Deutscher Novellenschatz, Band 23

Deutscher Novellenschatz, Band 23

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 23 von 24. Enthalten sind die Novellen: Frey, Jacob: Das erfüllte Versprechen. Hackländer, Friedrich Wilhelm: Zwei Nächte. Horner, Heinrich [d. i. Heinrich Homberger]: Der Säugling. Wildermuth, Ottilie: Streit in der Liebe und Liebe im Streit.

Deutscher Novellenschatz, Band 23

Deutscher Novellenschatz, Band 23.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 23.

ISBN eBook: 9783849661311

ISBN Taschenbuch: 9783849666859

 

Auszug aus dem Text:

I.

An einem Frühlingsmittag des Jahres 1749 machte sich unter einem Teil der regelmäßigen Morgenbesucher des Bärengrabens in Bern, der zu jener Zeit am Ausgange der Schauplatzgasse lag und sich damals noch einer größeren Anzahl ständiger Stammgäste zu erfreuen hatte, als heut zu Tage, eine ungewöhnliche Bewegung bemerklich. Während sonst die ehrbaren Bürger gravitätisch in Schlafrock und Pantoffeln daher gewandelt kamen, um behaglich über das Grabengeländer gelehnt sich durch den Anblick des vielgeliebten Wappentieres auf das Tagewerk vorzubereiten, gingen sie jetzt, wie in unruhiger Erwartung getrieben, hin und wieder, jeden neuen Ankömmling schon von Weitem gleichsam mit Blick und Miene ausfragend. Drunten begannen die Mutzen ihre hochbewunderten Künste, um sich die gewohnten Morgenbrötchen ihrer Verehrer zu verdienen; die Alten produzierten Bittemännchen und Drehtänze, die Jungen schlugen so drollige Purzelbäume, wie sie nur der hoffnungsvollsten Bärenjugend gelingen können; aber das wollte Alles nicht hinreichen, die Aufmerksamkeit der am Geländer Auf- und Niedergehenden diesmal anzuziehen und festzuhalten. Im Gegenteil wendeten sich die Blicke der eifrig miteinander Sprechenden unablässig nach dem Erdgeschosse des nächsten Eckhauses hinüber, obwohl dort durchaus nichts Besonderes zu erschauen war, wenn man nicht etwa das schwarze Schild über der Türe, das in weißer Schrift verkündete, dass hier der ehrsame Meister Hänni seine Perücken- und Haarkräuslerkunst betreibe, als Merkwürdigkeit gelten lassen wollte. In jener Blütezeit der männlichen Perücken und kunstvoll geflochtenen und gekämmten Damenfrisuren war das nun freilich kein so unbeachtenswerter Gegenstand; doch war er heute, was er seit Jahren gewesen, und manniglich bekannt, dass Meister Hänni der geschickteste, aber auch der teuerste und deshalb nur von der Noblesse frequentierte Haarkünstler der alten Zähringerstadt sei. In allem dem konnte also auch gar kein Grund zu dem ungewöhnlichen Verhalten der Bärengrabengäste vorhanden sein.

Dagegen lag dieser in einer Mitteilung, die der Torwart am Aarberger Turme den Gevattern und Basen seiner Nachbarschaft gemacht, und was dann im Fernern mit derselben zusammenhing. Am vorgestrigen Abend nämlich kam, so lautete der Bericht, ein junger, fremder Herr durch das Tor geritten, von so durchaus vornehmem Aussehen, dass der Torwart sich gar nicht getraute, ihn um seinen Pass, um woher und wohin zu befragen. Das muss wenigstens der Abgesandte einer fürstlichen Hoheit sein, hatte er gedacht, wenn es nicht eine solche erlauchte Person selbst ist, die sich das Vergnügen macht, allein zu reisen, oder deren Gefolge erst nachkommen wird. Aber als der Fremde schon vorbeigeritten, hatte er seinen Schimmel wieder umgelenkt und den Torwart nach einer Herberge gefragt. Dieser nannte ehrerbietigst die goldene Sonne und den Distelzwang als die Gasthäuser, in denen vornehme Reisende abzusteigen pflegten. Der Fremde jedoch erwiderte, er begehre vor Allem nach der Zunftherberge, in der sich die Haarkräusler und Perückenmacher zum Abendtrunke einfänden. Aha, dachte der Torwart, die gewünschte Herberge nennend und einen bedeutungsvollen Blick auf die braunen Haare des Fremden werfend, die sich in üppiger Fülle unter dem kleinen Hute hervorrollten, hab’s auf den ersten Blick getroffen; meine Augen sind nicht umsonst seit dreißig Jahren im Dienste gewesen. Der will inkognito bleiben und sich seine Haare färben lassen oder so was, bevor er sich in Gesellschaft zeigt. Na, wollen sehen, ob es ihm gelingen wird. Bin auch kein Dummkopf, ich.

Und um dem Selbstgefühl, das durch die letzten Worte leuchtete, alsbald die richtige Geltung zu verschaffen, trat der Torwart an das nächste Haus und ließ seine Finger pochend auf ein kleines Fenster fallen. Schwerenot, Gevatter, rief er, sein Gesicht hart an die Scheiben drückend, einem Manne zu, der drinnen in der Stube mit untergeschlagenen Beinen auf einem Tische saß und emsig die Nadel handhabte, habt Ihr den vornehmen Fremden nicht bemerkt, der eben vorbeigeritten ist?

Wer ist’s … was gibt’s? fragte der andere, rasch von seinem Sitze herabspringend und das Fenster öffnend; ah … oh, nein, die verdammte Arbeit sitzt mir am Halse, dass ich kaum aufblicken darf. Den auf dem Schimmel meint Ihr?

Pscht … nicht zu laut! machte der Torwart mit geheimnisvoller Gebärde; doch wenn ich Euch raten darf, so werft Zwirn und Nadel bei Seit’ und geht zum kleinen Anker hinunter; dort wird er absteigen. Wär’ mein Junge nicht fort, ich würd’ selbst hingehen.

Ah so, so … rief der ehrsame Meister leise, indem er eilfertig mit beiden Armen in den Rock fuhr und Hut und Stock zusammensuchte, etwas Verdächtiges, etwas für die Speckkammer, meint Ihr, Gevatter Heinz?

Nichts nutz, sagte der Torwart mit pfiffiger und zugleich überlegener Miene, fehlgeschossen, Nachbar, weit fehlgeschossen; doch marschiert nur gleich ab, trinkt einen Schoppen beim Anker und haltet die Augen offen. Ihr wisst, ein solcher Gang hat Euch schon manchmal mehr eingetragen, als Nadel und Schere die ganze Woche lang, Meister Bötzlein.

Der dienstfertige Schneider vergeudete keine Zeit mehr mit Fragen; traute er sich doch zum mindesten eine ebenso feine Spürnase zu, als er sie seinem Gevatter zugestehen mochte, und so langte er denn auch richtig schon vor dem Anker an, als der Fremde eben vom Pferde stieg. Er saß auch bereits in der Gaststube hinter seinem Glase, als dieser eintrat und sich ebenfalls eine Kanne Wein bestellte. Ihr habt da ein sauberes Pferd, gnädiger Herr, sagte der Wirt zu dem Reisenden; doch scheint es etwas ermüdet zu sein.

Es ist ein braves Tier, ja, erwiderte der Fremde, dem bei den Worten des Wirtes ein feines Lächeln über das Antlitz flog, es hat eben auch einen weiten Weg gemacht.

Hundert Kronen wert unter Brüdern, denke ich.

Der Fremde trommelte eine Weile mit den Fingern auf die Fensterscheiben; dann wendete er sich wieder gegen den Wirt und sagte mit vornehmer Nachlässigkeit: Ich habe das Tier nicht mehr notwendig für die nächste Zeit; ist’s Euch anständig, so könnt Ihr’s haben um den genannten Preis, obwohl er zu niedrig ist.

Ist’s Euer Ernst, gnädiger Herr?

Versteht sich, mein voller Ernst, Herr Wirt.

Gut … ich nehm’ es, sagte dieser rasch mit übelverhehlter Freude; in einer Viertelstunde sollt Ihr das Geld haben, Junker.

Damit braucht Ihr Euch gar nicht zu eilen … gedenk’ ich doch die Nacht in Eurer Herberge zuzubringen. Wollt Ihr mir vor der Hand ein Gemach zuweisen lassen, Herr Wirt?

Als dieser von dem dienstfertigen Geleite, das er dem Fremden nach dem besten Gemache des ganzen Hauses gegeben, in die Gaststube zurückkehrte, schritt er einige Male mit raschen Schritten auf und nieder, sich vergnügt die Hände reibend, und nahm dann eine schwere Zinnkanne von dem braunen Büffet herab. He. Meister Bölzlein, schmunzelte er, das blanke Geschirr auf den Tisch stellend, heut trinkt Ihr ein Glas mit mir … heut vermag ich’s.

Ihr habt einen guten Handel gemacht … he? Hundert Kronen Profit so gut als einen Rappen, mein’ ich, und wenn ich das Pferd noch diesen Abend wieder verkaufe.

Hundert Krone[n,] schrie Meister Bölzlein, indem er alle Finger seiner beiden Hände auseinander spreizte, als wollte er sie in einem Haufen Geldes versenken, hundert Kronen! Alle Wetter, das sind viele Füchse in einer Falle. Wenn das der Fremde vermuten könnt’!

Vermuten? machte der Wirt mit einer fast geringschätzigen Miene; vermuten sagt Ihr? … Glaubt Ihr denn, ein solcher Herr, wie der droben, kenne den Wert eines Pferdes nicht besser, als Ihr ein Nadelöhr? Aber was scheren sich diese deutschländischen Grafen und Fürsten um lumpige hundert Kronen, wenn sie gerade eine Laune haben. Ich wette darauf, es hat den gnädigen Herrn nur geärgert, dass das Tier einige Ermüdung zeigte … das hatt’ ich weg, ehe er vom Sattel gestiegen war.

Ah … drum habt Ihr ihn gleich frisch an diesem Punkte angebohrt.

Na … trinkt eins, Meister Bölzlein; für was wäre man Wirt zum kleinen Anker, wüsste man nicht, wo solche Praktiken sich brauchen ließen. Wisst Ihr doch auch, wo die Schneiderhölle liegt … he? Ha, ha!

Der Schneider leerte sein Glas und lachte mit dem pfiffigsten Gesichte, das er aufzutreiben vermochte, zur Gesellschaft mit; wie alle klugen Leute wollte er nicht ohne Schein an sich fallen lassen, als ob er sich nicht so gut wie andere auf seinen eigenen Vorteil verstände. Dann aber sagte er weiter: Und Ihr haltet den Herrn wirklich für einen deutschländischen Grafen oder Fürsten und dergleichen?

Und Ihr zweifelt daran? erwiderte der Wirt, indem sich wieder ein Zug der Geringschätzung um seinen Mund legte; aber habt Ihr denn keine Augen im Kopfe? Oder habt Ihr an unsern gnädigen Herren schon solche Manieren gesehen? Solche, solche … ja, wie soll’s unsereins ausdrücken! Nein! die bringen’s ihr Leben lang nicht zu Stande, sie mögen stolzieren und sich spreizen, wie sie wollen.

Aber er hat auch nicht einen einzigen Goldring am Finger, entgegnete Bölzlein, während er sein Auge auf ein kleines Reifchen sinken ließ, das einen seiner eigenen Finger umspannte; ich hab’ genau Achtung gegeben, sobald er den Handschuh zog.

So, und Ihr meint, solche Herren brauchen derartigen Plunder auf allen Straßen herumzutragen, besonders wenn sie auch einmal für sich allein sein wollen? … Wie war’s denn mit dem französischen Marquis, der vor einem Jahre fast zwei Monate lang in meinem Hause logierte … he? Übrigens haltet davon, was Ihr wollt, Bölzlein, das ist Eure Sache; aber ich wette, wenn der Fremde nur auf einem Ziegenbock eingeritten und dafür beim Distelzwang drüben abgestiegen wäre, so ließet Ihr ihn schon ohne Widerrede für einen Kaiserprinzen gelten.

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