Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß

Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß – Paul Scheerbart

Ein avantgardistischer Damenroman. Der 1915 in Berlin verstorbene Paul Carl Wilhelm Scheerbart gehört zu den Pionieren deutscher phantastischer Literatur und war auch als Zeichner berühmt.

Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß

Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß.

Format: eBook

Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß

ISBN eBook: 9783849657024.

 

Auszug aus dem Text:

Bei Chikago am Michigansee hatten amerikanische Bildhauer und Kunstgewerbler eine Ausstellung arrangiert. Aber es gab nur Silberarbeiten zu sehen. Es war um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Und der Architekt Edgar Krug hatte die Ausstellungshallen erbaut – aus Glas und Eisen. Es war der Eröffnungstag, und lebhaft gestikulierend führte der Architekt seinen Freund, den Rechtsanwalt Walter Löwe, in den riesigen Hallen umher und machte ihn auf die Feinheiten der Architektur und Ornamentik aufmerksam.

Die kolossalen Wände bestanden ganz aus farbigem Glas – mit farbigem Ornament, so daß das Tageslicht sehr gedämpft in den Innenraum hineinströmte. Draußen regnete es. Die Sonne schien also nicht. Trotzdem leuchteten die Farben des Glases sehr heftig. Herr Edgar Krug sagte leise:

»Grade die Silberplastik hebt sich famos von den ganz bunten Glaswänden ab. Einen besseren Rahmen konnte diese Menge von Silberkunst gar nicht bekommen, nicht wahr?«

»Ich fürchte nur«, versetzte Herr Löwe, »daß der Rahmen als zu groß empfunden werden wird. Man hat die Empfindung, daß nicht sehr viele Silberarbeiten da sind; in den Riesenhallen verschwinden sie beinahe. Du sprachst von einer Menge; das Wort wirkt komisch auf mich.«

»Verzeih«, versetzte der Architekt, »es sind fast hunderttausend Nummern.«

»Zu wenig!« rief laut der Rechtsanwalt, »Deine bunt ornamentierten Glaswände ziehen alle Augen am meisten an. Sieh Dich doch nur um: alle Welt bewundert Deine Glaswände. Aber auf die Silberarbeiten achtet kein Mensch. Du hast die Silberplastik übertrumpft. Ich gratuliere Dir.«

»Leise! Leise!« flüsterte der Architekt, »es könnten ja Bildhauer in der Nähe sein.«

Sie befanden sich auf einem großen »Damm«, der hoch in der Mitte des größten Saales emporragte und ziemlich breit war. Auf diesem sogenannten Damm standen die größten Silberarbeiten – plastische Arbeiten. Die Wände lagen sehr weit ab vom Damm. Die Halle wirkte hier sehr groß – und die Silberarbeit wirkte sehr klein – schrecklich klein. Es wurde tatsächlich allgemein geäußert, daß der bunte Glasrahmen ein wenig groß geraten wäre – doch das kam keinem Menschen beklagenswert vor – selbst die Bildhauer waren ganz entzückt von dem bunten Glasrahmen – und sie sagten das auch dem Architekten. Der freute sich sehr über jedes Kompliment.

Als nun um die Mittagszeit die Sonne draußen sichtbar wurde, da gab es in den Ausstellungshallen einen kleinen Tumult, denn durch die Sonne wurde die Farbenpracht der Glasornamente so gesteigert, daß man gar nicht die Worte fand, um dieses Farbenwunder richtig zu preisen; viele Besucher riefen immer wieder: Entzückend! Wundervoll! Herrlich! Unvergleichlich!

Diese und ähnliche Worte wirkten nun auf das Ohr der Bessergebildeten schließlich recht unangenehm, da die Bewunderungsworte immerzu wiederholt wurden; glücklicherweise hörte die Bewunderung bald wieder auf, da sich draußen die Sonne nochmals hinter Wolken verkroch – und nichts von ihr zu sehen blieb.

Am einen Ende des langen »Dammes«, der eigentlich ein vierstöckiges Haus in der Mitte der Glashalle war, hing ein langer grauer einfarbiger Faltenvorhang. Der wurde jetzt auseinandergezogen, und man sah eine Riesenorgel – auch ganz in Grau gehalten mit etwas Gold in den vielen Balkonleisten, die in feinen geschweiften Kurven das ganze Orgelwerk wie mit einem Netz überstrickten, so daß die Orgel als solche gar nicht zur Geltung kam.

Eine sehr zarte Orgelmusik begann.

Und viele Besucher setzten sich oben auf dem Damm in die Nischen und hörten zu, andre fuhren mit dem Fahrstuhl in die unteren Stockwerke, da die Orgel bald stärker brauste und unten nicht zu laut zu hören war.

Nach dem ersten Satz gab es eine Pause, und Herr Walter Löwe stellte dem Architekten eine Dame vor: Miß Amanda Schmidt aus Chikago.

Diese Dame machte auf den Architekten nicht einen angenehmen Eindruck; sie trug ein dunkelviolettes Sammetkleid mit karminroten und chrysolithgrünen Aufschlägen und Schnüren.

Herr Edgar Krug sagte leise zum Rechtsanwalt:

»Eigentlich habe ich hier ganz allein in Farben zu sprechen. Die Damen sollten diskreter in ihren Kostümen sein – aus Rücksicht auf meine Glasfenster.«

»Dein Ruhm«, versetzte der Rechtsanwalt, »hat Dich ein wenig anspruchsvoll gemacht; Du solltest Deine Herrschgelüste ein wenig zügeln.«

Hiernach dröhnten drei Paukenschläge durch den Raum. Und danach gab’s ein paar Chorgesänge auf den Balkons der Orgel; diese trat vor der menschlichen Stimme ganz zurück. Und danach dröhnten nochmals drei Paukenschläge. Und gleichzeitig flammte in allen Wänden das elektrische Licht auf.

Das war ein ungeheurer Effekt.

Und dazu brauste die Orgel so stürmische Rhythmen, daß unwillkürlich alle Besucher, die sich gesetzt hatten, aufsprangen – und in den großen Farbenzauber ganz geblendet hineinstarrten – und die machtvollen Töne der Orgel mit offenem Munde aufnahmen. Herr Walter Löwe machte Miß Schmidt darauf aufmerksam, daß fast alle Besucher den Mund aufrissen. Und die Dame lachte laut auf. Herr Krug sah ganz ernst aus.

Als die Orgel wieder still war, flutete alles lachend und gestikulierend durcheinander.

Und die Drei fuhren in die unteren Etagen, wo die kleineren Silbersachen ausgestellt waren.

Hier gab’s Kabinetts, in denen man die großen Farbenfenster der Halle nicht sehen konnte – einfarbiges, sehr gedämpftes Licht leuchtete da in den Wänden und in den Säulen und in den großen Ampeln. Das Einfarbige beruhigte.

Die Silberplastik bevorzugte in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts das Flossenmotiv; die japanischen Schleierfische hatten wohl die Anregung gegeben, diesen Schleierfischen, einer Abart der bekannten Goldfische, hingen die Flossen wie wallende Gewänder vom Leibe.

Nun machte man aber den Kopf nicht fischartig – sondern man nahm andere Köpfe: Löwen-, Stier- und vor allem Menschenköpfe. Doch diese Köpfe wurden so umstilisiert, daß man die erste Anregung gar nicht mehr entdeckte. Doch wirkten diese kleinen Flossenungeheuer immer sehr graziös.

Herr Krug blieb vor einer dieser Kompositionen längere Zeit stehen und sagte schließlich:

»Hier weiß man nicht recht, ob der Kopf ein Löwenhaupt oder ein umgewandeltes Menschenhaupt sein soll. Jedenfalls sind die Bartpartien und die Augenbrauen auch wallende Flossen. Und die Seitenflossen umhüllen den ganzen Körper – mantelartig. Es sind aber viele Mäntel übereinander. Ja – das möchte ich ankaufen.«

….

 

 

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