Deutscher Novellenschatz, Band 10

Deutscher Novellenschatz, Band 10

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 10 von 24. Enthalten sind die Novellen: Alexis, Willibald: Herr von Sacken. Schreyvogel, Joseph: Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte. Robert, Waldmüller [d. i. Charles Edouard Duboc]: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.

Deutscher Novellenschatz, Band 10

Deutscher Novellenschatz, Band 10.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 10.

ISBN eBook: 9783849661137

ISBN Taschenbuch: 9783849667221

 

Auszug aus dem Text:

1.

“Die Achse hält den Weg noch zweimal aus”, schrie Paul, “macht nur den Riemen geschwind zurecht, dass wir fortkommen!” – “Ei, wenn er’s besser versteht”, brummte der Schmied, “meinetwegen!”

“Was gibts denn, Paul?” sagte ich, aus der Kalesche zurücksehend. – “Unnötigen Aufenthalt”, erwiderte Paul, “der Schaden könnte längst ausgebessert und wir schon auf der Station sein, wenn der wunderliche Mann nicht so viele Bedenklichkeiten hätte.” – “Nun, nun, wir haben so große Eile nicht”, sagte ich, indem ich aus dem Schlag stieg; “mach Er seine Sache fein ordentlich, Meister Schmied!” – “Das ist etwas anders!” hörte ich jetzt Paul brummen; “sonst währt dem Herrn gleich alles zu lange.”

Ich ließ meinen Paul stehen und ging in den Hof der Dorfschenke, wo ich ein hübsches, ziemlich wohlgekleidetes Mädchen mit der Wirtin sprechen sah. Das Mädchen trug ein kleines Bündel unter dem Arme und schien ihren Weg, den sie dem Ansehen nach zu Fuß gemacht hatte, eben fortsetzen zu wollen. “In anderthalb Stunden”, hörte ich die Wirtin zu ihr sagen, “können Sie auf der Station sein; ob Sie aber den Postwagen noch antreffen werden, weiß ich nicht; er geht gewöhnlich früher durch.” – Das Mädchen erwiderte einige Worte, die ich nicht verstehen konnte, und kehrte sich dann mit dem Gesichte gegen mich. Ich war überrascht, denn jetzt erst sah ich, wie schön sie war. Mehrere junge Leute, die sich an einem Seitentisch bei schlechtem Wein lustig machten, schienen nach ihrer Art nicht weniger Wohlgefallen an dem Mädchen zu finden. Zwei von ihnen waren aufgestanden und machten Miene, sich dem schönen Kinde zu nähern. Sie hatte es bemerkt und suchte ihnen auszuweichen; aber die mutwilligen Burschen vertraten ihr den Weg und einer fasste sie ziemlich tölpisch an. Unwillig riss sie sich los und verdoppelte ihre Schritte, um über den Hofraum zu kommen. Als sie an mir vorbeiging, sah ich Tränen in ihren großen blauen Augen; ihre Wangen glühten, sie wandte das Gesicht hinweg, als schäme sie sich, einen Zeugen der ihr widerfahrenen Beleidigung zu haben. Unwillkürlich folgte ich der anziehenden Erscheinung, die, durch das Tor an meinem Wagen vorbeieilend, meinen Blicken bald entschwand. Paul als er sie gewahr wurde, stutzte und sah sich schalkhaft lächelnd nach mir um. “War’s das? Ja, dann freilich!” hörte ich ihn murmeln, als ich ihm näher kam.

“Nun, ist der Wagen fertig?” fragte ich. – “Das geht so geschwind nicht, Herr! Aber der Meister macht es recht ordentlich.” – “Sieh, wo der Postillon ist”, erwiderte ich ernsthaft. Paul ging mit drollig-bedenklichem Kopfschütteln. – Ich sah mich nach den zwei Burschen um, deren ungeschliffenes Betragen das schöne Mädchen erröten gemacht und mir, ohne ihr Verdienst und Wissen, einen so reizenden Anblick verschafft hatte. Sie waren zu ihrem Tische zurückgekehrt und riefen lärmend die Wirtin. Nach einem kurzen Wortwechsel warfen sie Geld auf den Tisch und taumelten an mir vorbei, denselben Weg einschlagend, auf dem sich das Mädchen entfernt hatte. Sie schienen ziemlich betrunken; ihre erhitzten Gesichter hatten einen Ausdruck von Rohheit, der mir sehr widrig auffiel.

“Wo bleibt denn der Postillon?” rief ich meinem Paul entgegen, indem ich in die Kalesche stieg. – “Er kommt schon, Herr, und der Meister Schmied ist auch bald fertig, wie ich sehe. Wir holen die flinke Dirne schon noch ein.” – “Ich glaube, du träumst, Alter?” sagte ich, “aber mach fort! Hier ist Geld; und knickere mit dem Schwager nicht! Er soll fahren, wie recht ist.” – Es war angespannt. Paul schwang sich mit etwas steifer Hastigkeit auf den Sitz des Postillons und fort rollte der Wagen in der Richtung hin, welche “das flinke Mädchen” und die zwei wilden Burschen genommen hatten.

2.

Es war ein herrlicher Sommerabend. Die untergehende Sonne übermalte den leichtbewölkten Himmel mit ihren schönsten Farben. Die fruchtbare Landschaft, von Hügeln und Tälern durchschnitten, ruhte wie ihre Bewohner von dem Geräusch und den Mühen des Tages. An beiden Seiten der Straße lagen in ziemlicher Ferne einige Dörfer, zu denen die Herden und hin und wieder einzelne Arbeiter zurückkehrten. Kein Fuhrwerk war auf der Straße zu sehen, kaum von Zeit zu Zeit ein Fußgänger. Wir fuhren eine Anhöhe hinauf, deren bewachsene Spitze der Anfang eines ziemlich beträchtlichen Waldes ist. Als wir die Höhe erreichten und die Straße selbst durch das dichter werdende Gehölz bedeckt wurde, sah Paul etwas besorgt zurück. – “Fahr zu, Schwager!” rief ich, Pauls besorgtem Blicke gleichsam antwortend. Die Rosse liefen bergab, was sie konnten.

Jetzt lichtete sich das Gehölz; ein Teil der Straße wurde sichtbar. Mir deuchte, ich erblicke die Gestalt die mein unruhiges Auge suchte: aber Baumgruppen deckten die flüchtige Erscheinung wieder. Bald schien mir, ich sehe die Gestalt noch einmal nicht weit von uns, und die zwei rohen Gesellen hinter ihr. – “Sie sind’s!” schrie Paul, als wir sie beinahe erreicht hatten. – Die Burschen mochten den Wagen bemerkt haben; sie blieben ein wenig zurück, desto rascher ging das Mädchen vorwärts. Ich rief dem Postillon zu, seine Pferde etwas anzuhalten, was ihm aber nicht sogleich gelang. Als wir an dem Mädchen vorbeifuhren, schien sie mich und Paul zu erkennen; sie verdoppelte ihre Anstrengung, um uns nachzukommen. Da wendete sich der Weg und ein Gebüsch verbarg sie uns aufs neue.

Plötzlich vernahmen wir einen Schrei hinter uns. Der Postillon hatte die Pferde eben zum Stillstehen gebracht. Ich sprang aus der Kalesche und flog dem Orte des Angriffes zu, den mir ein wiederholtes Zuhilferufen bezeichnete. Als ich durch das Gebüsch gedrungen war, sah ich das Mädchen mit den zwei Buben ringen. Meinen Knotenstock in der Faust, stürzte ich auf die Elenden los. Sie wurden mich nicht gewahr, bis meine wiederholten Streiche sie aus ihrer brutalen Zerstreuung aufweckten. Die Schurken waren in Begriff, sich zur Wehre zu setzen, als ich sie plötzlich, von einem panischen Schrecken überfallen, entfliehen sah. Paul, mit meinen Pistolen bewaffnet, und der Postillon waren mir zur Seite; drohend und lärmend setzten sie den Flüchtigen nach. Das Mädchen, jetzt erst seiner Rettung gewiss, warf sich in heftiger Bewegung an meinen Hals. Wie aufgelöst von Angst und Freude, lag sie einen Augenblick in meinen Armen; aber schnell schien sie sich zu besinnen, und indem sie, über und über errötend sich aus meiner Umarmung wand, drückte sie meine Hand an ihre glühenden Lippen.

Paul und der Postillon kamen lachend auf uns zu. Sie hatten die Flüchtlinge nicht erreichen können und mussten sich begnügen, sie waldeinwärts verjagt zu haben. Das Mädchen ward nun erst ihren zerstörten Anzug gewahr; verschämt entfernte sie sich von uns, um ihn ein wenig zu ordnen und ihr zerstreutes Bündel zu suchen, das etwa fünfzig Schritte zurück am Wege lag. Paul sah ihr mit innigem Vergnügen nach und der Postillon, dessen glotzende Augen der schlanken Gestalt gleichfalls nachstarrten, murmelte schmunzelnd: “Blitz! ‘s ist eine hübsche Dirne!” – “Ich dächte, Herr”, sagte Paul, “wir hingen dem lieben Kinde Ihren Staubmantel um; sie scheint sehr erhitzt und könnte bei dem kühlen Abend sich im Fahren leicht erkälten.” – “Du meinst also, Paul –?” – “Dass Sie das Mädchen nicht in Nacht und Wald schutzlos zurücklassen werden, wohl mein’ ich das, oder ich müsste Herrn Samuel Brink nicht mehr kennen. Ich will nur gleich vorausgehen und den Staubmantel aus dem Magazin hervorsuchen.” – “Tu das, guter Paul, und du, Schwager, sieh zu deinen Pferden; ich komme gleich nach.” – “Heißa, Schwager!” rief Paul, ihn mit sich fortziehend, “jetzt gibt es eine lustige Fahrt und Extra-Trinkgeld!”

Ich ging dem Mädchen, das sich langsam näherte, einige Schritte entgegen und bot ihr meinen Arm. Sie hatte sich ziemlich gefasst und nahm meinen Antrag, sie auf die nächste Station zu führen, mit bescheidenem Danke an. Paul stand schon mit seinem Staubmantel da, als wir zu der Kalesche kamen, und nötigte ihn meiner Begleiterin ohne Umstände auf. Dafür nahm er ihr das Bündelchen ab und brachte es in dem Wagensitze unter. Von dem Postillon hörten wir jetzt zum großen Schrecken des Mädchens, dass die Diligence, auf welcher sie einen Platz nach der Hauptstadt hatte nehmen wollen, schon vor mehreren Stunden weiter gefahren sei; sie war umso mehr bestürzt darüber, weil sie ihren Koffer vorausgesendet hatte und dieser, wie sie fürchtete, verloren sein möchte. – “Das wird sich alles finden”, rief Paul in bester Laune. “”Wer weiß, Mamsellchen, wozu der kleine Unfall gut ist!” Hierauf hob er sie zierlich in den Schlag und hüpfte selbst ganz behände auf den Kutscherbock. Der Postillon trieb seine Pferde an und blies ein munteres Stückchen dazu.

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