Deutscher Novellenschatz, Band 20

Deutscher Novellenschatz, Band 20

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 20 von 24. Enthalten sind die Novellen: Grosse, Julius: Vetter Isidor. Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. Ungern-Sternberg, Alexander von: Scholastika.

Deutscher Novellenschatz, Band 20

Deutscher Novellenschatz, Band 20.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 20.

ISBN eBook: 9783849661281

ISBN Taschenbuch: 9783849666828

 

Auszug aus dem Text:

In der Nähe von Kiew befindet sich ein Nonnenkloster, dessen Bewohnerinnen sämtlich Malerinnen sind; doch möchten sie schwerlich vor dem Richterstuhle der Kunstkritik Gnade finden. Diese einsamen und in strenger Zurückgezogenheit lebenden Religiosen führen den Pinsel und die Palette, wie ihre Schwestern wenige Meilen aufwärts in dem neugegründeten Kloster die Nähnadeln und die Schere führen: lediglich in mechanischer Tätigkeit. Aus den Zellen unsrer künstlerischen Nonnen gehen Christusbilder, Johannesköpfe und Magdalenen- und Marien-Gestalten hervor, wie aus dem benachbarten Kloster Kattunschürzen, Florhäubchen und gestickte Mieder hervorgehen; es ist dies ein Zweig der Handgeschicklichkeit wie jeder andre. Russland hat in seinen zahllosen Kirchen und Klöstern eine Unmasse von Heiligenbildern nötig; dazu kommt, dass jede Privatwohnung, von dem Palast des russischen Großen an bis in die Hütte des Bauern hinab, eines „Obras“ (Heiligenbildes) bedarf, und um den Bestellungen und Nachfragen zu genügen, sind hier und da im Lande Heiligenbilderfabriken angelegt, wo die Schöpfung dieser stereotypen Gemälde noch viel handwerksmäßiger betrieben wird, als in den Klöstern. In diesen letzteren Behausungen kann man doch immer annehmen, dass irgend religiöser Sinn einwirkt und das tote Machwerk belebt, anders ist es aber, wo nur leidige Konkurrenz zu flüchtigen und gedankenlosen Produktionen hintreibt.

Unserm Kloster war das Privilegium, Heiligenbilder zu malen, schon sehr frühzeitig gegeben worden. Die darauf bezügliche Urkunde war verbrieft und mit der Unterschrift des großen Gregorius versehen, des zweiten Metropoliten dieses Namens, der seine bischöfliche Behausung in den Mauern von Kiew aufgeschlagen hatte, und dessen Lebensende durch die Streitigkeiten mit dem Mönche Simon getrübt wurde, der anmasslich als Nachfolger des heiligen Andreas von Nowgorod die Würden dieses Priesters sich aneignete und die Ruhe des Sprengels auf eine höchst betrübende Weise störte. Der ehrwürdige Patriarch wandte, ehe diese zänkischen Ereignisse sich in den Frieden seiner Tage mischten, einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit und seiner apostolischen Liebe den Nonnen des Klosters der heiligen Anna zu. Er schenkte dem Altar ihrer Kirche einige Messgewänder und Decken von einem, für die damaligen Zeiten, außerordentlichen Werte; dann ließ er sich herab, die Bibliothek des Klosters mit einer Anzahl von Skripturen zu dotieren, die sämtlich aus vermorschten Pergamentrollen bestanden, deren Schriftzüge Niemand mehr enträtseln konnte; ein Umstand, der nicht wenig dazu beitrug, dass man sie mit einer andächtigen Scheu betrachtete und sie gewissenhaft den Motten und dem Schimmel preisgab zur Weiterbeförderung ins Reich der Vergänglichkeit. Die Liebe des ehrwürdigen Kirchenfürsten für die Bräute Christi ging sogar so weit, dass er sein eigenes Schlafgemach eines kostbaren Heiligenbildes beraubte und dasselbe in einer eigens dazu erbauten Seitenkapelle des Klosters aufstellen ließ. Dieses Gemälde stellte den heiligen Georg vor, den Schutzpatron Russlands und unseres Patriarchen. Es war hier nicht die Rede davon, zu erkennen, als was und wie der Maler sich den Gegenstand seines Bildes ausgedacht hatte, das Ganze war ein einziger tintenschwarzer Grund, eingefasst in eine Glorie von Goldblech, die ungefähr die Formen eines Ritters zu Pferde angab, jedoch äußerst unvollständig, und zwar in der Art, wie, wenn Kinder aus einem Bilderbogen eine Gruppe herausgeschnitten haben, die übriggebliebenen Papierreste noch anzuzeigen fähig sind, ob der entnommene Gegenstand ein Pferd, ein Turm oder ein Triumphbogen war. Die Goldverbrämung dieses undeutbaren Bildes war auch unstreitig die Hauptsache; die Perlen, die Diamanten, die im Golde schwammen, die fingerlangen Buchstaben in slawonischer Sprache, die um den Rand des Bildes herumliefen, und wo ebenfalls kleine schwarze Kleckse anzeigten, dass einst kleine Miniaturen sich hier eingeschoben hatten, gaben den alleinigen Gegenstand der Bewunderung und der Verehrung her. Man zählte sieben große und siebenzig kleine Perlen; die ersteren von der Größe kleiner Haselnüsse, die letzteren wie Erbsen groß, und noch dazu eine Anzahl sogenannter Staubperlen, die immer zu einer Gruppe von zehn bis dreißig vereinigt einen Edelstein von glänzender und schöner Farbe einschlossen und somit in den Ecken Rosen bildeten, die aus dem abwechselnd matt und glänzend gearbeiteten Goldfelde erblühten. Die Märtyrerkrone des Heiligen, die von zwei noch erkennbaren Engeln in roten und fleischfarbenen Gewändern getragen wurde, bestand aus einem byzantinischen Diadem mit siebenzehn Eckzacken in Form von Kreuzen und jede in eine Spitze auslaufend, die ein Rubin vom schönsten Wasser zierte. Der Patriarch, als er auf diese Krone wies, machte die Bemerkung, dass drei dieser Steine ein Dorf von der Größe und Ausdehnung des Klostergebiets an Wert aufwögen, und dass man für die übrigen die Gerichtsbarkeit einer kleinen Stadt an sich kaufen könne. Als das Bild in Prozession ins Kloster gebracht wurde, ereignete sich das Wunder, dass eine weiße Taube, den Zug begleitend, mit in die Kirche drang und ihren Platz auf der ersten Altarstufe einnahm, wo sie neben dem diensttuenden Priester und unbekümmert um die Geschäftigkeit, die um den Altar herum herrschte, ausharrte, bis die Feierlichkeit der Einsegnung vorüber war, und sie erhob sich, als der ambrosianische Lobgesang ertönte, um, auf den makellosen Fittichen daher schwebend und gleichsam getragen von den süßen, bläulichen Wölkchen des Weihrauchs, in raschem und lieblichem Fluge die Kirche zu verlassen. Die Nonnen, die hinter ihrem Gitter dem Wunder zuschauten, erklärten die Taube für den Geist der heiligen Anna, die da gekommen war, dem herrlichen Wundertäter Georg, diesem christlichen Helden und Ritter ohne Furcht und Tadel, ihre Begrüßung in den ihr geheiligten Mauern darzubringen.

Als es bekannt wurde, dass das Bild des heiligen Georgs in dem Besitze der Nonnen war, gingen aus weiter Ferne Bestellungen ein, die eine Kopie dieses Bildes forderten. Es war dies eine schwierige Aufgabe. Etwas zu malen, was gar nicht existierte, eine Kopie von einem Gegenstand zu geben, der im Original gleichsam gar nicht vorhanden war, — man musste die guten Nonnen entschuldigen, wenn sie in diesem Falle auf seltsame Auswege gerieten. Das heilige Bild durfte nicht herabgenommen und noch weniger ganz in der Nähe mit einer profanen Aufmerksamkeit betrachtet, wohl gar durch ein Glas untersucht werden; was man jedoch aus erlaubter Ferne gewahrte, war, wie gesagt, nichts als ein schwarzer Klecks von einiger Ausdehnung. Wenn das Auge, das sich an das Dämmerlicht der Kapelle gewöhnt hatte, mit einer leidenschaftlichen und nicht ermüdenden Anstrengung hinstarrte, so wurde aus dem Dunkel ein einzelner dürftiger heller Farbenfleck bemerkbar; dies musste nun das Gesicht des Heiligen sein. Allein wenn hier sein Kopf war, so wurde damit das Pferd zu einer Größe herabgedrückt, die es wie einen mäßigen Ziegenbock erscheinen ließ, abgesehen davon, dass der unter dem Pferde befindliche Drache dann wie ein Hündchen in einer vollgepfropften Postkutsche unter den Füßen der Reisenden zusammengedrückt zu liegen kam. Diese Annahme wurde daher verworfen und der helle Punkt im Gemälde für den feuerspeienden Rachen der Untiers erklärt. Aber diese Interpretation fand auch ihre Schwierigkeiten; man wusste nicht wohin jetzt mit dem Kopfe des Ritters und mit der Figur des Pferdes; endlich, da alles Grübeln nichts half, überzog man eine Leinewand mit schwarzer Farbe und legte dann das Goldblech darauf, das man auf minutiöseste Weise in allen Ausschnitten, Ausbeugungen und Beulen wiedergab. Die Käufer waren vollkommen zufrieden. Wir haben diesen Umstand so ausführlich behandelt, weil sich hieraus der Standpunkt angeben lässt, auf dem die Kunst der Bilderfabrikation damals in unserm Kloster stand. Sie ist seitdem nicht viel höher gerückt.

Einige Jahrzehnte nach den obigen Ereignissen erlitt das Kloster einen Brand und eine Plünderung. Durch den Mut und die Aufopferung des weltlichen Schutzherrn wurden dem heiligen Hause seine Schätze und Kleinodien erhalten, allein die Mauern hatten so arge Beschädigungen hinnehmen müssen, dass die Bewohnerschaft auf ein Jahr auswandern und sich in einem ehemaligen Jagdschlosse einquartieren musste. Die Nonnen mit ihren Farbentöpfen, ihren Paletten und Staffeleien pilgerten mit Gesang aus den Ruinen ihres Klosters und zogen ebenso mit Gesang in die Hallen ein, die mit wilden Schweinsköpfen, Rehgeweihen und Bärentatzen geziert waren, und die von dem wilden Lärm einer zechenden Jagdbrüderschaft einst widerhallten. Nach wieder hergestellter Ruhe wurde in dem darauf folgenden Jahre eine Deputation nach Petersburg gesendet, und diese kehrte heim, mit Geschenken und Ehrenbezeigungen beladen. Der Ankauf von drei gutversehenen Höfen nebst einigen Bezirken Waldes war die Folge der steigenden Reichtümer des Klosters. Die Nonnen gaben jetzt das Bildermalen auf und lebten wie reiche Frauen im Schoß des Nichtstuns und der Üppigkeit fast ein halbes Jahrhundert hindurch. Dann traf in jenen unruhigen Zeiten, die der Thronbesteigung Peters des Ersten vorangingen, das Kloster aufs Neue Missgeschick und Verfolgung. Es verlor seine Schätze, und die Nonnen kehrten zu ihrer ausgespannten Leinewand und ihren Holztafeln zurück, indem sie sich von Neuem anschickten, Glorienscheine von Goldblech und Blumen aus Silberzindel zu verfertigen. Es kostete Mühe, wieder die alte Kundschaft zu erlangen und den Ruf des Klosters zu erneuen, den es in den Jahren des Müßiggangs und der Schwelgerei eingebüßt hatte, allein das glückte dennoch, und die Bestellungen liefen von Jahr zu Jahr zahlreicher ein.

Bis zu den neuesten Zeiten, in denen unsre Geschichte spielt, war das Glück und die Wohlhabenheit des Klosters im Steigen; gleichwohl war der Grad der Vervollkommnung seiner Kunstproduktionen seit Jahrhunderten immer derselbe geblieben und ist es noch an dem heutigen Tage. Ohne Zweifel ist die altbyzantinische Kunst, wie sie nach Italien überwanderte und noch den Bildern des Giotto und Cimabue kenntlich ihren Stempel aufdrückte, der Typus der russischen Heiligenbilder. Es ist die gänzliche Entfernung aller freien Bewegung, aller Individualisierung der Hauptcharakter dieser frühen Epoche. Ein langes, schmales, blasses Antlitz, stets von vorne aufgefasst, mit hellbraunen Augen, langer, dünnrückiger Nase, schmalem und geschlossenem Munde und einem von einem zierlich gekräuselten, in hergebrachter Form bald in zwei, bald in Eine Spitze auslaufenden Barte umgebenen Kinne, langem, lichtbraunem, gescheiteltem Haar — ist ein Christusbild. Eine schmale, langfingerige Hand, deren drei Finger erhoben, zwei in den Ballen der Hand niedergedrückt sind, gehört ebenfalls unerlässlich zum Bilde, ebenso wie das rote Leibgewand und der blaue Überwurf. Ein langes, schmales, weibliches Antlitz, mit eben solch hellbraunen, ausdruckslosen Augen, derselben langen und dünnen Nase, demselben dünnlippigen, geschlossenen Munde ist die Madonna. Sie trägt das Kind, das mager und unkindlich geformt ist und nach altkirchlichem Stil die Hand nach oben beschriebener Weise emporhebt. In dieser Weise folgen die Heiligen und Märtyrerinnen, genau in demselben Charakter, wenn man die völlige Charakterlosigkeit Charakter nennen kann, aufgefasst. Nur der Name und eine dazu gefügte kurze Gebetformel lässt den Beschauer erkennen, welchen Würdenträger der Legende er gerade vor sich habe. Diese Bilder werden in Kisten verpackt und zu Hunderten versendet. Sie haben ihren bestimmten Preis, wie jede andre Ware, und bei ihrer Bestellung wird nur über das Beiwerk von Metall und Schmucksachen, nie über das Bild gehandelt.

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