Der Mantel (Deutsche Neuübersetzung)

Der Mantel – Nikolai Gogol

“Der Mantel” ist eine 1842 veröffentlichte Kurzgeschichte des in der Ukraine geborenen russischen Schriftstellers Nikolai Gogol. Die Geschichte und ihr Autor hatten großen Einfluss auf die russische Literatur, wie in einem Zitat von Fjodor Dostojewski zum Ausdruck kommt: “Wir alle kommen aus Gogols “Mantel”.” Die Geschichte wurde in eine Vielzahl von Bühnen- und Filminterpretationen überführt und erzählt das Leben und Sterben von Akaky Akakjewitsch Bashmachkin, einem verarmten Regierungssekretär und Abschreiber in der russischen Hauptstadt St. Petersburg.

Der Mantel

Der Mantel.

Format: eBook.

Der Mantel.

ISBN: 9783849653644

 

Auszug aus dem ersten Kapitel:

 

In der Dienststelle von – , aber es ist besser, die Dienststelle nicht zu erwähnen. Die heikelsten Dinge der Welt sind Dienststellen, Regimenter, Gerichte, kurz gesagt, alle Bereiche des öffentlichen Dienstes. Jeder denkt heutzutage, dass eine persönliche Beleidigung gleich die ganze gesellschaftliche Klasse miteinschließt. Erst vor kurzem reichte ein Polizeichef eine Beschwerde ein, in der er deutlich nachwies, dass alle kaiserlichen Institutionen vor die Hunde gingen und selbst der heilige Name des Zaren in den Dreck gezogen wurde; als Beweis fügte er der Beschwerde eine Romanze bei, in der der Polizeichef selbst etwa alle zehn Seiten vorkam, und das manchmal regelrecht betrunken. Um jegliche Unannehmlichkeiten zu vermeiden, ist es daher besser, die betreffende Dienststelle als eine bestimmte Dienststelle zu bezeichnen.

Also, in einer bestimmten Dienststelle gab es einen bestimmten Beamten – keinen sehr bemerkenswerten, das sollte gesagt werden – , von kurze Statur, etwas pockennarbig, rothaarig und glupschäugig, mit einer Glatze, runzligen Wangen und rötlichem Teint. Dafür war das Klima in St. Petersburg verantwortlich. Was seinen offiziellen Dienstgrad betrifft – bei uns Russen steht der Dienstgrad an erster Stelle –, so war er nominell ein Titularrat, über die sich bekanntlich einige Schriftsteller lustig machen und ihre Witze reißen, indem sie dem lobenswerten Brauch folgen, diejenigen anzugreifen, die nicht zurückbeißen können.

Sein Familienname war Bashmachkin. Dieser Name leitet sich offensichtlich von Bashmak (Schuh) ab; aber, wann, zu welcher Zeit und auf welche Weise, ist nicht bekannt. Sein Vater, sein Großvater und alle anderen Bashmachkins trugen immer Stiefel, die zwei- bis dreimal im Jahr neu besohlt wurden. Sein Name war Akaky Akakjewitsch. Das mag dem Leser als bemerkenswert und ziemlich abwegig erscheinen; aber er darf sich sicher sein, dass dem keineswegs so war und es aufgrund der Umstände unmöglich gewesen wäre, ihm einen anderen Namen zu geben.

So hat es sich zugetragen.

Akaky Akakjewitsch wurde, wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, am Abend des 23. März geboren. Seine Mutter, die Gattin eines Regierungsbeamten und eine sehr feine Frau, traf alle notwendigen Vorkehrungen, um das Kind taufen zu lassen. Sie lag auf dem Bett gegenüber der Tür; zu ihrer Rechten stand der Pate Ivan Iwanowitsch Eroschkin, ein sehr geschätzter Mann, der als Chefsekretär des Senats arbeitete; und die Patin Arina Semyonowna Bielobrinschkowa, die Frau eines Offiziers der Gegend und eine Frau von seltenen Tugenden. Sie boten der Mutter drei Namen zur Wahl an: Mokiya, Sossiya, oder dass das Kind nach dem Märtyrer Khozdazat genannt werden sollte. “Nein”, sagte die gute Frau, “all diese Namen sind armselig.” Um ihr einen Gefallen zu tun, öffneten sie den Kalender an einer anderen Stelle; drei weitere Namen stand dort: Triphily, Dula und Warakhasy. “Das ist schrecklich”, sagte die alte Frau. “Was für Namen! Ich habe so etwas wirklich noch nie gehört. Ich hätte vielleicht Varadat oder Varukh ertragen, aber nicht Triphily und Warakhasy!” Sie blätterten auf eine andere Seite und fanden dort Pavsikakhy und Vakhtisy. “Jetzt verstehe ich”, sagte die alte Frau, “dass es einfach Schicksal ist. Und da dies der Fall ist, wird es besser sein, ihn nach seinem Vater zu benennen. Der Name seines Vaters war Akaky, also soll der Name seines Sohnes auch Akaky sein.” Auf diese Weise wurde er zu Akaky Akakjewitsch. Sie tauften das Kind, das dabei weinte und eine Grimasse schnitt, als ob es voraussehen würde, dass es einmal ein Titularrat sein würde.

So hat es sich also zugetragen. Wir haben es hier erwähnt, damit der Leser selbst sehen kann, dass es sich um einen Notfall handelte und es völlig unmöglich war, ihm einen anderen Namen zu geben.

Niemand konnte sich daran erinnern, wann und wie er in die Dienststelle eingetreten war und wer ihn ernannt hatte. So sehr sich auch irgendwo anders die Direktoren und Vorgesetzten abwechselten, er war doch immer am gleichen Ort, in der gleichen Stellung, im gleichen Beruf – immer der Angestellte, der Briefe duplizierte – , so dass man später annahm, dass er in Uniform und mit Glatze geboren worden war. In der Dienststelle wurde ihm keinerlei Respekt entgegengebracht. Der Pförtner erhob sich nicht nur nicht von seinem Platz, wenn er vorbeikam, sondern blickte ihn auch nicht einmal an, ebenso wenig, wie wenn eine Fliege durch den Empfangsraum geflogen wäre. Seine Vorgesetzten behandelten ihn kühl und despotisch. Ein unbedeutender Assistent des Bürovorstehers schob ihm ein Papier unter die Nase, ohne “Abschreiben” oder “Hier ist ein interessanter, kleiner Fall” oder etwas anderes Angenehmes zu sagen, wie es unter gut erzogenen Beamten üblich ist. Und er nahm es, schaute nur auf das Papier und nicht darauf, wer es ihm übergab oder ob er überhaupt das Recht dazu hatte; er nahm es einfach und begann es abzuschreiben.

Die jungen Beamten lachten und machten sich über ihn lustig, soweit es ihnen ihr Beamtenverstand erlaubte; erzählten in seiner Gegenwart verschiedene, erfundene Geschichten über ihn und seine Vermieterin, eine alte Frau von siebzig Jahren; erklärten, dass sie ihn geschlagen hatte; fragten, wann die Hochzeit stattfinden würde; und streuten Schnipsel über seinen Kopf und nannten sie Schnee. Aber Akaky Akakjewitsch sagte kein Wort, genauso wenig, als wenn dort niemand außer ihm gewesen wäre. Es hatte nicht einmal Auswirkungen auf seine Arbeit. Trotz all dieser Ärgernisse machte er nie einen einzigen Fehler in einem Brief. Aber wenn der Spaß völlig unerträglich wurde, wenn sie an seinem Kopf rüttelten und ihn daran hinderten, seine Arbeit zu erledigen, rief er ihnen zu:

“Lasst mich in Ruhe! Warum beleidigt ihr mich?”

In den Worten und dem Tonfall, in dem sie ausgesprochen wurden, lag etwas Seltsames. Etwas darin erregte Mitleid, und das so sehr, dass ein junger Mann, ein Neuling, der sich, nach dem Vorbild der anderen, den Spaß mit Akaky erlaubt hatte, plötzlich damit aufhörte, als hätte sich alles an ihm verändert und in einem anderen Aspekt präsentiert. Eine unsichtbare Gewalt ließ ihn von den Kollegen, deren Bekanntschaft er gemacht hatte in der Annahme, dass es sich um anständige, gut erzogene Männer handelte, zurückweichen. Noch lange danach kam ihm in seinen heitersten Momenten der kleine Beamte mit der Glatze und seinen herzzerreißenden Worten in den Sinn: “Lasst mich in Ruhe! Warum beleidigt ihr mich?” In diesen bewegenden Worten hallten andere Worte wider: “Ich bin dein Bruder.” Der junge Mann bedeckte sein Gesicht mit der Hand; und so manches Mal danach schauderte er im Laufe seines Lebens, als er sah, wie viel Unmenschlichkeit im Menschen liegt, wie viel wilde Grobheit unter gebildeter, kultivierter, weltlicher Vornehmheit und sogar, O Gott! in dem Mann, den die Welt als ehrenhaft und aufrecht anerkennt, verborgen sein kann.

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