Der Bezirksdoktor (Deutsche Neuübersetzung)

Der Bezirksdoktor – Iwan Turgenew

Ein Reisender erkrankt und wird vom Bezirksdoktor behandelt, der unerwartet eine sehr persönliche Geschichte mit dem Fremden teilt. Einmal wurde der Arzt gebeten, einen Hausbesuch bei einer Frau zu machen, die glaubte, dass ihre Tochter im Sterben liegt. Bei seiner Ankunft findet der Arzt eine schöne 20-jährige Frau namens Alexandra, die im Fieber liegt und fast bewusstlos ist. Obwohl er sich ihrer Krankheit bewusst ist, verspricht er dennoch jedem, dass sie überleben wird …

Der Bezirksdoktor

Der Bezirksdoktor.

Format: eBook.

Der Bezirksdoktor.

ISBN: 9783849653651

 

Auszug aus dem ersten Kapitel:

 

Als ich eines Herbsttages auf dem Rückweg aus einem abgelegenen Teil des Landes war, bekam ich eine Erkältung und wurde krank. Glücklicherweise befand ich mich im Gasthaus der Bezirkshauptstadt, als mich das Fieber erwischte; dort habe ich den Arzt gerufen. Eine halbe Stunde später erschien der Bezirksarzt, ein dünner, dunkelhaariger Mann mittlerer Größe. Er verschrieb mir das übliche, schweißtreibende Mittel, ordnete an, ein Senfpflaster anzulegen und schob sich, während er trocken hustete und wegschaute, sehr geschickt einen Fünf-Rubel-Schein in den Ärmel. Dann stand er auf, um nach Hause zu gehen, verfiel aber irgendwie in ein Gespräch und blieb doch. Ich war erschöpft vom Fieber, sah eine schlaflose Nacht voraus und freute mich über ein kleines Gespräch mit einem angenehmen Begleiter. Es wurde Tee serviert. Mein Arzt begann, sich ungezwungen zu unterhalten. Er war ein vernünftiger Mensch und drückte sich kraftvoll, aber auch mit etwas Humor aus. Seltsame Dinge geschehen in der Welt: Man kann lange mit einigen Menschen leben und freundlich mit ihnen umgehen und doch nie ein einziges Mal offen aus seiner Seele mit ihnen sprechen; bei anderen hat man kaum Zeit, sie richtig kennenzulernen, und auf einmal eröffnet man ihnen – oder sie dir – all seine Geheimnisse, als ob man bei der Beichte wäre. Ich weiß nicht, wie ich das Vertrauen meines neuen Freundes gewonnen habe – jedenfalls erzählte er mir, ohne dass ich darauf angespielt hätte, einen ziemlich seltsamen Vorfall; und hier werde ich zur Information des geschätzten Lesers seine Geschichte weitergeben. Ich werde versuchen, sie mit den eigenen Worten des Arztes zu erzählen.

“Sie kennen nicht zufällig”, begann er mit schwacher und zitternder Stimme (das gewohnte Ergebnis nach Verwendung von unvermischtem Berezow-Schnupftabak), “den hiesigen Richter, Mylow, Pawel Lukitsch? …… Sie kennen ihn nicht? …. Nun, es ist egal.” (Er räusperte sich und rieb sich die Augen.) “Nun, wissen Sie, die Sache ist passiert, um es genau auf den Punkt zu bringen, in der Fastenzeit, genau während des Tauwetters. Ich saß in seinem Haus – also dem von unserem Richter, wissen Sie – , und wir spielten Préférence. Unser Richter ist ein netter Kerl und liebt es, Préférence zu spielen. Plötzlich” (der Arzt benutzte dieses Wort ‘plötzlich’ häufig) “sagte man mir, ‘Da fragt ein Diener nach Ihnen.’ Ich sage: ‘Was will er?’ Sie sagen: ‘Er hat eine Nachricht mitgebracht – sie muss von einem Ihrer Patienten stammen.’ ‘Gib mir die Nachricht’, sage ich. Gut, sie war von einem Patienten – gut und recht – Sie verstehen – es ist nun mal unser Geschäft . . . . Aber so war es: Eine Dame, eine Witwe, schrieb mir; sie sagte: ‘Meine Tochter stirbt. Kommen Sie, um Himmels willen’, sagte sie, ‘ich habe Ihnen auch die Kutsche geschickt.’ . . . Nun, das ist schon in Ordnung. Aber sie lebte zwanzig Meilen von der Stadt entfernt, und es war schon Mitternacht durch, und die Straßen in einem solchen Zustand, du lieber Gott! Und da sie selbst arm war, konnte man nicht mehr als zwei silberne Rubel erwarten, und selbst das war problematisch; vielleicht gab es nur einen Ballen Stoff oder einen Sack Hafermehl als Bezahlung. Aber Pflicht, wissen Sie, über allem: Ein Mitmensch könnte im Sterben liegen. Ich übergebe also sofort meine Karten an Kalliopin, einem Mitglied der Provinzkommission, und gehe nach Hause. Ich schaue raus; vor der Treppe stand ein erbärmlicher, zweirädriger Pferdewagen, mit fetten Ackergäulen – viel zu fetten – und einem Fell so zottig wie Filz; der Kutscher hatte aus Respekt seine Kappe abgenommen. Nun, ich denke mir: ‘Eins ist klar, mein Freund, diese Patienten sind nicht reich’ . . . Sie lächeln; aber ich sage Ihnen, ein armer Mann wie ich muss alles in Betracht ziehen . . . . Wenn der Kutscher wie ein Prinz dasitzt und seine Kappe nicht mal berührt, dich hinter seinem Bart sogar verspottet und mit seiner Peitsche knallt, dann kannst du auf sechs Rubel wetten. Aber dieser Fall lag wohl entschieden anders. Wie auch immer, ich kann es ja nicht ändern; Pflicht über alles. Ich schnappe mir die notwendigsten Medikamente und mache mich auf den Weg. Mag man es glauben? Ich habe es gerade so geschafft, überhaupt dorthin zu gelangen. Die Straße war höllisch: Bäche, Schnee, Wasserläufe, und der Deich war auch noch plötzlich geplatzt – das war das Schlimmste! Aber schließlich bin ich angekommen. Es war ein kleines, strohgedecktes Haus. In den Fenstern brannte Licht, was bedeutete, dass sie mich erwarteten. Ich wurde von einer sehr ehrwürdigen, alten Dame mit einer Mütze empfangen. ‘Retten Sie sie!’, sagt sie. ‘Sie stirbt.’ Ich sage: ‘Bitte, regen Sie sich nicht auf – wo ist die Kranke?’ ‘Kommen Sie, hier entlang.’ Ich sehe ein sauberes kleines Zimmer, eine Lampe in der Ecke; auf dem Bett ein Mädchen von vielleicht zwanzig, bewusstlos. Sie war brannte förmlich, so heiß war sie, und atmete schwer – Fieber. Da waren noch zwei andere Mädchen, ihre Schwestern, verängstigt und in Tränen aufgelöst. ‘Gestern,’ sagen sie mir, ‘war sie noch ganz gesund und hatte guten Appetit; heute Morgen beschwerte sie sich über Kopfweh, und heute Abend plötzlich, sehen Sie, so.’ Ich wiederhole: “Bitte, regen Sie sich nicht auf.’ Das ist die Pflicht eines Arztes, wissen Sie – ich ging zu ihr ans Bett und schröpfte sie, sagte ihnen, sie sollten ein Senfpflaster auftragen und verschrieb eine Mixtur. In der Zwischenzeit habe ich sie angeschaut; ich habe sie angeschaut, Sie wissen schon, bei Gott! Ich hatte noch nie ein solches Gesicht gesehen! Sie war eine Schönheit, wortwörtlich! Ich war ziemlich erschüttert vor Mitleid. So schöne Gesichtszüge, so schöne Augen! . . . Aber, Gott sei Dank! Es ging ihr besser; sie begann zu schwitzen, schien zur Besinnung zu kommen, sah sich um, lächelte und führte ihre Hand über ihr Gesicht. . . . Ihre Schwestern beugten sich über sie. Sie fragen: ‘Wie geht es dir?’ ‘Ganz gut’, sagt sie und wendet sich ab. Ich sah sie an; sie war eingeschlafen. ‘Nun’, sage ich, ‘jetzt sollte die Patientin Ruhe bekommen. Wir gingen alle auf Zehenspitzen hinaus; nur ein Dienstmädchen blieb bei ihr, falls sie gebraucht werden würde. Im Salon stand ein Samowar auf dem Tisch und eine Flasche Rum; in unserem Beruf kommt man ohne ihn nicht aus. Man bot mir Tee an und bat mich, die Nacht dort zu verbringen . . . Ich stimmte zu. Wohin sollte ich zu dieser Zeit auch gehen? Die alte Dame jammerte weiter. ‘Was ist los?’, sage ich. “Sie wird leben; machen Sie sich keine Sorgen; Sie sollten sich besser selbst ein wenig ausruhen; es geht gegen zwei Uhr.’ ‘Aber versprechen Sie mir, mich zu wecken, wenn etwas passiert?’ ‘Ja, ja.’ Die alte Dame ging weg, und auch die Mädchen gingen in ihr eigenes Zimmer; sie machten mir ein Bett im Salon. Dann ging ich ins Bett – aber ich konnte nicht einschlafen, und darüber wunderte ich mich sehr! Denn in Wirklichkeit war ich sehr müde. Ich konnte meine Patientin nicht aus dem Kopf bekommen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus; ich stand abrupt auf und dachte bei mir: ‘Ich werde gehen und sehen, wie es der Patientin geht. Ihr Schlafzimmer befand sich neben dem Salon. Ich stand also auf und öffnete sanft die Tür – wie mein Herz schlug! Ich schaute hinein: Das Dienstmädchen schlief, ihr Mund stand weit offen, und sie schnarchte sogar, die Arme! Die Patientin lag mit dem Gesicht zu mir, und ihre Arme waren weit ausgebreitet, das arme Mädchen! Ich ging zu ihr hin …..

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