Deutscher Novellenschatz, Band 19

Deutscher Novellenschatz, Band 19

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 19 von 24. Enthalten sind die Novellen: Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. Schefer, Leopold: Die Düvecke, oder die Leiden einer Königin. Scheffel, Joseph Victor von: Hugideo. Tesche, Walter: Der Enten-Piet.

Deutscher Novellenschatz, Band 19

Deutscher Novellenschatz, Band 19.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 19.

ISBN eBook: 9783849661274

ISBN Taschenbuch: 9783849666811

 

Auszug aus dem Text:

Am Ufer und auf der Rhede von Bergen in Norwegen wurde die seltsamste Doppelszene gespielt.

Eine davon war diese: auf dem Schiffe, das vor dem Hafen lavierte und bei heftigem Morgenwinde ihm nur sehr allmählich näher zu kommen vermochte, stand der Herzog Christian, Kronprinz von Dänemark, mit seinem Kanzler, Erik Walkendorp, Probst von Rotschild, in vertrautem Gespräch, die Augen nach der Stadt gerichtet.

Es ist eine Narrheit! sprach der Herzog.

Hierherzugehen? Hoheit! Finden Sie auf einmal Bedenken? Es wird Sie nicht gereuen! So ein Schatz ist unschätzbar!

Nein, Hochwürdiger, entgegnete der Herzog; ich meine, es ist eine Narrheit, dass wir unter dem Joche des Regierens nicht frei umherschauen, unter dem Wuste von Schein und Scheinen nicht das Wesen ergreifen, die Masse von Vergnügen, die uns so leicht und so gern auf goldenen Tellern überall von den sklavischen Seelen dargeboten wird! Es ist eine Narrheit, dass wir uns das Leben nicht gerade zu der Zeit süß machen, wenn man es uns sauer macht, nicht gerade das Vergnügen suchen, wenn uns die Unannehmlichkeiten bedrängen! Wir müssen ein Gegengewicht haben, um uns im Gleichgewicht zu halten! Also nur vorwärts, nur Land! Nur das schöne Mädchen! Lass Andere alljährlich nach Italien, nach Rom und Neapel, Palermo und Ischia, Nizza und den hierischen Inseln gehen — zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit — auch hier an dem nördlichen Strande waltet der Liebesgott, auch hier kann man seine Gesundheit herstellen! Aber der Wind ist rasend! widerwärtig, ein Feind, dem man den Hals brechen muss; lasst das Boot aussetzen, Hochwürdiger!

Zu Befehl! Jetzt ist mir wieder wohl, versetzte der Bischof aufatmend. Aber keine Übereilung, Gnädigster! Ich würde raten, selbst morgen, ja sogar übermorgen noch nicht in das Haus zu gehen! Denn das herrliche Mädchen ist so spröde als — jung, so feinfühlend — wie die erste Liebe oder ihre Ahnung. Sie hört noch kaum der Mutter Sigbritte schlau gewogene Worte an, aber im Stillen bedenkt sie sich wohl — denn die Mädchen sind nach Ehre, das heißt, nach Geehrtsein, begierig, und was sie mit einem König oder Königssohne verbrechen, das scheint ihnen löblich und wünschenswert, denn es erregt der andern Törinnen Neid; und mehr als beneidet sein will zuletzt Keine. Darum geht heute nicht gleich hin! Lasst eine Sinnesänderung in ihr vorgehen, nämlich, lasst sie denken: Ihr mögt sie nicht! lasst sie denken: Ihr kommt nicht! Und anstatt, dass sie heut was ihrer Gesinnung angemessen und vielleicht lieb fände, fängt sie an, morgen Zweifel zu empfinden, ihren Unwert einzusehen; und kommt Ihr noch eine Nacht, noch einen Tag und noch eine Nacht nicht, dann fängt sie wohl an zu weinen, sich zu sehnen, und dann kommt Ihr, dann seid Ihr da; nahe, Ihr wohnt ihr im Herzen. Durch verlorene Tage gewinnt man Jahre. Setzt die Nacht noch ein, Ihr gewinnt sie tausendfach, Gnädigster!

Ihr habt recht, Hochwürdiger! Aber ist sie denn wirklich so schön? fragte der fünfundzwanzigjährige Herzog, vor Ungeduld glühend.

Ach, dass Eure Augen einen Augenblick Falken- oder Wildenaugen wären; denn — ich irre mich nicht, dort steht sie mit ihrer Mutter Sigbritte auf dem Altan, der in die See hinaussieht! Die Abendsonne beleuchtet gerade das Haus — ihr Gasthaus. Die Mutter hat es gekauft und mit lauter Äpfeln bezahlt, womit sie in Holland gehandelt; aber das schadet dem Mädchen nicht; denn wie heutige Äpfel noch so schön sind wie Wachs und so rotwangig wie einst im Paradiese — so schön und frisch, ja frischer ist das junge Mädchen hier, als Eva im Paradies wäre! Ihr stoßt Euch daran nicht, Hoheit!

Narrheit! sprach der Herzog.

Ihr seid sehr gnädig, und die Mutter wird außer sich sein vor Freuden.

Narrheit! sprach der Herzog noch einmal vor sich hin.

Die andere Szene war diese: Auf dem Altan des Gasthauses stand die Jungfrau Düvecke, ein ungemein schönes Mädchen, mit niedergesenkten Augen, und ein anderer hätte gemeint, sie schlage sie vor dem kraftvollen goldenen Scheine der Abendsonne nieder; aber ihre Mutter wusste, ihre einzige liebe Tochter schlage sie vor dem Anblick des Schiffes nieder; denn Düvecke sprach leise und zaghaft zu ihrer Mutter: Der Himmel will selber nicht, dass der leichtsinnige Herr zu uns kommt! Sein Wind drückt ihn zurück! O, wenn er ihn doch verschlüge, fort, weit zurück nach Island oder unter die Eisschollen, wo — —

Wo ihn ein Eisbär zerrisse und fräße! nicht wahr, du junge Närrin! sprach ihre Mutter Sigbritte vor Unmut lachend.

Närrin? fragte Düvecke gleichsam den purpurnen Abendhimmel und die heilig und rein und groß und göttlich daher schauende Sonne mehr als ihre halsstarrige Mutter.

Sigbritte aber ergriff ihre Hand, drückte sie erst bis zum Wehtun, ließ dann allmählich nach und sprach sich bezwingend: Siehe, mein Kind, du bist mein Kind, meine einzige Tochter! Wir leben nicht im Himmel, sondern hier unter den Wolken auf Erden, am unwirtbaren Meer, in der Stadt Bergen, unter Menschen, die norwegisch sprechen und deren Zuspruch wir brauchen — sonst verhungern wir; denn dein Vater hat uns durch kein nachgelassenes Vermögen über die Sorge der Millionen gemeiner Menschen erhoben, die ohne Hände und Füße den Magen verfluchen müssten, und die Mäglein ihrer Kinder, und den Frost und den Schnee und den Regen und Wind!

Aber wir haben ja gesunde Hände und Füße! meinte Düvecke.

Wir? fragte die Mutter. Du, ja; aber ich nicht. Mir kommen die berühmten Tage ganz leise geschlichen, die mir nicht gefallen und dir nicht gefallen sollten an mir! Hast du Sinn für die Wirtschaft im Hause? Schläfst du gern morgens, oder bist du die Erste auf? Geh’ ich nachts zuletzt zu Bett, oder sitzest du bis tief in die Nacht bei den Gästen, selbst bei den rohen Matrosen, die ihren Brei oder ihr elendes Leben in aller Welt hier mit Faustschlägen auf unseren Tischen austun. Muss ich nicht hören, sehen, riechen, kochen, essen, ja verschweigen, was ich nicht mag! Und wenn die hiesigen alten Götter Bier getrunken haben, so sind es gewiss derbe Flegel gewesen, wie unsere Gäste tagtäglich und nachtnächtlich beweisen, die leider nicht die Eigenschaft an sich haben, am Morgen mit gesunden Knochen und heiler Haut wieder aufzustehen, wenn sie sich bei ihrem zum Vergnügen geführten Streit in der Nacht die Hälse gebrochen! Hast du denn gar kein Mitleiden mit mir, wenn ich Blut aufwasche, oder am Morgen nicht reden kann vor Heiserkeit, wenn ich am Abend zu viel geschrien und schreien und zutrinken müssen? Hast du kein Mitleid mit mir, wenn ich mir die blauen Flecke einreibe, oder wenn ich im Winter am Fenster sitze, barme und den lieben Gott bitte: wende doch den paar Bauern da draußen das Herz, dass sie hereinkommen und ihre Paar Pfennige bei uns verzehren? Mögen sie doch einen Trödel machen; denn Krieg muss sein im Ganzen oder im Einzelnen, und der Krieg ist größer im Frieden als im nur sogenannten Krieg! Tut dir das nicht leid? Sprich doch, rede etwas, meine gute Düvecke! Für dich will ich ja eben nur sorgen — und willst du nicht, je nun, ob ich ein Paar Jahre eher sterbe oder später, aus uns wird ja so nichts!

Oh, Mutter! bat die Jungfrau.

Mutter hin, Mutter her! zürnte Frau Sigbritte, was bin ich Mutter, wenn mir das Kind nicht folgt!

In allem Guten und Ehrbaren gern, liebe Mutter! Ja, ich will auch die Frau des Schlosshauptmanns werden und treu sein, treu wie Sie ihrem Manne, meinem Vater gewesen — —

Weißt du etwas von mir? fragte Frau Sigbritte, die Tochter groß ansehend. Und wenn du denn auch des vornehmsten Mannes Tochter wärest, wenn mein Mann je was Albernes, Eifersüchtiges geschwatzt hat, wie schwache, alberne Väter kleinen unverständigen Kindern oft ihre Not klagen, könntest du nicht desto eher des vornehmsten Mannes —

Frau sein — wollen Sie nicht sagen, gute Mutter, weil Sie es nicht können; denn der Herzog, dem ich zwar gehören soll, aber er mir nicht — —

Schweig! rief Frau Sigbritte. Sieh lieber, er winkt dir jetzt mit dem weißen Tuche, da er immer schräg fahrend uns jetzt gegenüber gekommen. — Sie verneigte sich tief und sprach dann zur Tochter: Kind, welche Ehre!

O, lächelte Jungfrau Düvecke, mit angetanen Ehren meinen die vornehmen Herrn ihre Lüste gar leicht zu kaufen und schwere Dienste gar leicht und gar reichlich zu bezahlen! Aber die falsche Münze gilt bei keinem redlichen oder vernünftigen Sinne. Eine arme Tagelöhnerfrau ist reicher und ehrenwerter in ihrer Armut und höher in ihrem niedrigen Stande, als ich — —

Du? Nun ja, du! trotzte Frau Sigbritte. Herzogin oder Königin gar einmal wärest du Närrchen freilich lieber, und so eine Närrin wäre ich auch, wenn ich’s nicht besser wüsste aus Holland und aller Welt Land her! Prinzessinnenblut und Tränen sind bloßer Staatenkitt. Zum Glück sind der Prinzessinnen nur wenige gegen die Unzahl der Mädchen auf Erden. Prinzessinnen heiraten nicht, sondern werden geheiratet. Sie glauben nichts Bestimmtes, bis sie einen Gemahl haben; dann treten sie über zu dessen Glauben, des lieben albernen Volkes wegen, das da denkt: ein Herz ist ein Handschuh oder ein Polyp, der rechts und links gewandt, noch ein Handschuh oder Polyp ist und fortlebt; und wenn er umgekehrt ist — nicht mehr von dem vorigen Leder bleibt! Selbst die besten, vernünftigsten Prinzessinnen-Väter sind des Glaubens, weil sie so tun; besonders auch dieses: dass schöne Töchter in die Ferne geschickt und den Mann regierend, wie die Weiber überall, ihm wie Delilah dem Simson die Haare abschneiden, und dass man mit ihnen den fremden Boden pflügen könne. Sie haben nur Prinzen oder Prinzessinnen, aber keine Kinder; denn die Oberhofmeister und Meisterinnen haben sie. Sie verheiraten sie nicht, wie glückliche Bauern, aus das Nachbargut, wo sie an der Kinder und Kindeskinder Freuden und Leiden herzlichen Teil nehmen in allen Fällen des Lebens, sondern sie verlieren sie, hin über Länder oder Meere, und sehen sie nicht wieder und hören höchstens, wann und wie elend vor Gram sie gestorben sind mit gebrochenem Herzen, wie verkaufte Sklavinnen. Nun, da ist kein Rat, denn der Rang will behauptet sein. Aber die Männer, die Prinzen, wissen Rat. Da ist ihnen Eine die Liebe, Eine die Taube, die Krone, wie der weise Salomo sagt. Und die sollst du sein! und kein Leid von ihm erfahren dein Leben lang. Denn schöner und lieber wie du kann Niemand sein, und für alles andere lass mich sorgen und Gott im Himmel!

Gott im Himmel! sprach Jungfrau Düvecke mit gefalteten Häuten seufzend nach. Der hat schon gesorgt! fuhr sie weinend und bittend fort. Der Torbern Ore, der Schlosshauptmann, bestürmt mich seit gestern . . .

— Seit er weiß, dass der ihm gefährliche, lebenslustige, keinen Spaß verstehende Herzog kommt! schaltete Frau Sigbritte ein.

. . . und lieber will ich mich entschließen, seine Frau zu sein, wozu es ohne das nie gekommen, lieber als — —

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