Deutscher Novellenschatz, Band 18

Deutscher Novellenschatz, Band 18

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 18 von 24. Enthalten sind die Novellen: Kurz, Hermann: Die beiden Tubus. Müller, Wilhelm: Debora.

Deutscher Novellenschatz, Band 18

Deutscher Novellenschatz, Band 18.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 18.

ISBN eBook: 9783849661267

ISBN Taschenbuch: 9783849666804

 

Auszug aus dem Text:

Das Zimmer fing an dunkel zu werden, und Arthur nahm vor dem Spiegel den Widerschein einer Laterne, welche seinem Fenster gerade gegenüber unter den Linden brannte, zu Hilfe, um seine Abendtoilette mit dem Einstecken einer goldenen Nadel in den englischen Knoten seines Halstuches zu beschließen. Dabei hatte er das Missgeschick, das glatte Tuch ein wenig zu verknicken, und darüber ungeduldig und verdrießlich, zog er die Klingel. Aber der helle Ruf der Glocke blieb unbeantwortet, und um seinen Unwillen an irgendeinem Dinge außer sich so merklich, als es jetzt geschehen konnte, auszulassen, zuckte er so lange an der Klingelschnur, bis sie zerriss. Eine abscheuliche Wirtschaft hier im Hause! brummte er vor sich hin, warf sich auf das Sofa, ließ seine Uhr repetieren und zählte fünf und drei Viertel. Die Madame ist wieder ins Theater gegangen und das Mädchen hinterdreingelaufen, und nach mir fragt keine Seele. Ich muss ausziehen, wenn das nicht bald anders wird. Es ist mir hier unter den Linden in der Nähe des Opernplatzes ohnedies zu viel Lärm, und ist es nicht eine Schande, wie teuer ich diese Rumpelkammer, die sie Chambre garnie nennen, bezahlen muss, und bei einer solchen spitalmäßigen Aufwartung!

Er trat an das Fenster und schrieb mit nachdenklicher Miene Buchstaben auf die angelaufenen Scheiben. Wagen auf Wagen rollten unten vorüber und machten das Glas unter seinen Fingerspitzen dröhnen. Was mag es denn heut’ Abend in dem großen Opernhause für kleine Spektakelkünste geben? Gewiss irgendeine recht gemeine Kuriosität, weil die vornehmen Leute so hitzig darnach fahren. Ich begreife die Geheimrätin nicht, wie eine so geistreiche Frau sich von dem neugierigen Strome kann fortreißen lassen und ein Paar Abende in der Woche daran setzen, um in dem großen Guckkasten zu gaffen und begafft zu werden. Nun, heute habe ich das nicht zu besorgen. Den Montag hält sie gewissenhaft, und ich nicht minder. Ich verspreche mir heute einen himmlischen Abend. Diese Nacht habe ich von Schlangen geträumt, und die sollen ja Ringe bedeuten. Du loses, liebes Mädchen, dass ich dich doch endlich einmal fassen kann! Du hast mir in diesem Thema ein Bändchen in die Hand gegeben, woran ich dich, wie du dich auch drehen und winden magst, so lange festhalte, bis ich dir das Losungswort meines Lebens, das Geständnis meiner Liebe, Stirn gegen Stirn, Aug’ in Auge, zugerufen. Meine Glosse auf dieses Thema entzückt mich selbst; so wahr, so warm, so innig hab’ ich nie gedichtet. Ich dichtete sie ja aus deinem Herzen heraus.

Inbegriff von meinen Freuden!

Hab’ ich das verdient um dich?

Erst verschmäht, nun fliehst du mich?

Wie, du willst von hinnen scheiden?

Nein, nein, ich bleibe bei dir, meine Fanny! Seit du mir dieses Thema gegeben hast, denk’ ich nicht mehr an die Reise nach Italien und an den alten wunderlichen Marquis.

Arthur hatte diese Worte noch nicht ausgesprochen, wenn auch vielleicht zu Ende gedacht, als er draußen auf seiner Treppe leise Fußtritte, lautes Husten und starkes Aufstoßen mit einem Stocke hörte. Ecce, lupus in fabula! rief er aus. Da kommt der alte Narr mir wieder über den Hals. Es ist um toll zu werden. Aber ich will ihn einmal ablaufen lassen. Es ist nur ein Glück, dass er schon von Weitem einen so vernehmlichen Anmelder hat. Er eilte nach der Stubentüre, um den Riegel vorzuschieben: aber ein Stuhl, über den er seinen eben ausgezogenen Schlafrock geworfen hatte, stellte sich ihm in den Weg, und so stolperte er darüber weg und fiel mit vollem Gewicht gegen seinen Flügel, von welchem er eine Wasserflasche, einen Leuchter und ein Notenpult herunterwarf. Inzwischen war der Marquis, ohne anzuklopfen, auf das donnernde Signal, überrascht und ein wenig erschrocken, in das Zimmer getreten.

Guten Abend! Guten Abend, meine Herren! grüßte er in seiner langsamen und scharf gemessenen Sprache, der man es auch in jedem richtig gewählten und gestellten Worte anhörte, dass sie mehr aus Büchern, als in lebendiger Schule erlernt war. Lassen Sie sich nicht unterbrechen von mir, meine Herren, wenn Sie haben voltigiert oder gefochten. Spielen Sie weiter. Diese Exercitien gefallen mir wohl, und als ich war jung und unter den Pagen in Versailles, da hab’ ich die gymnastischen Künste getrieben mit großem Eifer. Aber, meine Herren, damals übten sich diese Künste mit Delikatesse. Ah, mon dieu, wie machen die Polissons es jetzt da draußen vor dem Tor, in dem großen Sand! Sie laufen herum in schmutzigen Säcken und brechen sich die Hälse. Das ist, was sie heißen das Turnen.

Ich bin ganz allein, Herr Marquis, nahm Arthur das Wort, und bitte um Entschuldigung, dass ich Sie in einer finstern Stube empfangen muss. Ich wollte eben nach meinem Hute greifen, um auszugehen, als ich über diesen Stuhl stolperte —

Hat nichts zu sagen, mein Herr Doktor, unterbrach ihn der Marquis. Ich will Sie nicht lange halten. Ich komme, um Sie zu fragen für das letzte Mal, ob Sie wollen reisen in meiner Begleitung und auf meine Kosten nach Italien. Denn ich muss benutzen die wenigen Tage vor der Eintretung des starken Frostes, um zu kommen heraus aus den kalten Landschaften.

Herr Marquis, entgegnete Arthur mit gemachter Verlegenheit, ich weiß in der Tat nicht, wie ich es verdiene —

Lassen Sie das, Herr Doktor! fiel ihm der Marquis in das Wort. Sie verdienen gar nichts für Ihre Person, aber Sie wissen recht wohl, Ihr Herr Vater hat an mir verdient Großes, sehr Großes, das Gott ihm wird vergelten im Himmel. Er hat mich, als ich kam bettelarm und verwundet nach Mannheim, aufgenommen in sein eigenes Haus, er hat mich geheilt und gepflegt, er hat mich genährt und gekleidet, bis dass meine Mittel sind angekommen aus der Schweiz, von meiner emigrierten Familie. Sehen Sie, Herr Doktor, das hab’ ich nicht gekonnt abtragen an ihn selbst, darum will ich es abtragen an den Sohn.

Herr Marquis, Sie beschämen mich mit jedem wiederholten Anerbieten Ihrer Gunst. Aber Sie wissen, dass ich damit umgehe, meinen großen medizinischen Kursus zur praktischen Habilitation hier in Berlin zu machen.

Erlauben Sie, Herr Doktor, dass ich mich setz’ auf einen Moment. Ihre Treppe hat mich gemacht sehr müde, und ich muss einmal husten.

Der Marquis setzte sich auf das Sofa und hustete ein paar Minuten lang, dass die Wände zitterten. Arthur stand wie auf Kohlen, trippelte in der Stube herum und sann auf Mittel, seines Besuches so schnell als möglich ledig zu werden. Es ist Ihnen zu kalt in meiner Stube, Herr Marquis, hub er nach der Pause das Gespräch wieder an, und das reizt Sie zum Husten.

Nicht so, Herr Doktor. Ich bin gegangen zu schnell in den Wind hinein. Sie haben gesprochen von Ihrem großen praktischen Kursus. Aber nehmen Sie es nicht auf die böse Seite, wenn ich Ihnen mache das Bekenntnis, dass die Herren Professoren von der Universität mir haben gesagt, Sie machen hier viele kleine Kursus in der Stadt, in der schönen Welt, in den belles lettres, kleine Kursus, nicht praktisch, alle mit einander ideal und poetisch, und die Sie nicht werden führen zu der Habilitation. Und dieselben Herren haben mir gegeben die Versicherung, dass es wäre Ihr gutes Glück, wenn Sie würden mit Gewalt herausgerissen aus dieser berlinischen Manier zu leben. Und was die gelehrte Geheimrätin betrifft und ihre kleine Mignon —

Herr Marquis, brach hier Arthur mit wenig beschönigter Entrüstung in die Rede des Alten ein. Herr Marquis, wiederholte er und steigerte den Ton seiner Worte bis zur entschiedenen Grobheit, die Herren Professoren, die Ihnen das gesagt haben, scheinen zu vergessen, dass ich bei ihnen für medizinische und nicht für moralische Vorlesungen pränumeriert habe.

Nicht zu rasch! nicht zu rasch, mein junger Freund! beschwichtigte ihn der Marquis. Sie werden machen Ihren Cursus medicus in Salerno, und wenn Sie mir kurieren meinen Husten, so sollen Sie von mir genannt werden ein Hippokrates.

Arthur, durch die kleine Zurechtweisung des Alten umso schärfer gereizt, je gerader er sich von ihr getroffen fühlte, war nicht so leicht in den Scherz überzuspielen und fuhr in seiner vorigen Stimmung fort: Suchen Sie Ihren Hippokrates unter den hochgelehrten Herren, die mich Ihnen so angelegentlich zum Begleiter nach Italien empfohlen haben.

Sagen Sie mir nichts Böses von diesen Herren, Herr Doktor. Sie meinen es gut, sehr gut mit Ihnen. Aber, mein lieber Arthur, versprechen Sie mir, dass Sie wollen nicht mehr Verse machen und mit mir reisen nach Italien. Ich bin ein alter Narr, dass ich Sie so quäle, aber ich weiß wohl, warum ich es bin, und ich will es sein. Ich habe Sie lieb, als ob Sie wären mein eigenes Kind, und ich habe Sie als ein kleines, kleines Ding getragen auf meinen Armen, und da haben Sie mir einmal beschmutzt einen neuen hellgrünen Rock, und da habe ich Ihrem seligen Vater meine Hand gereicht, dass ich wollte sorgen für Sie, wenn in der Zukunft meine schlechten Umstände sich hätten verbessert. Sehen Sie, darum will ich Ihnen wohltun, malgré vous.

Herr Marquis, fuhr bei diesen Worten Arthur heraus, entschuldigen Sie meine Grobheit; aber ich bin zu einer Gesellschaft geladen, welcher ich die Stunde halten muss. Ich werde mir die Freiheit nehmen, Ihnen morgen Adieu zu sagen.

Hiermit nahm Arthur seinen Hut in die Hand und schickte sich an, aus der Stube zu gehen, deren Schlüssel er schon lange in der Hand geschwungen hatte. Der Marquis, ohne sich zu übereilen oder aus seiner gutmütigen Laune zu fallen, stand vom Sofa auf und klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. Nächsten Donnerstag reisen wir, Herr Doktor! Diese Worte, von dem Alten mit einer gewissen prophetischen Bedeutsamkeit ausgesprochen, machten den Jüngling betroffen, und er fühlte sich von ihnen nicht wie bisher unangenehm bedrängt. Er verstummte, und der Marquis fuhr fort: Und wenn Sie auch nichts wollen zu treiben haben mit meinem alten bösen Husten, ich nehme Sie doch mit mir als meinen Hippokrates, und was Sie nicht bewirken, das wird bewirken das weiche Klima und die heiße Atmosphäre. Sehen Sie, und wenn ich alsdann ohne Husten, aber mit Ihnen, zurückkomme nach Berlin, so gehe ich in die Konferenz, wo alle die großen Herren Professoren sitzen beisammen, und spreche zu ihnen: Da bin ich kuriert von dem Herrn Doktor Arthur Lerchenfels! Da werden die Herren machen große Augen und kleine Nasen und werden Ihnen abstatten ihre Reverenz. Und damit, mein Lieber, haben Sie gemacht Ihren großen praktischen Kursus zu der Habilitation.

Arthur, von dem leisen Anfluge eines halb dankbaren, halb mitleidigen Wohlwollens berührt und einen Stich der Reue über sein grobes Betragen gegen den Marquis empfindend, fasste den Arm desselben, sobald er sich in Bewegung setzte, und führte ihn behutsam über den finstern Saal und die steile Treppe hinunter. Vor der Haustüre verabschiedete er sich mit einem stummen, aber herzlichen Drucke der alten, zitternden Hand und wollte schnell nach der Richtung des Brandenburger Tores entschlüpfen. Aber der Marquis, dessen Weg der entgegengesetzten Straße folgte, hielt ihn noch einen Augenblick zurück und flüsterte ihm vertraulich in das Ohr: Sagen Sie diesen Abend der Geheimrätin und ihrer kleinen Tochter das Adieu, welches Sie mir haben zugedacht auf morgen. Sie lassen sich herumführen an der Nase und führen sich selbst herum. Liebe! Ah mon dieu, nennen Sie das nicht Liebe. Phantasie, mein Lieber, Phantasie!

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