Deutscher Novellenschatz, Band 15

Deutscher Novellenschatz, Band 15

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 15 von 24. Enthalten sind die Novellen: Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. Kugler, Franz: Die Incantada. Schücking, Levin: Die Schwester. Wallner, Franz: Der arme Josy.

Deutscher Novellenschatz, Band 15

Deutscher Novellenschatz, Band 15.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 15.

ISBN eBook: 9783849661236

ISBN Taschenbuch: 9783849666774

 

Auszug aus dem Text:

In den Denkwürdigkeiten eines österreichischen Offiziers, der eine geraume Zeit nach dem Wiener Frieden an seinen bei Aspern erhaltenen Wunden starb und seinen Freunden ein teures Andenken in dem Buche, wovon die folgenden Blätter ein Bruchstück sind, hinterließ, findet sich unter anderen anziehenden Bildern aus seinem Leben auch folgende Erzählung, die den Leser nicht ohne Teilnahme lassen wird. Er redet mit seinen eigenen Worten und hebt das letzte Buch seiner Lebensgeschichte also an.

Die zärtliche Neigung des Herzens hat sich mir niemals liebenswürdiger offenbart, als in dem Anfang eines angenehmen Verhältnisses, das ich mit einer Schauspielerin hatte, und dessen kurzen Verlauf ich hier getreu schildern will.

Die heftige Leidenschaft, von der ich im Vorhergehenden gesprochen habe, und in deren verwickeltem Ausgang alle meine Kräfte und Wünsche wie in einem heißen Kampfe um Leben und Tod niedergeworfen waren, hatte mich einer seltsamen Ruhe überlassen, die jeden neuen Liebesreiz unmöglich zu machen schien, und so hatte ich bereits mehrere Jahre verlebt, ohne mich in der Gleichgültigkeit, mit der ich an das dachte, was ich nun noch erwarten könnte, unglücklich zu finden; mein Herz war auf seiner stolzen Fahrt gescheitert, die glücklichen Ufer mir auf ewig entrückt, meine Sorge war nur, den alten Hafen wieder zu gewinnen. Die kleine Garnison in Oberösterreich war meiner Sinnesart nun ganz gemäß, der halb städtische, halb ländliche Aufenthalt gab mir eine stille Zerstreuung, ich sah dann und wann einige benachbarte Edelleute, die mich äußerlich dann wohl etwas beschäftigten, aber in meinem Innern, so wenig wie ihre Frauen und Töchter, nicht den geringsten Eindruck hervorbrachten. Nähere Anhänglichkeit an meine Kameraden, ein vertraulicherer Umgang mit meinen Vorgesetzten und nebenher mancherlei Liebhabereien, denen ich mich ergab, füllten die Zeit genugsam aus, die mein Beruf mir übrig ließ, und ergänzten nach und nach mit einem alltäglichen Reize den Mangel, der durch die Entziehung eines so gewaltigen und gewohnten Reizes in meinem Innern entstehen musste. Die Tage kamen unvermerkt und gingen unvermerkt, eine Stunde löste die andere harmlos ab, und ich gefiel mir eine Zeitlang ganz gut in der armseligen Folge von unwichtigen Ereignissen. Hätte man mir in früherer Zeit gesagt, ich würde ein solches Dasein führen können, ohne mich höchst unglücklich zu fühlen, so würde ich es für unmöglich gehalten und die Gefahr eines solchen Absterbens verlacht haben; auf gleiche Weise ging es mir im Gegenteil auch jetzt, wenn scherzend meine Freunde behaupteten, die Liebe würde noch Ansprüche auf mich geltend machen, die ich gegenwärtig ableugnen wollte. Nichts schien mir lächerlicher, als dass ich mich wieder verlieben könnte. Dies geschah denn auch freilich nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, denn jene Leidenschaft, deren ich fähig gewesen, war in mir bis auf die letzte Spur verschwunden; aber doch hätte ich nicht geglaubt, dass Gefühle, die ihr ähnlich sind, noch so großen Anteil in mir erwecken und mir noch so reichen Verdruss und Kummer bereiten könnten, als das Folgende dartun wird.

Die Zeit des Faschings war herangekommen, und Wien mit seinen bunten, raschen Bildern begann unsere unbefriedigte Einbildungskraft lebhafter anzuregen. Die hellen Kreise glänzender Gesellschaft, das fröhliche Gewühl und der laute Schall festlicher Tänze, die Bequemlichkeiten und Vergnügungen aller Art, die in dieser üppigen Hauptstadt mit ungeheurer Mannigfaltigkeit abwechseln, kamen jeden Abend mit Zauberstrahlen durch das traurige Schneegestöber und über die eisblinkenden Straßen in verführerischen Bildern bei unsern Versammlungen an, die wir im einsamen Wirtshause am Markte hielten und vergebens den stillen Abenden und frühen Nächten unserer langweiligen Tage entgegensetzten. Eines Abends wurde von Einigen beschlossen, nach Wien zu gehen, und einer meiner Freunde, der dort ernstlich verliebt und voller Heiratsgedanken war, beredete mich, ihn zu begleiten, welches ich endlich ihm zu Gefallen zusagte, während aus meiner Seele der flüchtige Reiz des Vergnügens, dem wir entgegengingen, mit dem ersten Aufwallen auch wieder entschwunden war. Die aufgehende Sonne fand uns schon zu Pferde, um gegen den schneidenden Ostwind auf dem harten Schnee gegen Wien zu traben, wo wir wohlbehalten anlangten.

Die Stimmung der Freude lässt sich nicht erzwingen; ich vermied die häufigen Einladungen meiner zahlreichen Bekannten und lebte sehr eingezogen. Wenn mein Freund, durch seine Angelegenheit immer beschäftigt und dem süßesten Glücke nachhängend, mich abends allein ließ, fiel meine Wahl unter allen Unterhaltungen meist auf das Schauspiel, das zu der Zeit in Wien nicht eben schlecht war. Die Bühne, wenn man sie täglich besucht, erscheint bald in einem ganz anderen Lichte, als wenn man ihr nur zufällige, von Missmut und Zerstreuung aufgelöste Stunden schenkt; die mannigfachsten Bedingnisse wirksamer Aufführung werden nach und nach deutlich, man erkennt die oft sehr verhüllten Triebfedern, welche den angenehmen Eindruck hervorbringen, der Verstand lernt genau und schnell den Anteil absondern, welchen Überlegung, Bewusstsein, Laune, Übung, Gewohnheit und Zufall an einer glücklichen Vorstellung haben, neben dem Ganzen treten zugleich die einzelnen Bestandteile deutlicher vor Augen, und indem die Gegenstände der Vergleichung in dem kürzesten Zeitraum zusammengedrängt folgen, bildet sich unmerklich der größte Scharfsinn der Beurteilung, die genaueste Übersicht des Ganzen und die leiseste Würdigung des Einzelnen, mit einem Worte, es entstehen Vertraute und Liebhaber der Bühne, wie deren die französische in Paris zu ihrem größten Vorteil so viele zählt, und wie Goethe deren einige als Serlos größten Beistand in Wilhelm Meister schildert. So ging es auch mir, ich lernte das Vergnügen begreifen, mit welchem die täglichen Schauspielfreunde auch den abgeschmacktesten und wiederholtesten Vorstellungen zusehen, und erstaunte über die zahllosen Bemerkungen und Aufschlüsse, die jeder neue Abend mir gab. Ich nahm unwillkürlich Teil an Allem, was das Schauspiel betraf, las eifrig die Berichte darüber in den öffentlichen Blättern, denen ich zuweilen Beiträge gab, und da mein Eifer in seiner Unruhe alle Gelegenheit suchte, die erlangte Kenntnis in Tätigkeit zu bringen, so war ich bald mit den vorzüglichsten Schauspielern und Schauspielerinnen in näherer Bekanntschaft, ich wurde von ihnen in ihre Heiligtümer gezogen und befand mich ebenso oft während der Vorstellung auf der Bühne und in ihren Ankleidezimmern, als unter den Zuschauern.

Zwei Frauen teilten damals die allgemeine Gunst des Publikums, beide waren schön von Gestalt, angenehm im Betragen und von ausgezeichneten Talenten für die Darstellung, doch in jedem dieser Stücke entschiedene Gegensätze voneinander. Die eine, Therese, glänzte durch feinere Bildung, Klugheit und Verstand, durch freien Sinn und glückliche Belesenheit, dabei lebte sie ihre muntern Jugendtage mit vergnügtem Herzen offen und anspruchslos dahin. Die andere, Eugenia, suchte mehr die stille Verborgenheit; ihre Handlungen zeugten von einer eigenwilligen, hartnäckigen Gemütsart, ihre Freundlichkeit verleugnete niemals einigen Ernst, welcher bewundernde Achtung dem erregtesten Wohlgefallen vorzog, Verstand hatte sie weniger, aber in jedem Tone, den sie aussprach, klang eine geheime Innigkeit des Gefühls, und diese goss über alle ihre anderen Eigenschaften eine solch sittsame Anmut, dass selbst die ungefälligen Seiten ihres Wesens den Herzen gefährlich wurden, eine Anmut, die durch den außerordentlichsten Reiz körperlicher Vollkommenheiten unwiderstehlich wurde. Hörte man Jener zu große Freiheit vorwerfen, so durfte man an Dieser wohl eine zu große Befangenheit tadeln, die ihren Umgang wie ihr Spiel mitunter etwas peinlich machte. Als ich Beide persönlich kennen lernte, war mir dieser Unterschied schon großenteils von der Bühne herab klar geworden, denn man konnte, so schien es mir, mit Recht sagen, dass Jede genau sich selber spielte, so dass man ebenso gut hatte glauben können, ihr Rollenfach habe ihre Gemütsart bestimmt, als umgekehrt. Dies hatte ich oft in Überlegung gezogen, und mir schien, als sei die Aufgabe, einen Charakter darzustellen, den man in einigen Zügen der eigenen Seele nur angedeutet besitzt, einer schöneren Lösung fähig, als diejenige, etwas zu spielen, das, weil man es ganz ist, man eher versucht ist, mit der Natur zu machen, als mit der Kunst; und weil alsdann nur das gemeine Bild des wirklichen Daseins statt des höheren eines veredelten Seins erscheint, so beklagte ich, dass diese beiden Frauen eigentlich ihren besten Vorteil nicht verstünden, und nahm mir vor, darüber, wie über manches Andere, was ihre Kunst betraf, mit ihnen gelegentlich zu reden.

Mit Theresen hatte ich eine lebhafte Unterhaltung, in welcher sie mir Recht und Unrecht gab und ihren Verstand nur anwandte, mich zu verwirren, worauf sie mit scherzender Gleichgültigkeit die Sache fallen ließ. Ich wollte nun sehen, wie es mit Eugenie gelingen würde, ob die mir auch entschlüpfen würde, und so freute ich mich des Zufalls, der noch spät an demselben Abend, als Therese fortgegangen war, Eugenie in die Theaterloge führte, wo ich sie zuvor nie gesehen hatte und wo sie sich auf denselben Platz, den Jene verlassen hatte, neben mich setzte. Eugenie antwortete gut und geläufig auf manches Schmeichelhafte, das ich über ihre bisherigen Vorstellungen sagte, und was man mit dem bloßen Gefühl wissen kann, das schien sie recht gut zu wissen, nur wo es auf etwas Erlerntes ankam, da wurde ihr Sprechen mangelhaft und gab selbst bei den notwendigsten Dingen, von denen sie hätte unterrichtet sein sollen, die ärgsten Blößen. Ganz und gar nichts aber wollte sie von meinem Vorschlage hören, statt der Weichen, traurigen Heldinnen einmal die muntern und bösen zu spielen. Ich sah mich unerwartet darüber in Scherzreden mit ihr verflochten, und weil doch einmal statt vernünftiger Gründe nur Laune und Witz den Streit führten, so kehrte ich aus Bosheit meinen Satz um, wie er denn in der Tat ziemlich zweifelhaft und in beiden Fällen gewissermaßen wahr sein mag, und sagte: Deswegen müssen Sie die bösen Rollen spielen, weil man doch am besten das spielt, was man selbst ist; warum ein Talent immer in fremdartige Form zwingen? Wie sehr dies Ihnen auch gelingt, und wie entzückend Sie uns auch die Johanna d’Arc geben würden, so möcht’ ich Sie doch vor allem Anderen auch als Königin Jsabeau sehen.

Was sie zunächst antwortete, habe ich überhört; ein Wunder, dass ich nicht auch meine eigene Rede unbeendet ließ! denn ich hatte eben angefangen, der lieblichen Frau ins Gesicht zu sehen, und empfand je mehr und mehr das Feuer ihrer Anmut in meine Adern übergehen, jede ihrer Bewegungen, das Aufschlagen, Niedersenken und Wechseln des nahen Blicks, das Zittern ihrer Haare, die von beiden Seiten der Stirne in Locken wunderschön herabfielen und jedem Wurfe des allerliebsten Köpfchens nachschwankten, das zauberische Öffnen der Lippen und die sanfte Erhebung und Senkung der belebteren Züge, alles Das zog meine Aufmerksamkeit in dem Grade hin, als ob ich den feinen Wunderbau des Körpers in diesen Werkzeugen zum ersten Mal wahrnähme. Mein wie in Neugier verlorenes Zusehen muss jedoch zugleich ein freudig erstauntes Lächeln gewesen sein, denn ich sah ihr holdes Gesicht plötzlich eine Heiterkeit annehmen, wie sie von äußeren Gegenständen auf die Augen überzugehen pflegt, und noch kann ich nicht ohne Entzücken an den sanft glühenden, duftigen Schein des blühenden Antlitzes denken, das in Jugendfrische so warm und kräftig vor mir schwebte. Ich weiß nicht, wie lange dieser träumerische Zustand gedauert haben mag, genug, dass er meiner Sehnsucht zum Trotz, die gewünscht hätte, so ansehend und angesehen zum ewigen Bilde zu erstarren, in schnellem Wehen auseinander stob und ich mich mit scharfen Vorwürfen angeredet fand, die meine Anschuldigung für eine himmelschreiende ausgaben und mir alle Strafen drohten, die solcher boshaften Feindseligkeit gebührten. Woher kennen Sie mich denn schon? rief sie aus; wo haben Sie meine Seele belauscht, um ihr so voreilig auf der Bühne einen Platz anzuweisen, der zugleich den im Himmel bestimmte? Aber Sie sollen Recht haben, fügte sie hinzu, Sie sollen Ihre Behauptung, dass ich böse sei, dadurch bestätigt sehen, dass ich es gegen Sie recht sehr sein will! — Ich erinnerte sie, dass sie die Böse aber doch nur spielen dürfe, und damit, wenn es auch ein böses Spiel für mich wäre, könnte ich noch wohl zufrieden sein. Aber mein Witzeln war ohne Erfolg, sie wollte sich nicht einreden lassen, dass Alles nur Scherz gewesen, und bezeigte mir, obwohl mit vielem lebhaften Mut, einige Empfindlichkeit über das vorgefallene Gespräch. Alle nur ersinnliche Feinheit und die eindringlichste Schmeichelei, die ich anwandte, um sie zu besänftigen, brachten nur die halbe Wirkung hervor, und ich blieb untröstlich über eine Stimmung, die ich nie hervorbringen gewollt, und die ich jetzt umso mehr verwünschte, da mir indessen selbst jeder Mutwille vergangen und die sonderbarste Hinneigung voll Sehnsucht und Wehmut an dessen Stelle getreten war.

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