Deutscher Novellenschatz, Band 9
Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 9 von 24. Enthalten sind die Novellen: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. Reich, Moses Josef: Mammon im Gebirge. Storm, Theodor: Eine Malerarbeit.
Format: eBook/Taschenbuch
Deutscher Novellenschatz, Band 9.
ISBN eBook: 9783849661120
ISBN Taschenbuch: 9783849667214
Auszug aus dem Text:
Wer ist wohl jener Mann in der zerrissenen Jacke welche fast einer Karte von Deutschland ähnlich ist durch ihre mannigfaltigen Farbenmuster? Seine schmutzige hirschlederne Hose reicht nicht weit unter das Knie, das untere Bein ist nackt und sehr gebräunt, sein Halstuch sieht einem Strick nicht unähnlich, so lange her ist es, seit er es auf dem Reichenauer Wochenmarkt endlich unter Seufzern gekauft, nachdem er zehnmal von der Bude weggelaufen und sogar das unermüdliche Mundstück der Schnittwarenhändlerin verachtungsvoll stillgestanden, als er verzweiflungsvoll den ledernen Beutel zog und nach einer halben Stunde Herumwühlens das alte Lied sang, man solle ihm einen Groschen nachlassen; — ja, und der Hut, welcher seinen kleinen Kopf bedeckt, bietet dem Geometer, der seine Form bestimmen sollte, große Schwierigkeiten, denn von jeder Seite sieht er sich anders an — meine Leser werden mir eine weitere Detailschilderung erlassen, da ich durchaus nicht gewillt bin, ein schwarzes Buch zu schreiben, wohl aber eine düstergefärbte Novelle, in welcher dieser abgeschilderte Bauer, welcher eben in jenes einsame Gehöfte schleicht, das eher einer Räuberhöhle als einem Bauernhofe gleicht, eine Rolle spielen wird. Schenken wir also dem Leser reinen Wein ein: dieser nicht so verschwenderisch, noch weniger modern oder geschmackvoll gekleidete Mann heißt Sommer Hans und ist wirklicher Besitzer vorbesagten Bauernhofes, der zwar noch schmutziger aussah, als sein Herr, aber so und so viel Morgen Landes (man denke sich doch ja recht viele!) zu seinem Departement zählt. Dies Gut war ehemals eine Schulzerei, als der erste Gatte von Sommers Frau, noch jetzt gewohntermaßen “Frau Schulzin” genannt, noch lebte. Der ehemalige Schulze war ein halber Jurist und ein ganzer Narr; er war im Stande, heute wegen fünf Groschen einen Prozess zu führen und morgen die schönste Kuh aus dem Stalle einem pfiffigen Schmeichler zu schenken — heute seine Frau zu prügeln, morgen ihr ein halbes Dutzend seidener Kleider anzuschaffen, welche er freilich übermorgen wieder in den Ofen zu schmeißen im Stande war, wenn seine Frau zur ungehörigen Stunde nieste — sie ertränkte den Kummer über seine Launen im Wein, Bier und Branntwein, welche Spirituosen allezeit sich im Hause befanden, da es zugleich eine Schenke war. Endlich endete des Schulzen Leben — närrisch! er sollte nämlich mehre Monate im Kriminal sitzen, weil er einen missliebigen Menschen in seinem Hause halb tot prügeln ließ — das hatte er nicht erwartet! er kam vom Amte krank nach Hause gefahren, behauptete die Cholera zu haben, schrie und wand sich vor Schmerzen wie ein Wurm, und in zwei Tagen war er tot. Man sagte allgemein, er habe sich vergiftet! — Und die Witwe? Heiratete! Wen? Den Sommer Hans! Wer war der? Ein liederlicher Schlingel, welcher, nachdem er seines Vaters Vermögen durchgebracht, im Städtchen N. einen Laden eröffnete, um ein Dutzend Kaufleute um ihre Ware zu prellen, sich aber von Ladenjungen bestehlen ließ, während er Wilddieberei trieb, aus Preußen Dinge herüber paschte, welche hier wohlfeiler zu kriegen waren, im Busch und an der Grenze erwischt ward, wacker Strafe blechen musste, den Laden von Gläubigern geschlossen bekam, welche Wind von seinem Lebenswandel hatten, hierauf nach Strick, Flinte, Messer blinzelte, sich den Garaus zu machen und endlich — an der Schulzin oder vielmehr ihrem Gute hangen blieb — erstere versprach nämlich bald zu sterben; leider erfüllen sich derartige Versprechen noch seltener als die Ehegelöbnisse am Altare, und die wackere Schulzin zapfte noch Jahre lang im Weinkeller Seidel in die Gläser und Maße in die Gurgel. Sommer war auf einmal reich geworden; die ganze Umgegend prophezeite der Schulzerei nun bald ein seliges Ende — aber sie hatte sich gründlich getäuscht! Sommers Verschwendung war nicht nur seiner Jugend, sondern auch der Verzweiflung des Nichtbesitzenden zuzuschreiben — weil er keinen Gulden hatte, wollte er auch keinen Kreuzer haben; er war eine trotzige Natur, er hatte sich ruiniert der Welt zum Trotz, und aus Trotz ward er jetzt mehr als sparsam, er ward geizig; was seine Frau verschwendete, wollte er ersparen, und wie unter dem ewigen Wunsche, sie möchte nun einmal sterben, seine Seele sich abmarterte, die schönsten Jahre freudlos dahinschwanden, scharrte er das Geld zusammen, gleichsam als Garantie einer schöneren Zukunft — wie sollte ihm das Geld nicht teuer sein, da er seinetwegen sich an ein solches Weib gekoppelt? — Endlich warf sie die Gicht ins Bett, sie kam wieder auf, vermochte aber die Luft nicht zu ertragen und schlich in der Stube umher wie ein Gespenst; zum zweiten Mal packte es sie stärker, sie konnte das Bett nicht mehr verlassen, unter welchem dessen ungeachtet die Flasche funkelte. So lag sie wieder mehre Jahre — armer Hans! wer sieht es dir an, dass du ein guter Vierziger bist? dein gelbes Gesicht, deine Runzeln, dein gebückter Gang, dein aschfarbiges Haar lassen einen Sechziger vermuten! Zu Weihnachten wird es zehn Jahre, dass die Hochzeiter in dreißig Schlitten mit Schellengeläute und Peitschenknall zur Schulzerei fuhren, da hast du noch gejauchzt, um die Stimme tief in deiner Brust zu übertäuben und die Leute glauben zu machen, du seist lustig! da bist du mit “deiner Lene,” wie du die alte Säuferin nanntest, Allen vorangefahren, und beim Hochzeitstanze bist du höher gesprungen, als alle die andern Bursche, du hast mehr getrunken, als deiner Gäste jeder — und nun? was trägst du in dem Sacke da? die Kucher welche fremdes Vieh auf der Gasse hinter sich gelassen! Huste, huste! drinnen ächzt deine Lene!
An einem schwülen Sommertag, da die Sterne auf der Klause Grund sichtbar wurden und die Blumen auf dem Felde matt ihre Köpfchen sinken ließen, da die Heumähder den Schatten der Bäume suchten, während der würzige Duft des Klees ihre trüben Sinne einschläferte, die Luft vor Wollust zitterte, der Schäferhund mit lang heraushängender Zunge sich zum stockenden Bache schleppte, um mit heißer Gier das Wasser zu schlucken — da trat Sommer Hans aus dem Hofe, um nach seinen Leuten zu sehen, sie zur Arbeit anzutreiben; an der Schwelle des Hoftores wäre sein nackter Fuß beinahe über ein Mädchen gestrauchelt, das, in Lumpen gehüllt, das runde Gesichtchen dunkelgebräunt von Luft und Sonne, das Köpfchen auf den Arm gelehnt, im kargen Schatten des Tores schlummerte; Sommer Hans blickte zuerst unwillig drein, dann immer milder und milder, als sich sein Auge in das Antlitz der Schlummernden vertiefte, bis ein Anflug von Seele in seinem Angesichte aufging, wie der Mond über Ruinen gleitet — mit verschränkten Armen stand er selbstvergessen da und konnte sich nicht satt sehen an dem Bilde der Unschuld im Gewande tiefster Dürftigkeit — er bückte sich zu ihr und sah, dass ihre Schürze etwas verhüllte, ihr Atem wehte in sein Gesicht, er neigte sich tiefer und küsste sie auf den Mund, wobei er zu knieen kam; hierauf sah er in die Schürze — es waren einige Stücke weißen und schwarzen Korn- und Haferbrots darin — also ein Bettelkind! Als er die Schürze wieder zusammenwickelte, schlug das Mädchen zwei dunkle Augen auf, welche ihn anstarrten, als besännen sie sich, was sie sähen, wo sie wären. — Sommer richtete sich schnell auf, seine hagere Gestalt reichte fast so weit als das Tor; das Kind sprang furchtsam auf und wollte davonrennen, aber Sommer hielt es am Röckchen fest, das kaum seine runden Wädchen bedeckte. Was wollt Ihr? — schrie sie ihn an, lasst mich gehen, ich hab’ noch keine Schüssel voll Brot! — Kannst schon kriegen! ich habe auch Brot! sag mir, wie heißt du? — Trude! — Wie noch? — Ich weiß nicht! — Wie heißt dein Vater? — Ich habe keinen! sagte das Mädchen und starrte den Bauer mit großen Augen an. — Und wie heißt deine Mutter? — Die Bettelthrese! — Wer heißt sie so? — Die Leute! — Hast du deine Mutter gern? — Nicht ein Grümpchen! — Warum nicht? — Sie schlägt mich so sehr! — Warum schlägt sie dich? — Weil ich die Schüssel nicht voll aufbring’! — Hast du Geschwister? — O ja! sechse! sie laufen alle betteln ‘rum wie ich; der Kerle geht ins Wirtshaus! — Wer ist der Kerle? — I nu der Kerle! — Wer ist der Kerle? — Der bei der Mutter schläft. — Sommer Hans lachte, Trude wollte wieder ausreißen. — He Trude! bleib, hast ja noch nichts kriegt! Sag mir, möchtest bei mir bleiben? — er ergriff sie beim Händchen, das er zärtlich drückte. — O ja! rief Trude, wenn Ihr mich nicht schlagt! — Wird dir die Mutter nicht nachkommen? — Q nein! die wird gar froh sein! — Wie alt bist du! — Zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre! lachte Trude. — Du weiß es nicht? — Bei meiner Seele, nein! — Hast Hunger? — Nein, aber Durst, viel Durst! — So komm herein! Er nahm ein Deckelglas, welches noch mit roter Farbe nummeriert war, zum Zeichen, dass es sich noch des Schulzen und des alten, lustigen Lebens erinnere, ging zum Troge, welcher im Hofe stand, füllte es mit kristallhellem Wasser und gab ihr zu trinken, während er das Glas am Henkel hielt; sie schlürfte mit langen, durstigen Zügen, und er sah jedem Zuge mit Wohlbehagen bis in die Kehle nach. Zahl’s Gott! sagte sie gewohntermaßen, ohne viel Innigkeit im Ausdruck. — Gib mir das Brot, das du da in der Schürze hast! meinte der Bauer. — Ich darf nicht! muss es der Mutter bringen! — Hast denn vergessen, Trudchen, dass du bei mir bleibst? du kriegst Butter aufs Brot, früh Milch, mittags Fleisch — er erschrak bei dem Worte, da er sich erinnerte, selbst kaum an Sonntagen einmal Fleisch zu essen; als sie noch immer unschlüssig und zweifelnd sann, fuhr er fort: Und schöne Kleider auf den Leib, Strümpfchen und Schühlein. — Trude blickte auf Sommers nackte Füße und sagte naiv: Ihr habt ja selber keine Schuhe! — Blitzmädel! brummte Sommer vor sich hin, der sich auf einer Inkonsequenz ertappt fühlte. Hast Recht, sagte er laut, ich bin stark und geh’ lieber so, du sollst aber Schuh’ und Strümpfe haben! — Wie die Fritze Juliane? fragte Trude kindlich. — Ja, wie die Fritze Juliane! ging der Bauer auf ihre Frage ein. — Und werd’ ich auch wie sie in einem Bettchen schlafen? — Ja, und dazu bei mir! — Das mag ich nicht! rief sie frischweg. — Warum nicht? — Weil — weil — weil Ihr so garstig seid, ich möchte mich fürchten! — Sommer lachte laut auf, das war ihm schon lange nicht geschehen. — Sollst ein eigenes Bettchen haben! beschwichtigte er die Ahnungsvolle. — Und eine Locke wie die Fritze Juliane? — Ja eine Locke sollst auch haben mit wunderschönen, rohen Kleidern und gesticktem Kragen! — So bleib’ ich bei dir! klatschte Trude in die Hände und hüpfte ausgelassen im Hofe umher, dass die Hühner von ihrer Stange aufflogen und der Kettenhund in seiner Hütte knurrte. — Ja, du bleibst mir! —
Und so geschah’s auch. Und was noch merkwürdiger ist: Sommer hielt alle seine Versprechungen! Sie sah recht zierlich aus in ihren neuen Kleidern und wusste gar nicht, wie sie gehen sollt’, die Betteltrude. — Sommer gab sie dem neugierigen, verwunderten Gesinde für eine Patin aus, “seiner Lene” aber durfte sie nicht nahe kommen, ohne etwas an den Kopf zu kriegen. Trude wollte bisweilen zugreifen, wenn’s Arbeit gab, aber Sommer Hans gab’s nicht zu, sie sollte müßig gehen “wie die Fritze Juliane”, alle Liebe, welche in seinem Herzen begraben lag, häufte er auf das Haupt des fremden Mädchens, welche seine Wohltaten pflichtschuldigst hinnahm, denn wer oft “Zahl’s Gott!” gesagt hat, verlernt die Dankbarkeit, welche sich nicht ausspricht, aber umso wahrer und tiefer empfindet. —
…