Das Landhaus bei Eisenach

Das Landhaus bei Eisenach – Friedrich Lienhard

Ein Burschenschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert. Der 1865 im französischen Elsass geborene Lienhard studierte auch evangelische Theologie in Strassburg, brach das Studium jedoch nach vier Semestern ab.

Das Landhaus bei Eisenach

Das Landhaus bei Eisenach.

Format: eBook

Das Landhaus bei Eisenach.

ISBN eBook: 9783849656300.

 

Auszug aus dem Text:

 

Es lustwandelte durch den sommerlichen Bergwald bei Eisenach eine Gesellschaft in zerstreuten Gruppen. Die farbenschönen Kleider jener Zeit vor 100 Jahren schimmerten mit den bewegten Lichtflecken des Waldbodens um die Wette. Durch die Anmut des reinen Sommertages gaukelten bunte Falter. Der sausende Ostwind stand hoch oben in den Fichten und Laubbäumen; und unten klang das helle Lachen der Damen. Das gab eine so froh zusammenklingende Bewegung, als ob der Wald Stimme hätte und eine allgemeine Fröhlichkeit ausstrahlte.

Der junge Student Ulrich und die vierzehnjährige Ilse plünderten einen einsamen Waldkirschbaum. Der stattliche Kandidat Gangolf ging mit Mutter und Tochter voraus, behielt aber neckend das üppige Dienstmädchen im Auge, das den schweren Eßkorb schleppte; und in beträchtlicher Entfernung schlossen den Zug der kränkliche Hausherr und der etwas hinkende, lange Bibliothekar aus Gießen, der heute zufällig hier hereingeschneit war und mit seinem blonden, langmähnigen Kopf ziemlich fremdartig um sich schaute.

Drüben sah man die Gebäude der Wartburg im heitren Mittagslicht, wie sie sich damals in den Jahren nach Leipzig und Waterloo darstellten, gleichsam als Kulturstätte noch unentdeckt für die deutsche Menschheit und nicht viel mehr als ein altes Bauwerk mit schön erhalten gebliebenem Pallas und einem Aussichtsturm an der hinteren Seite. Man befand sich auf dem Waldwege nach Mosbach zu und strebte nach der Hohen Sonne. Die beiden Nachzügler blieben oftmals stehen und schauten aus ihren ernsten Gesprächen hinaus in das herrliche Bergland, ohne jedoch Einzelheiten deutlich wahrzunehmen. Wald, überall Wald und frische Windbewegung!

“Ich habe heute meinen guten Tag”, sagte der alte Herr Schattenmann aufgeräumt zu seinem bedeutend jüngeren Begleiter, “und kann mich ein wenig weiter wagen. Aber sonst, was soll ich viel klagen? Ich bin nur noch altes Eisen! Verstehen Sie? Nichts mehr wert! Und auch wenn ich noch was in der Welt taugte – meinen Sie etwa, daß ich mit dieser lachenden Menschheit irgend etwas anzufangen wüßte? Nichts! Ich unterscheide mich schroff vom ganzen Menschengeschlecht der Gegenwart. Diese alle –” er machte eine Handbewegung, als umfaßte er damit auch den vorderen Teil der Gesellschaft – “wissen nichts von der Tragik der Menschheit, die uns allen eingeboren ist. In dieser Grunderkenntnis bin ich zum Verzweifeln einsam … Das heißt: zum Verzweifeln? Nein. Mein Erdengeschäft ist aus. Ich habe mich an diesen Zustand gewöhnt und erwarte nichts mehr von meinen Mitmenschen. Meine Erdenprüfung habe ich durchgemacht und kann nun bald in die Ewigkeit abfahren … Sehen Sie, Napoleon ist geschlagen, wir haben wieder friedliche Verhältnisse in unserem unordentlich gewordenen Europa – und nun? Was geschieht nun? Die übelste Reaktion setzt ein! Nur wieder hinein in den üblichen dumpfen Druck und in die abgelebte Staatsauffassung! Auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden! Das genügt diesen erbärmlichen Tröpfen. Wer fragt nach dem tieferen Sinn der Welt? Man gehorcht ja dem Staat und frohnt geduldig. Das ist die übliche stumpfsinnige Alltagslehre. Verflucht bequeme Bande!”

“Und wie ist Ihre gegensätzliche Weltanschauung?” fragte Petersen, der Bibliothekar, bescheiden, indem er sein Auge immerzu über die weit vorausgehende Gruppe schweifen ließ. Er war sehr einsilbig und hatte Mühe, seine Düsternis zu verbergen; aber seine Stimmung paßte zu der Weltanschauung, die neben ihm der alte Herr mitten im fröhlichen Sommertag entwickelte.

“Meine Weltanschauung will ich Ihnen kurz und deutlich sagen, mein lieber Freund,” fuhr der Alte mit Entschiedenheit fort. “Wir sind alle miteinander zum Tode verurteilt. Das ist Tatsache, die kein Sterblicher leugnen kann. Wollen Sie das etwa abstreiten? Ich sage noch einmal: wir sind zum Tode verurteilt, sobald wir überhaupt auf die Welt kommen, alle, ohne jede Ausnahme. Also müssen wir unser Leben auf diese Grundtatsache einstellen. Der Mensch beginnt erst zu reifen, und damit überhaupt ernsthaft zu leben, sobald ihm diese erschütternde Erkenntnis aufgegangen ist. Punktum!”

Er schwieg und schaute seinen Begleiter herausfordernd an. Auch dieser blieb stehen und streckte, um nur etwas zu sagen, die Hand nach dem vorausgehenden lachenden Teil der Gesellschaft aus mit den Worten: “Und die Jugend?”

“Die Jugend?” ward ihm Antwort. “Das ist der unreife Teil der Menschheit, die überhaupt nichts weiß vom Sinn und Wesen der Welt. Sie kann bloß tändeln und sich mausig machen. Ihre Haupteigenschaft ist das Protzen mit ihrer animalischen Gesundheit, – bis das Schicksal sie beim Nacken nimmt und gehörig duckt. Verstehen Sie wohl? Sehen Sie zum Beispiel diesen Kandidaten Gangolf an: Er strotzt ja von tierischer Gesundheit und ärgert mich schon durch sein bloßes Dasein, obwohl er ein Freund meines Sohnes ist. Na, abwarten, Junge, abwarten! … Ich selbst habe einen leichten Schlaganfall gehabt und bin, wie Sie sehen, in meinem Gehen und Schaffen etwas gehemmt. Aber meine Weltanschauung hatte ich schon früher und bin jetzt nur etwas ernsthafter an den Tod gemahnt worden. Ich horche schon ins Weltall hinaus, wann ich durch den Tod aus den Banden des Fleisches befreit werde; und im übrigen gehört es zu meinen wenigen Freuden, die mir noch in diesem Leben geblieben sind, wenn ich einen Mann finde, der mir mit Geduld zuhört, wie Sie es jetzt tun, junger Freund.”

Es ist doch seltsam, dachte Petersen, er hat Frau und Kinder und seufzt über Einsamkeit?

“Die Menschen sind ja alle einander furchtbar fremd; und mein Hauptgefühl, seitdem ich zur Erkenntnis gekommen bin, ist immer Einsamkeit.”

“Was ist denn alsdann nach Ihrer Meinung der Sinn der Welt?” fragte Petersen, der schon durch sein Hinken – es war die Nachwirkung einer Wunde von Ligny – den langsamen Schritt des Alten willig teilte.

“Der Sinn der Welt? Der wird nicht lehrhaft erörtert, sondern nur durch Erlebnis gewonnen. Wir haben hinieden eine Aufgabe zu erfüllen, haben uns wirkend zu vollenden und auch an anderen fördernd zu formen. Was noch fehlt, das vollenden die himmlischen Mächte, die uns unsichtbar helfen. Einerseits also Heldentum, andererseits Christentum. Dort Vollendungsdrang, hier helfende Gnade von oben. Beide müssen sich ergänzen. Denn Veredlung genügt nicht: Erlösung ist die ergänzende Gnade. Da haben Sie mit wenigen Worten alles, was Sie zum Leben brauchen, wenn Sie ein ernsthafter Mensch sind.”

In diesem Augenblick sah Petersen durch das ferne Gesträuch hindurch, wie sich der Kandidat Gangolf in seinem blühenden Übermut sachte dem etwas zurückgebliebenen Hausmädchen genähert hatte und hinter einem Busch die Lachende küßte, um dann schnell wieder zu Mutter und Tochter zu enteilen. Das durchfuhr ihn wie ein Schlag und erfüllte ihn mit einer blitzhellen Erkenntnis über das Wesen dieses jungen Mannes, dem er schon längst mißtraute.

“Ich zähle trotz alledem auf die teutsche Jugend,” fuhr Schattenmann unentwegt fort, auf seinen derben Stock gestützt. “Ich hoffe und warte, daß uns ihr bester Teil eine tiefere Weltanschauung bringt als die jetzt übliche seichte Glückseligkeitslehre. Ich freue mich, daß die Jugend Führer hat wie Ernst Moritz Arndt und daß der Geist eines Kant und Fichte noch nachwirkt. Brav so, ihr Jungen! Aber das genügt nicht. Es muß ein religiöser Aufschwung dazu kommen, Frömmigkeit von innen heraus. Da auf der Wartburg, sehen Sie einmal durch die Wipfel zurück, da haben Junker Jörg und Sankt Elisabeth, die soziale Wohltäterin des Mittelalters, gewirkt. Großartige Symbolik! Etwas davon muß wieder in die deutsche Welt, sonst vernüchtern wir ganz erbärmlich.”

Sie blieben einen Augenblick stehen und schauten nach den Gebäuden der Wartburghöhe zurück.

“Wir Sterbenden grüßen die Burg!” sprach der alte Herr ernst. “Es ist mir zwar vergönnt gewesen, als alter Mann die Schlachten von Leipzig und Waterloo und die Niederlage des Korsen zu erleben, aber Waffengewalt allein erneuert noch kein Volk von innen heraus. Da müssen über kurz oder lang neue Kräfte einsetzen. Wir warten darauf. Wir warten auf den edleren Teil des teutschen Volkes, ob jung oder alt, denn auch ich zähle mich dem Herzen nach zur Jugend … Doch kommen Sie! Die Gesellschaft scheint auf uns zu warten.”

“Wenn Sie gütigst gestatten,” versetzte der Bibliothekar, “so werde ich hier abbiegen und meine Schritte nach Süden lenken. Mein heutiges Ziel ist die Coburg, wo ich beruflich zu tun habe.”

Ein feiner, strenger Zug hatte sich über sein langes, etwas bärtiges Gesicht verbreitet, als sie nun die Gesellschaft erreicht hatten. Alle Bitten des Hausherrn nützten nichts. Er verabschiedete sich gemessen von allen, besonders streng und stumm von der schlanken Tochter, und wanderte zum ernsthaften Verdruß des alten Herrn, der nun einen unterhaltsamen Begleiter verlor, dem Süden zu.

….

 

 

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