Der Pojaz

Der Pojaz – Karl Emil Franzos

Der Pojaz ist der letzte Roman des Schriftstellers und Publizisten Karl Emil Franzos. Satirisch wird die Entwicklung eines intelligenten, verträumten und spottlustigen Jungen namens Sender Glatteis beschrieben. Senders Eltern sterben kurz nach seiner Geburt (sein Vater war ein Schnorrer), so dass Sender bei Rosel Kurländer in einem fiktiven galizischen Dorf namens Barnow aufwächst, ohne zu wissen, dass sie nicht seine Mutter ist. Sender hat offenbar die Begabung, Geschichten zu erzählen und Menschen nachzuahmen von seinem Vater geerbt. Er erhält im Dorf deswegen den Spitznamen “Pojaz” (von “Bajazzo”).

Der Pojaz

Der Pojaz.

Format: eBook

Der Pojaz.

ISBN eBook: 9783849655457.

 

 

Auszug aus dem Text:

Der Held dieser Geschichte – und zwar in Wahrheit ein Held, wenn man diese Bezeichnung nicht einem Menschen, der mit Aufgebot aller Kraft leidvoll nach einem hohen Ziele ringt, ungerecht weigern will – hatte auch einen heroischen Vornamen. Er hieß ›Sender‹, in welcher gedrückten, gleichsam ausgeknochten Form der stolze Name Alexander, den die Juden in einer glorreichen Zeit ihrer Geschichte von den Hellenen übernommen, unter ihren gequälten, geknechteten Nachkommen im Osten Europas fortlebt. Minder heldenhaft klingt sein Zuname: Glatteis, den irgend ein Zufall oder die Laune eines Beamten seinem Großvater zugeteilt hatte.

Aber wenige wußten, daß er so hieß, der Name stand eigentlich nur in seinem Geburtsschein, in seinem Konskriptionszettel und in dem Totenschein. In Barnow jedoch ward er nie anders genannt als »Sender der Pojaz« oder noch häufiger »Roseles Pojaz«. Denn die Rosele Kurländer draußen im Mauthhause, am Eingang des Städtchens, hatte ihn aufgezogen, und er benahm sich so sonderbar: wie ein »Pojaz« meinten die Leute. »Pojaz« aber ist das korrumpierte Wort für »Bajazzo«.

Auch die Rosel war nur seine Pflegemutter. Sender war mit niemand im Städtchen verwandt, auch sonst mit keinem Menschen in der ganzen weiten Welt. Freilich war er in Barnow geboren und stand im Buch der Gemeinde verzeichnet. Die Leute hätten ihn nicht fortjagen dürfen, selbst wenn er ihnen zur Last gefallen wäre, wie die Scholle das Samenkorn, das ihr der Wind zugetragen, dulden muß, auch wenn es zum Unkraut wird. Aber deshalb ist es doch nur ein Zufall, daß es hier gehaftet und nicht eine Meile weiter. Er freilich hatte die Empfindung nicht, daß er nur so ein Korn im Winde gewesen, und als sie ihn spät genug überkam, bestimmte sie sein ganzes Leben. Den Leuten von Barnow aber war er immer ein Fremder, und es wunderte sie, daß er so lange unter ihnen blieb, denn seine Herkunft war ihnen ja allen vertraut.

Sein Vater, Mendele Glatteis, war ein »Schnorrer« gewesen, ein fahrender Mann, der rastlos umherzog und nichts, gar nichts sein eigen nennen konnte.

Es gibt sehr viele solche Nomaden unter den Juden des Ostens; tausend und abertausend verurteilen sich in dieser Weise freiwillig zur bittersten Armut, zum Verzicht auf all die Güter, die auch dem Dürftigsten das Leben schmücken und erträglich machen: Heimat, Weib und Kind.

Man sagt, der Hang zur Trägheit, die Arbeitsscheu erkläre diese Erscheinung, und hat dabei insoweit recht, als sicherlich kein »Schnorrer« zu einer geordneten Tätigkeit zu bringen ist. Da fruchten nicht Güte, noch Strenge, er würde lieber verhungern, als arbeiten. Aber darum allein brauchte er noch nicht durch aller Herren Länder zu ziehen; so schwer auch die Sorge ums tägliche Brot auf den Juden des Ostens lastet – die ärmsten Menschen der Erde finden sich gewiß im polnischen und russischen Ghetto –, so ist doch dort noch keiner verhungert, so lang die anderen leidlich satt wurden. Der Fleißige verwünscht den Bettler, aber wehe dem, der gegen den Bruder hartherzig sein wollte, er wäre geächtet. So kann der Träge nirgendwo besser fortkommen als dort, wo ihm die fromme Satzung unter allen Umständen den Unterhalt sichert; in der Fremde hat er nicht bloß mit der Polizei zu kämpfen, sondern auch mit den einheimischen Bettlern, die den Zugereisten grimmig verfolgen.

Es hat also noch andere Gründe, als die Trägheit, daß dennoch alljährlich, und zwar in unseren Tagen genau ebenso, wie vor hundert Jahren, Tausende von Ost nach West, von West nach Ost wandern, und daß vollends Hunderttausende innerhalb Halbasiens von der Leitha bis zur Wolga, von der Newa bis zum Bosporus ihr unstetes, armseliges Wesen treiben. Hier spielt die Wanderlust mit, die dies Volk einst noch weiter geführt, noch mehr zerstreut hat, als ohnehin durch seine furchtbaren Geschicke bedingt war, dann die Eitelkeit des »Schnorrers«, vor allem aber das Bedürfnis der seßhaften Leute nach dem Verkehr mit diesen fahrenden Gesellen.

Das klingt seltsam und dennoch ist es jener Grund, der das Schnorrertum forterhält. Auch der Jude Halbasiens weiß sehr wohl, daß es sich da um eine rechte Landplage handelt; er empfindet dies umso deutlicher, als er selbst nichts übrig hat. Die fromme Satzung aber würde höchstens hinreichen, dem Fremden den Bissen Brot zu gewähren, nicht aber den freundlichen Empfang, der ihm wird, namentlich in kleinen Gemeinden, die abseits der großen Heerstraßen liegen. Nur die wohlhabendsten Leute des Ortes wagen es, dem eintretenden Vagabunden zunächst ein bärbeißiges Gesicht zu zeigen, aber auch sie lenken rechtzeitig ein, damit er ihnen nicht davongehe.

Am Wochentag ist er nur eben willkommen, aber am Festtag unentbehrlich – was wäre ein Sabbat ohne »Schnorrer«?! Denn es ist ein überaus dumpfes, stilles, eintöniges Leben, das der Jude in diesen Kotstädtchen des Ostens führt; noch gleichförmiger verbringt höchstens der slawische Bauer seine Tage, und der empfindet ihren Druck weit weniger, weil sein Geist ganz ungeweckt ist. Der Jude aber hat hebräisch lesen und schreiben gelernt; die Thora, der Talmud haben seinen Verstand bis zur Spitzfindigkeit geschärft, ihm einen heißen Wissensdurst erweckt, aber befriedigen kann er ihn nur immer aus derselben Quelle: dem uralten Wissen der Väter. Von der modernen Bildung hält ihn ja ebenso der Wille der Machthaber, wie der eigene fromme Wahn fern!

Nachdem er von Morgens bis zum Abend für die Notdurft des Lebens gesorgt, möchte er erfahren, was in der Welt vorgeht, ob sich der Deutsche und der Franzose vertragen; vor achtzig Jahren hat er wissen wollen, ob Napoleon noch nicht aus St. Helena zurückgekehrt ist, heute, ob Bismarck nicht wieder Reichskanzler ist, denn Napoleon wie Bismarck sind für ihn buchstäblich unsterbliche Menschen. Seine Zeitung will der Mann haben, und die gedruckte christliche nützt ihm nichts, weil er sie nicht lesen kann. Auch ist ihm nichts lieber, als ein guter Witz, ein »gleiches Wörtel«, das irgend eine schwierige Talmudstelle scharfsinnig erklärt oder doch so, daß man über die Auslegung lachen kann; auch nach Liedern oder Gassenhausern, nach einem »Spiel« ist er begierig. Und im Ghetto gibt es keinen gedruckten Anekdotenschatz, kein Konzert, kein Theater.

So hat es denn der Himmel gnädig gefügt, daß es dort wenigstens »Schnorrer« gibt. Denn der richtige Schnorrer ist alles zugleich: Witzbold, Sänger, Schauspieler, vor allem aber die lebendige, zweibeinige Zeitung. Vor den gedruckten hat diese Zeitung voraus, daß sie immer in jenem Format erscheint, das dem Abonnenten wünschenswert ist; will er in Kürze bedient sein, in Duodez; liebt er die Ausführlichkeit, in Folio. Auch kann man gleich fragen, wenn man etwas nicht versteht, und findet immer, was man finden will: wer Schnurren liebt, bekommt sie aufgetischt und die Staatsgeschichten nur als Anhang; der Politiker des Ghetto aber kann die längsten Leitartikel genießen, immer nur die hohen diplomatischen Affären, mit einem Feuilleton wird er nicht belästigt. Freilich lügt der Schnorrer oft, während in der gedruckten Zeitung immer nur die Wahrheit steht; auch ist seine Auffassung der Tatsachen oft eine subjektive, ja geradezu einseitige, während in jedem Leitartikel die einzige Meinung zu finden ist, die man als vernünftiger Mensch über ein Ereignis haben kann.

Aber dafür leistet er daneben auch noch Besonderes, was sogar ein Weltblatt nicht gewähren kann. Denn keine andere Zeitung singt und führt komische Soloszenen auf, und so viel Anekdoten auf einmal, wie er mitbringt, könnte auch keine bieten und erschiene sie dreimal täglich in der Größe eines Bettlakens.

Darum braucht der Jude des Ostens seine »Schnorrer«, und es gibt viele unter diesen Landstreichern, die sich die Kundschaft förmlich auswählen können und nicht für jeden zu haben sind, der sie als Gäste begrüßen will. Aber auch bei jenen, die er seines Besuches würdigt, bleibt der »Schnorrer« kaum länger als einen Tag, und selbst in einer größeren Stadt kaum länger als eine Woche. Die Unrast treibt ihn hinweg, aber auch die Klugheit, die Eitelkeit. Er will immer neu, anziehend, willkommen bleiben.

Man sieht, das »Schnorrertum« ist eine Erscheinung im Volksleben des Ostens, die so sehr an die eigentümlichen Verhältnisse wie an den Volkscharakter gebunden ist, daß man in aller Welt und Geschichte nichts Gleiches finden könnte.

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