so unwissend und so verworren gewesen, daß sie entweder an Worten Mangel hatten, um sich ihrer zu bedienen, oder daß sie die Unterscheidungs-Arten nicht kannten?

3.

Denn Mehrere glauben, wenn sie die Worte Gesetz, Satzung, Gebote, Zeugnisse, Gerichte hören, welche Moses alle in dem verschiedenen Sinne einer jeden Art gebraucht hat, diese seyen Eines und dasselbe; indem sie nicht wissen, daß etwas anders das Gesetz, etwas Anders die Satzung, etwas Anders das Gebot, etwas Anders das Zeugniß, etwas Anders das Gericht sey; daß aber diese Ausdrücke in ihren Bedeutungen weit von einander sich unterscheiden und abweichen, bezeugt uns der achtzehnte Psalm, in welchem die eigentliche Bedeutung einer jeden Benennung und Art enthalten ist.628 „Denn das Gesetz des Herrn ist unbefleckt, und bekehret die Seelen. Das Zeugniß des Herrn ist getreu, und unterweiset die Kleinen. Die Gerechtigkeit des Herrn ist gerade, und erfreuet die Herzen. Das  Gebot des Herrn ist lichtvoll, und erleuchtet die Augen. Die Furcht des Herrn ist heilig, und dauert in Ewigkeit. Die Gerichte des Herrn sind wahrhaft, gerechtfertigt in sich selber.“ Es gibt also Unterschiede in allen Dingen; und ein weiser und verständiger Mann muß in dem, was geschrieben steht, unterscheiden, wo das Gesetz, wo das Gebot, wo das Zeugniß, wo die Satzungen, und wo die Gerichte bezeichnet sind, damit nicht jene Dinge, welche die prophetische Rede mit bewunderungswürdiger Andeutung der Eigenthümlichkeit einer jeden Sache unterschieden hat, die Schwäche unserer Unwissenheit durch Mangel an Belehrung und Kenntniß verwirre. Darum hat dieser größte und die übrigen an Reichhaltigkeit weit übertreffende Psalm dieses alles nach den einzelnen Buchstaben unterschieden; auf daß durch diese Grundbestandtheile der Wörter der Sinn und die Unterscheidung der Lehre, wie man glauben und leben und zur Erkenntniß des Herrn angeleitet werden soll, angegeben werden möchte.

4.

Mehrere aber sind der Meinung, daß die Einfalt des Glaubens zur vollkommenen Hoffnung der Ewigkeit genügen könne; als wenn das, was nach dem Urtheile der Welt Unschuld ist, der Unterweisung in der himmlischen Lehre nicht bedürfte. Weil sich aber die Sache anders verhält, darum wurde jetzt die Kenntniß unschuldig in Gott zu leben, und in der Unschuld der Religion gemäß zu verharren mit großer Fülle prophetischer Erörterung auseinander gesetzt, weil es schwer ist, daß Jemand durch sich selbst, das ist, durch weltlichen Unterricht diese Kenntniß der religiösen Unschuld und den wahren Wandel eines frommen und unschuldigen Lebens erreiche. Auch der Apostel wußte, daß die menschliche Natur an sich zu schwach sey, um diese Kenntniß der Lebensweise zu erlangen. Denn da er629 von den Gaben  der Gnadengeschenke und Geschenke Gottes sprach, fügte er nachdem er das Wort der Weisheit vorangestellt hatte, sogleich das Wort der Erkenntniß bei; denn dieses von Gott verliehene Geschenk der Bekenntniß folgt auf das der Weisheit; weil der Gebrauch der Weisheit durch den Gebrauch der Erkenntniß vollkommen wird.

6.

Es stoßt uns aber im gegenwärtigen Psalme auch noch diese Schwierigkeit auf, daß, da wir nur zwei Psalme nach den hebräischen Buchstaben verfaßt erhalten haben, nämlich den hundert zehnten und eilften, so daß von dem ersten bis zu dem zwei und zwanzigsten Buchstaben nach den Hebräern die Anzahl der Verse entspricht, und jeder Vers mit einem nach der Ordnung des Alphabetes treffenden Buchstaben anfängt, jetzt in diesem Psalme jeder Buchstabe des Alphabetes jedesmahl mit acht Versen anfängt. Da aber in dem Psalme alle Vorschriften, wie man leben, glauben und Gott gefallen soll, enthalten sind; so sind alle Anfangsbuchstaben in derjenigen Zahl begriffen, welche vorzugsweise durch ihre vollkommene und religiöse Bedeutung, da alle ihre Theile sich einander gleichmäßig entsprechen, vollkommen ist. Denn erstens sind, wenn man sie in zwei Theile theilt, diese einander gleich; ferner stimmen, wenn sie in vier Theile getheilt wird, auch diese mit einander überein; so daß die Bedeutungen derjenigen Psalmen, welche in dieser Zahl stehen, sie mag nun einfach oder vervielfacht seyn, zeigen, daß die Fülle dieser Zahl heilig und religiös sey. Diese Zahl ist aber auch in dem Gesetze heilig. Denn es ist630 geboten, daß der, welcher geboren wird, am achten Tage das Zeichen der Beschneidung erhalten sollte. Dieses ist auch bei der Beschneidung des Herrn631 beobachtet worden; und nach dieser Anzahl der Tage wurde er, obwohl er der Beschneidung nicht bedürfte, im Tempel geopfert, damit an seinem Leibe das schwache menschliche Fleisch beschnitten würde. Diese Zahl reiniget auch alle Arten Thiere, daß sie zum Opfer würdig befunden werden; denn am achten Tage müssen sie nach dem Gebote632 geopfert werden. In dieser Zahl wurden ferner in den Tagen der Sündfluth633 diejenigen ausgewählt, welche das menschliche Geschlecht fortpflanzen sollten. Die Hauptsache unserer Lehre und Belehrung also ist hier unter dieser vollkommenen Zahl alle Buchstaben des Alphabetes hindurch vollständig zusammengefaßt, unter der Zahl, vor welcher weder ein Opferthier für Gott rein war, noch auch Jemand, weil die Beschneidung noch nicht eintrat, in die Geschlechtsfamilie aufgenommen wurde, und von welcher die abermalige Fortpflanzung der Menschen ihren Anfang nahm. Der erste Buchstabe enthält nun folgende Verse.

 

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