Der Kirschgarten (Neuübersetzung)

Der Kirschgarten (Neuübersetzung) – Anton Tschechow

“Der Kirschgarten” ist das letzte Stück des russischen Dramatikers Anton Tschechow. Es wird oft als eines der drei oder vier herausragenden Stücke Tschechows bezeichnet, zusammen mit “Die Möwe”, “Drei Schwestern” und “Onkel Wanja.” Das Stück dreht sich um eine aristokratische russische Gutsbesitzerin, die kurz vor der Versteigerung ihres Familienanwesens (zu dem ein großer und bekannter Kirschgarten gehört) zurückkehrt, um die Hypothek zu bezahlen. Da sie auf Angebote zur Rettung des Anwesens nicht eingeht, lässt sie den Verkauf an den Sohn eines ehemaligen Leibeigenen zu; die Familie verlässt das Anwesen mit dem Geräusch des abgeholzten Kirschgartens. Die Geschichte thematisiert die kulturelle Vergeblichkeit – sowohl die vergeblichen Versuche der Aristokratie, ihren Status aufrechtzuerhalten, als auch die der Bourgeoisie, in ihrem neu entdeckten Materialismus einen Sinn zu finden. Außerdem dramatisiert es die sozioökonomischen Kräfte in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einschließlich des Aufstiegs der Mittelklasse nach der Abschaffung der Leibeigenschaft Mitte des Vorjahrhunderts und des Niedergangs der Macht des Adels. Bei dieser Ausgabe handelt es sich um eine deutsche Neuübersetzung aus dem Jahre 2021.

Der Kirschgarten (Neuübersetzung)

Der Kirschgarten (Neuübersetzung).

Format: eBook/Taschenbuch.

Der Kirschgarten (Neuübersetzung).

ISBN eBook: 9783849661038

ISBN Print: 9783849667436

 

Auszug aus dem Text:

 

1. Akt

[Ein Raum, der immer noch als Kinderzimmer bezeichnet wird. Eine der Türen führt in Anjas Zimmer. Es ist kurz vor Sonnenaufgang an einem Maimorgen. Die Kirschbäume stehen in voller Blüte, aber es ist kühl im Garten. Es gibt einen frühen Frost. Die Fenster des Zimmers sind geschlossen. Dunjascha kommt mit einer Kerze herein, Lopatschin folgt ihr mit einem Buch in der Hand]

Lopatschin. Der Zug ist angekommen, Gott sei Dank. Wie spät ist es denn?

Dunjascha. Gleich zwei. [Pustet die Kerze aus] Es wird schon hell.

Lopatschin. Wie viel Verspätung hatte der Zug? Doch mindestens zwei Stunden. [Gähnt und streckt sich] Ich habe es vermasselt! Ich bin extra hergekommen, um sie am Bahnhof zu treffen, und dann habe ich verschlafen – in meinem Sessel. Das ist schade. Hättest du mich doch geweckt.

Dunjascha. Ich dachte, du wärst schon gegangen. [Lauscht] Ich glaube, ich höre sie kommen.

Lopatschin. [Lauscht] Nein – sie müssen ihr Gepäck abholen und so weiter – Ljubow Andrejewna lebt seit fünf Jahren im Ausland; ich weiß nicht, wie sie jetzt ist – aber sie ist ein guter Mensch; ein einfacher, unkomplizierter Mensch. Ich erinnere mich, als ich 15 Jahre alt war, da schlug mich mein Vater, der mittlerweile verstorben ist – er hatte einen Laden hier im Dorf – , mit der Faust so ins Gesicht, dass meine Nase blutete. Wir waren zusammen in den Hof gegangen, um dort irgendetwas zu erledigen, und er war ein wenig betrunken. Ljubow Andrejewna, wie ich mich jetzt erinnere, war noch jung und sehr dünn, und sie nahm mich mit zum Waschtisch hier in diesem Zimmer, dem Kinderzimmer. Sie sagte: “Weine nicht, kleiner Mann, bis zu deiner Hochzeit wird alles wieder gut.” [Pause] “Kleiner Mann” – mein Vater war ein Bauer, das ist wahr, aber ich stehe jetzt hier, mit einer weißen Weste und gelben Schuhen – eine Perle aus einer Auster. Ich bin reich, habe viel Geld, aber wenn du der Sache auf den Grund gehst und mich durchleuchtest, wirst du feststellen, dass ich immer noch ein Bauer bin, und zwar bis ins Mark meiner Knochen. Hier – ich habe dieses Buch gelesen, aber nichts davon verstanden. Bin darüber eingeschlafen. [Pause]

Dunjascha. Die Hunde haben die ganze Nacht nicht geschlafen; sie spüren, dass sie kommen.

Lopatschin. Was ist los mit dir, Dunjascha?

Dunjascha. Meine Hände zittern. Ich glaube, ich werde ohnmächtig.

Lopatschin. Du bist zu empfindlich, Dunjascha. Du kleidest dich wie eine Dame und frisierst dich auch wie eine. Das solltest du nicht tun. Du solltest wissen, wo dein Platz ist.

Jepichodow. [Tritt mit einem Blumenstrauß ein. Er trägt eine kurze Jacke und glänzend polierte Stiefel, die hörbar quietschen. Als er eintritt, lässt er den Strauß fallen und hebt ihn wieder auf] Der Gärtner hat die geschickt; er sagt, sie sollen ins Esszimmer. [Gibt den Strauß Dunjascha]

Lopatschin. Und mir bringst du etwas Kwas.

Dunjascha. Sehr wohl. [Ab]

Jepichodow. Es hat Frost heute Morgen – drei Grad, und die Kirschbäume blühen schon. Ich kann unser Klima nicht gutheißen. [Seufzt] Ich kann es nicht. Unser Klima ist nicht mal in der Lage, uns dieses eine Mal einen Gefallen zu tun. Darüber hinaus, Jermolaj Alexejewitsch, gestatten Sie mir bitte, Ihnen zu sagen, dass ich mir vor zwei Tagen Stiefel gekauft habe – und ich darf Ihnen versichern, dass sie auf ganz unerträgliche Weise quietschen. Mit was kann ich sie einschmieren?

Lopatschin. Gehen Sie weg. Sie langweilen mich.

Jepichodow. Irgendein Unglück passiert mir jeden Tag. Aber ich beklage mich nicht; ich bin daran gewöhnt und kann trotzdem lächeln. [Dunjascha kommt herein und bringt Lopatschin etwas Kwas] Ich gehe jetzt. [Wirft einen Stuhl um] Da –– [Triumphierend] Da sehen Sie, wenn ich das Wort gebrauchen darf, was mir so passiert. Es ist einfach fabelhaft. [Ab]

Dunjascha. Ich muss Ihnen wohl beichten, Jermolaj Alexejewitsch, dass Jepichodow mir einen Antrag gemacht hat.

Lopatschin. Ach!

Dunjascha. Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Er ist ein netter junger Mann, aber ab und zu, wenn er anfängt zu erzählen, versteht man kein Wort von dem, was er sagt. Ich glaube, ich mag ihn. Er ist wahnsinnig in mich verliebt. Er ist ein Unglücksrabe, jeden Tag passiert ihm irgendetwas. Wir hänseln ihn deswegen. Man nennt ihn überall die “Zweiundzwanzig Sorgen”.

Lopatschin. [Lauscht] Ich glaube, da kommen sie.

Dunjascha. Sie kommen! Wie wird mir denn? Mir ist ganz kalt.

Lopatschin. Da sind sie ja, genau. Gehen wir ihnen entgegen. Ob sie mich erkennen wird? Wir haben uns fünf Jahre nicht gesehen.

Dunjascha. Ich werde gleich ohnmächtig ––– oh, ich werde ohnmächtig!

[Man hört zwei Kutschen vorfahren. Lopatschin und Dunjascha eilen hinaus. Die Bühne ist leer. Im Nebenzimmer hört man Geräusche. Fiers, auf einen Stock gestützt, geht schnell über die Bühne; er hat gerade Ljubow Andrejewna begrüßt. Er trägt eine altmodische Livree und einen hohen Hut. Er brabbelt etwas vor sich hin, aber man versteht kein Wort. Das Geräusch hinter der Bühne wird lauter und lauter. Eine Stimme ist zu hören: “Lass uns da reingehen.” Auftritt Ljubow Andrejewna, Anja und Charlotta Iwanowna mit einem kleinen Hund an einer Leine, alle in Reisekleidung, Warja trägt einen langen Mantel und ein Kopftuch auf dem Kopf. Dazu Gajew, Simeon-Pischtschik, Lopatschin, Dunjascha, die ein Päckchen und einen Regenschirm trägt, nebst einem Diener mit Gepäck – alle durchqueren den Raum].

Anja. Gehen wir hier durch. Weißt du noch, was das für ein Zimmer ist, Mutter?

Ljubow. [Freudig, trotz einiger Tränen] Das Kinderzimmer!

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