Aus Europa – Reportagen 1919 – 1939

Aus Europa – Reportagen 1919 – 1939 – Joseph Roth

Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs war Roth für Zeitungen journalistisch tätig und reiste immer wieder durch Europa, um teils enthusiastisch, teils kritisch von den Zuständen in anderen Staaten und Städten zu berichten. Dieser Sammelband enthält seine besten Reportagen.

Aus Europa - Reportagen 1919 - 1939

Aus Europa – Reportagen 1919 – 1939.

Format: Print/eBook

Aus Europa – Reportagen 1919 – 1939.

ISBN Print: 9783849669683

ISBN eBook: 9783849656942.

 

Auszug aus dem Text:

Von Hunden und Menschen

Der Neue Tag, 1. 8. 1919

Zu den vielen Straßenbildern des Wiener Kriegselends hat sich seit einigen Tagen ein neues gesellt: ein vom Kriege zum rechteckigen Winkel konstruierter Mensch – Invalide mit Rückgratbruch – bewegt sich auf eine fast unerklärliche Weise durch die Kärntnerstraße und kolportiert Zeitungen. Auf seinem, mit dem Trottoir eine Horizontale bildenden gebrochenen Rücken sitzt – ein Hund. Ein wohldressierter, kluger Hund, der auf seinem eigenen Herrn reitet und aufpaßt, daß diesem keine Zeitung wegkommt. Ein modernes Fabelwesen: eine Kombination von Hund und Mensch, vom Kriege ersonnen und vom Invalidenjammer in die Welt der Kärntnerstraße gesetzt. Ein Zeichen der neuen Zeit, in der Hunde auf Menschen reiten, um diese vor Menschen zu bewachen. Eine Reminiszenz an jene große Zeit, da Menschen wie Hunde dressiert und in einer sympathischen Begriffskombination als “Schweinehunde”, “Sch…hunde” usw. von jenen benannt wurden, die selbst Bluthunde waren und so nicht genannt werden durften. Eine Folge des Patriotismus, der die aufrechten Ebenbilder Gottes abhängig machte von vierfüßigen Geschöpfen, die niemals den Seelenaufschwung besaßen, Heldentum und Kanonenfutterage zu bilden und höchstens zur Sanität assentiert werden durften. An der Brust des Invaliden baumelt ein Karl-Truppenkreuz. Am Halse des Hundes hängt eine Marke. Jener mit dem Karl-Truppenkreuz ist ein Leidender. Dieser mit der Marke ein Tätiger. Er bewacht das Leid des Invaliden. Er bewahrt ihn vor Schaden. Das Vaterland und die Mitmenschen konnten ihm nur Schaden zufügen. Diesen hat er es zu verdanken, daß jener ihn bewacht. Oh, Zeichen der Zeit! Ehemals gab es Schäferhunde, die Schafherden, Kettenhunde, die Häuser bewachten. Heute gibt es Menschenhunde, die Invalide bewachen müssen, Menschenhunde als Folgeerscheinung der Hundemenschen. Wie eine Vision wirkte auf mich dieses Bild: ein Hund sitzt auf einem Menschen. Ein Mensch ist froh, von diesem Hunde abhängig sein zu können, da er sich erinnert, wie er von anderen abhängig sein mußte. Gibt es Traurigeres als diesen Anblick, der ein Symbol der Menschheit zu sein scheint? Ringsum lustwandelt der Kriegsgewinn mit der Telepathie und in der Mitte ein berittener Hund! Inferiorität der menschlichen Rasse, Superiorität der tierischen. Wir haben es herrlich weit gebracht durch diesen Krieg, in dem die Kavallerie abgeschafft wurde, damit Hunde auf Menschen reiten können! …

Josephus

Winter

Der Neue Tag, 17. 11. 1919

Seit gestern spielt der Nordwind Fangball mit mitteleuropäischen Schneeflocken. Sie sind weiß, ganz kleine, winzige Kügelchen und haben gar keinen Nährwert. Sie bleiben sekundenlang auf gewendeten Winterröcken und papierenen Raglans liegen und dann sehen sie aus wie Sternchen. Aber sie zerfließen und dringen durch die Poren des dünnfaserigen Stoffes bis auf die Haut. Diese, das einzige noch nicht gewendete Kleidungsstück, das die Menschen tragen, schaudert zusammen vor dem naßkalten Gruß des Winters.

Der Himmel hat ein verdrießliches Gesicht, wie ein Fixbesoldeter. Sein Winterrock aus Wolken scheint auch nicht mehr echt zu sein. Vielleicht gibt es jetzt Wolken aus Papiermaché. Die Sonne hält sich strenge an die Vorschriften punkto: Lichtsparmaßnahmen. Der liebe Gott sitzt im Dunkeln. Man hat ihm wegen Überschreitung den Gasometer abgesperrt. Er kann also die anständigen Menschen nicht mehr von den – Reichen unterscheiden.

Die Kachelöfen in den Zimmern kommen sich vor wie nutzlose Reste aus vergangenen Kulturperioden. Sie stehen in der Ecke, hungernd nach Holz und Kohle. Sie machen sich klein, schrumpfen vor Bescheidenheit zusammen und haben das beschämende Gefühl vergessener Regenschirme etwa. Durch die finsteren Löcher der metallenen Türen grinst kalte Not. Auf den eisigen Herdplatten hockt der Winter und reibt sich vor Vergnügen die Frostbeulen.

Alle Märchen hat das Ereignis verschlungen. Großmutter ist vor Kälte gestorben. Der Prinz kann nicht zu Schneewittchen gelangen, weil er keinen Paß hat. Und Dornröschen will gar nicht erwachen. Sie hat sich auf das rechte Ohr gelegt und beschlossen, noch tausend Jahre zu schlafen. Die sieben Schwaben dienen in der tschechoslowakischen Legion. Und Rübezahl muß seine Rüben in der Gemeinde Prag abliefern. Er hat keine Zeit zu Spektakeln. Das tapfere Schneiderlein tötet nunmehr nur Fliegen, um sie zu verspeisen.

Aber das Schlimmste von allem: alle guten Engel halten Winterschlaf. Sie werden nicht einmal am Weihnachtsfest erwachen. Wie Fledermäuse hängen sie in der goldenen Krone des lieben Gottes. Und der liebe Gott wärmt seine Füße an dem kleingewordenen Feuerchen der Hölle. Es reicht gerade nur noch zur Not.

Die Bösen können nicht mehr gebraten werden. Die Kohlenteufel der Hölle machen Räteregierung und streiken.

Deshalb leben die Kriegsgewinner noch …

Josephus

Hausse und Baisse

Der Neue Tag, 7. 12. 1919

In einem Wiener Staatsgymnasium taten sich die Schüler einer Klasse zusammen und bildeten ein Konsortium. Ein Handelskonsortium. Sie spielten auf der Börse, gewannen, verloren. Sie sprachen von Aktien, gingen des Vormittags nicht in die Schule, sondern auf den Schottenring. Fünfzehnjährige Börsianer.

In einem Wiener Bureau machte der Chef eines Tages die Entdeckung, daß seine Tippmamsells vorzügliche Kenntnis und Gewandtheit in fachlichen Börseredewendungen hatten. Er forschte nach und es erwies sich, daß die Tippmamsells Effekten besaßen. Börsen-Effekten.

Zwischen elf und ein Uhr mittags ist das Vestibül der Börse voll von Mittelschülern aller Kategorien und Altersstufen. Sie haben die Beschäftigung mit antiken Versfüßen aufgegeben, Homer wird in Zinsfüßen skandiert. Die ganze höhere Mathematik schrumpft zusammen auf das Kapital von Zinsen- und Prozentrechnung. Die Lehre von der Wärme wird am Sinken und Steigen der Kurse studiert. Es gibt keine Umsetzung der Energie mehr, sondern einen Umsatz der Papiere. Die Notenskala ist um neue Bezeichnungen bereichert. Kein Sehr gut, sondern “lebhaft”, kein Ungenügend, sondern “flau”. Der Papa ist ein Fixbesoldeter, ein Staatsbeamter, gewendet und zergrämt. Der Sohn Börsianer, Kapitalist, Grandspekulant.

So ist die Welt.

Es ist eine große Hausse in Schiebungen und eine Baisse in Moral. Es ist eine Umwertung aller Werte in – Börsenwerte.

Der Börsenaufschwung begann mit dem großen Lesebuchkrach. Als die Morgenstunde Eisenschrappnells im Munde hatte; als Tachinieren am längsten währte; die Armeekommandanten die sanftesten Ruhekissen hatten; dem Tüchtigsten der C-Befund gehörte; und der Anschluß ans Vaterland, ans teure, Annexion und Besetzung hieß: da fing der Blutrausch der Weltgeschichte in ihren motorischen Bestandteilen zu wirken an. Die beschwipste Moral taumelte. Der Weltanschauung drehte sich der Kopf. Da die Religion den lieben Gott genötigt hatte, ein nationales Bekenntnis abzulegen, sanken die Tempel zu der Bedeutungslosigkeit von Parlamenten herab. Da die Altäre des Vaterlandes rauchten, vernachlässigte man die der Götter. Da man Respekt und Gehorsam schuldig war, verlor man die Ehrfurcht. Da die Ehrenbezeigung Pflicht ward, war die Ehrlosigkeit Brauch.

Einstmals, in einer weiten und wilden Welt, gab es Glücksritter mit Schwert und Spieß. Der Krieg war ja Romantik, die Revolution gesund – brachiale, eruptive Traumverwirklichung. Die Brutalität der Guillotine selbst war noch gesund. Aber dieser Krieg und diese Revolution in seinem Gefolge, sie waren raffinierte Naturerscheinungsimitationen. Die überlegt wilden Gebärden eines armseligen Zirkusmenschen, der in einem Pantherfell steckt. Wie wenn eine ausgestopfte Bestie falsche Zähne fletschen würde. Die Weltgeschichte ward eine politische Börsenspekulation. Setzte sich der waghalsige Jüngling aufs Roß, wenn die Zeiten wild waren und von Waffengetöse erfüllt, so geht er heute – spekulieren. Jeder Krieg hat seine speziellen Abenteurer. Man kann heute nicht mehr mit Schwert und Spieß Schlösser, Frauen, Herzogtümer gewinnen. Man kann Kaufleute im Expreßzug nicht mehr recht ausplündern. Man kann sie nur “hineinlegen”. Durch Geschäfte, Handel, Spekulationen.

Im Grunde ist es dieselbe Abenteurerlust, die Tannhäuser auf den Venusberg, Siegfried zum Nibelungenschatz, Parsival zum Gral brachte. Man bedarf nur heute keiner Rüstung mehr, um diese Ziele zu erreichen. Das Graltum ist eine Schiebung, der Nibelungenschatz liegt auf dem Bakkarattisch, der Venusberg heißt “Nachtfalter”. Alles ist mit Geld bequem zu erringen. Geld gewinnt man leicht und mühelos auf der Börse. Und selbst das Prickeln des Abenteurertums, der Kitzel des Sensatiönchens ist auch dabei. Also spielt man auf der Börse.

Börsenagenturen entstehen an allen Straßenecken. Alle Banken vermitteln Börsengeschäfte. Die ganze Schöpfung ist die verfehlte Börsenspekulation eines Gottes, der pleite gegangen ist.

Allmählich wandelt sich das Aussehen der Welt. Schieben die Wolken nicht? Sind sie “Kulissen”? Gewitter sind Geldkrisen, Blitze erleuchtende Spekulationseinfälle. Und ein Donner, nun, das ist natürlich ein “Krach”.

Die Winde, kommen sie noch aus Aeolus’ Höhle? – Sie blasen aus hohlen Kassenschränken.

Regnet es, schneit es noch? – Ich glaube, erbitterte Kaufleute spucken aus.

Die Menschen vermehren sich nicht mehr durch Geschlechtskopulation, sondern durch Aktiengewinstverdoppelung.

Die Meere sind vielleicht riesengroße, quadrierte Aktienpapiere.

Und selbst die Nummern der Meridiane und Parallelkreise sind zu gewinnen und zu verlieren.

Zwischen Hausse und Baisse – Nordpol und Südpol – dreht sich die Erde um ihre eigene Profitaxe.

Josephus

….

 

 

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