Deutscher Novellenschatz, Band 24

Deutscher Novellenschatz, Band 24

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 24 von 24. Enthalten sind die Novellen: Droste-Hülshoff, Annette von: Die Judenbuche. Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. Sacher-Masoch, Leopold von: Don Juan von Kolomea. Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte.

Deutscher Novellenschatz, Band 24

Deutscher Novellenschatz, Band 24.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 24.

ISBN eBook: 9783849661328

ISBN Taschenbuch: 9783849666866

 

Auszug aus dem Text:

I.

Seit Jahren liebte ich es, zur Weihnachtszeit die große Stadt trotz ihrer verlockenden Bescherungen zu verlassen, um die landschaftliche Natur in ihrem tiefen Winterfrieden zu besuchen. Wird den Kindern der holde Wahn vorgespiegelt, Christkindlein würde ihnen in der geheimnisvollen Nacht seine Gaben zwischen die Fenster legen, — wer um diese Zeit sich zu seinem Vergnügen auf das Land begibt, der späht ernsthaft nach den Gaben, welche tatsächlich von oben kommen. Ich, auf dem Lande geboren, habe stets ein Heimweh nach ihm behalten, welches mich am öftesten im Winter, inmitten der glänzendsten Gesellschaft überfällt. Es ist mir dann keineswegs darum zu tun, mein Geburtsdorf wiederzusehen, sondern nur darum, überhaupt auf das Land zu kommen. Die Weihnachtszeit gibt dazu freie Tage; ich forsche dann gerne nach den Stimmungen und Hoffnungen des Landmannes, in welchen die besten Freuden des nächsten Jahres eingeschlossen liegen, ich lasse mir sagen, ob der Schnee der weißen Weihnachten von der Art ist, um das Versprechen grüner Ostern auch wirklich zu halten. Endlich sind die Gebräuche, mit welchen die Weihnacht in manchen Bauernstuben gefeiert wird, auch nicht zu unterschätzen; um die von kunstloser Hand angefertigten, ganz von traulichem Moos umgebenen “Krippen” sammeln sich Kinder, welche dann mit dem Öchslein oder Eselein an der Brust glücklicher zu Bette gehen, als die meisten Stadtkinder, nachdem sie den Krinolinen-Umfang ihrer neuen Puppen geprüft haben.

Dieses Jahr ist das erste, in welchem ich mich zu alt fühle, um es noch einmal mit Schnee und Frost aufzunehmen. Es ist freilich auch das erste meiner Pensionierung, und wie das Amt den Verstand, so ziehe die Pensionierung das Alter nach sich. Wer nicht pensioniert wurde, weil er zu alt ist, der wird sicherlich alt werden, weil er pensioniert wurde. Nie durch Weib und Kind beglückt, nun auch zum ersten Mal eines Vergnügens meiner kräftigeren Jahre beraubt, bleibt mir in meiner Einsamkeit nichts übrig, als mir still und allein den Weihnachtsbaum des Alters anzuzünden.

Das ist natürlich der Baum der Einbildungskraft, über und über behängt mit Erinnerungen, worunter manches Spielzeug, nach welchem man aber einst ungemein ernsthaft die Hände ausgestreckt hat. Indem ich mich jedoch des Ausdrucks “Weihnachtsbaum des Alters” bediene, ist er auch schon angezündet. Denn er stammt aus dem Munde einer Person, die zu meinen liebsten, und deren Begegnung mit mir zu meinen merkwürdigsten Erinnerungen gehört.

Zu einem meiner Weihnachts-Ausflüge vor vielen Jahren wählte ich nämlich eine Gegend im südlichen Teil des Landes, nicht weil sie mir anmutiger als eine andere erschienen wäre, — die Jahreszeit gleicht solche Unterschiede aus — sondern um vielleicht meinem fürstlichen Gebieter einen großen Dienst leisten zu können. Es befand sich dort in der Nähe eines Gebirgsdorfes ein Herrenhaus, welches einer Freifrau von Börte gehörte und von ihr ununterbrochen bewohnt wurde, und in diesem Schloss ein Bild, welches mein Fürst, weil es aus französischer Schule war, aus der er am liebsten sammelte, gar zu gerne besessen hätte, wie er einst in meiner Gegenwart äußerte, wenn nur an die wunderliche Frau heranzukommen gewesen wäre, geschweige denn, dass man ihr ein Angebot hätte machen können auf einen Gegenstand, von dem man wusste, dass sie ihn zu ihren unveräußerlichen Besitztümern zählte.

Fest, aber tief verschwiegen fasste ich den Vorsatz, einen Versuch zu machen. Dadurch bekam die Art von unwissenschaftlicher Naturforschung, zu der ich jährlich den Weihnachtsurlaub benützte, einen abenteuerlichen Beigeschmack, der jedoch mein Reisebehagen weder durch Furcht noch durch Hoffnung störte. Zu letzterer war kein Grund vorhanden, und da Niemand um mein Vorhaben, bezüglich der Freifrau von Börte, wusste, so setzte ich mich auch keiner Beschämung aus, wenn es misslang. Der Plan diente also nur dazu, meinen winterlichen Spaziergang noch durch den Reiz der Phantasie zu würzen.

Es ging ein tüchtiger Sturmwind, als ich in der dritten Woche des Dezembers dem Gemeindewirtshaus des Gebirges zusteuerte. Es war in diesem Winter noch wenig Schnee gefallen, sonst hätte ich auch schwerlich so bequem bis zu dem hochgelegenen Orte Vordringen können. Allein an diesem Tage versuchte der Wind vergebens, wie es schien, dichte, graue Schneewolken auseinanderzujagen. Er hinderte sie nur im Verein mit der Kälte, ihre Flocken fallen zu lassen.

II.

Wer kein Neuling ist in den Dörfern, weiß auch in einer ihm noch neuen Gegend bald, was er zu tun hat, damit sein Erscheinen in städtischem Gewand und zu einer Zeit des allseitigen Heimbleibens nicht in allzu belästigendem Grade die glotzende Neugier der im Winter fast müßigen Bauern und das blöde Anlächeln ihrer Weiber errege. Meistens genügt es, mit dem Wirte Freund zu werden. Ich hatte ihm bald einen komplizierten Viehhandel deutlich gemacht, der mich angeblich hierherführte, und sobald der Wirt kein Zeichen gibt, dass ihn der winterliche Besuch irgendwie befremde, wird derselbe auch von den Gästen als etwas Selbstverständliches betrachtet. Wehe dem Reisenden, dem es nicht gelingt, einen längeren Aufenthalt in einer Gegend zu erklären, die in das moderne Verkehrsnetz noch nicht eingeschlossen wurde! Er wird auf eindringliche Weise erfahren, wie abscheulich die sogenannte gute alte Zeit war, die seitab von den Eisenbahnen heute noch besteht.

Will man nun gar die Leute mitteilsam machen, dann gilt es, sich völlig aufgeknöpft zu zeigen; sie müssen glauben, alle Triebfedern unserer Existenz zu kennen, seit wir in die Welt blickten. Geübt in der praktischen Ausführung dieser Regel war ich, eh’ der Abend völlig hereingebrochen war, bereits ein guter alter Bekannter in der Wirtsstube. Der Sturm draußen brauste noch zuweilen stark auf, schlief aber bald wieder ein, als wäre er selbst im Erfrieren. Der Gäste kamen und gingen nicht viele, und wenn auch manche von ihnen lange blieben, so dauerte doch ihre Bedienung keineswegs ebenso lange, sondern erlaubte der Wirtin immer wieder zu ihrem Spinnrocken zurückzukehren. Neben diesem saß ich behaglich schmauchend und brachte die Wirtin zum Reden. Ich musste die Schleuße natürlich bei ihren eigenen Angelegenheiten öffnen, wenn sie noch bei dem was mich interessierte, in Fluss sein sollte.

Eintönig, aber gerade deshalb zur Ruhe des Momentes passend, flossen ihre Reden an meinem Ohr vorüber; ich war bereits vom sechsten Wochenbette mit ihr aufgestanden und war bereit, mich zum siebenten niederzulegen. Während aber meine Aufmerksamkeit gar keinen Zweifel zu lassen schien, wie sehr ich die mütterlichen Leiden und Freuden nachempfand, sah ich doch zugleich mit Teilnahme, wie der Wirt hinter dem Schenktisch den landwirtschaftlichen Anzeiger aus der Kreisstadt zur triefenden Küchenlampe hielt und tief in der Stille forschte, wo die Vieh- und Körner-Preise verzeichnet waren, wie er dann auf den Stuhl sich warf, einnickte, aber plötzlich auffuhr, hastig nach demselben Blatte griff, als hätten sich die Preise inzwischen geändert, und wieder einnickte; wie bei jeder solchen Bewegung der große Haushund sich erhob, von Bank zu Bank schnuppernd die Runde machte und mit Ausnahme eines Winkels, den er anstarrte und wo er vielleicht den Kater zu sehen erwartete, Alles in Ordnung fand und sich wieder zum Ofen legte. Alles dies spielte sich trotz seiner Gewöhnlichkeit wie in einem Nebel der Behaglichkeit vor mir ab, bis plötzlich Wirt und Hund, Stube und Gäste vor mir zu versinken schienen, und Aug’ und Ohr sich ganz und ausschließlich auf die schwatzende Wirtin richteten. Denn sie hatte eben unversehens den Namen der Freifrau von Börte genannt, worauf ich bisher gelauert, was ich aber gerade durch eine Anfrage hervorzurufen mich wohl gehütet hatte.

Wer hat sich an Ihr Bett gesetzt, Frau Wirtin und geweint und geschluchzt? fragte ich, als ob ich den Namen nicht verstanden hätte.

Der Bräutigam der Frau von Börte, wiederholte sie, wir nennen sie nicht anders als die Freifrau, seit sie von ihrem Vater das “einödige” Schloss geerbt hat. Ehemals hat man sie natürlich die Baronin geheißen. Es ist aber bekannt geworden, dass sie diesen Titel nicht mag, seit sie einen Hausierer mit Modesachen, der immer ins Schloss gekommen und immer abgewiesen worden ist, einmal vor sich ließ, bloß weil er sagte, er wolle zur Freifrau von Börte, statt zur Baronin. Sie kaufte ihm Vieles ab, was sie nachher den Bäuerinnen geschenkt hat, und der Hausierer ist dann bei uns zu keinem Ende gekommen mit dem Erzählen, in welche Gunst es ihn gebracht, dass er ihr den Titel “Freifrau” gegeben hat. Vielleicht weil es ein ausländisches Wort ist und “Baronin” ihr schon zu gemein war. Seitdem sagt man nun überall: die “Freifrau” in der ganzen Gegend.

Es ist aber doch eine sonderbare Grille der Frau von Börte, bemerkte ich, dass sie so vielen Wert auf die Anrede legt.

Ja, sagte die Wirtin mit einer bezeichnenden Handbewegung nach der Stirne, das arme, alte Weibele! Es ist nicht ganz richtig mit ihr.

Was Sie sagen! rief ich fast erschreckt. Denn mit einer Verrückten lässt sich kein Geschäft machen, und schon der Versuch, sie zum Verkauf des Bildes zu bewegen, wäre sträflich gewesen.

Gewiss ist es freilich nicht, sagte die Wirtin und versicherte auch, dass sie die Behauptung zu einem anderen Fremden gar nicht ausgesprochen hätte; ich aber wäre wie sie Wohl sehe, ein rechtschaffener Mann und würde es nicht weitertragen. Ich erkannte, dass ich wohl getan, früher keine direkte Anfrage zu stellen, man würde mir misstrauisch jede weitere Aufklärung versagt haben. Denn aus Liebe zu der seltsamen Frau, oder um einem Auftrag von ihr zu gehorchen, war man beflissen, ihr Fremde ferne zu halten und deshalb Erkundigungen nach ihr nicht zu beantworten. Nach dem großen Fortschritt aber, den ich in dem Vertrauen meiner Wirtin gemacht hatte, durfte ich nun schon die Aufforderung wagen, mir die Schicksale und Lebensumstände der Frau von Börte zu berichten.

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