Deutscher Novellenschatz, Band 4
Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 4 von 24. Enthalten sind die Novellen: Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. Hauff, Wilhelm: Phantasien im Bremer Ratskeller. Kinkel, Gottfried: Margret. Mörike, Eduard: Mozart auf der Reise nach Prag.
Format: eBook/Taschenbuch
Deutscher Novellenschatz, Band 4.
ISBN eBook: 9783849660970
ISBN Taschenbuch: 9783849667375
Auszug aus dem Text:
Es war an einem schönen Junitage, das Gras lag in langen Reihen und begann unter dem Strahl der Sonne zu welken und zu duften. Die Mäher und Mäherinnen hatten sich einzeln und in Gruppen zurückgezogen; mehrere Männer ruhten am Saum des Kornfeldes, das neben der Wiese hinlief, und benutzten den schmalen Schatten der hochaufgeschossenen Ähren zum Mittagsschlaf. Ein Haufen Weiber beschäftigte sich, einen tönernen Henkeltopf, der das enthielt, was jene von der Mahlzeit übrig gelassen, mit einem hölzernen Löffel zu leeren, der reihum ging; ein paar Kinder kehrten, die in bunte und schmutzig weiße Tücher gebundenen Gefäße zum Zeichen der Inhaltlosigkeit schwenkend, nach dem Dörfchen zurück, aus welchem sie gekommen. In einiger Entfernung von den Andern saß ein hübsches Mädchen auf einem kleinen Rasenhügel, der ehedem Ameisen zur Wohnung gedient hatte, jetzt aber von duftendem Thymian überwachsen den natürlichsten Schemel bot. Auch sie schützte das Kornfeld, durch welches ein schwaches Lüftchen zog, das seinen Blütenstaub hin und her trug und den Geruch mit dem des welkenden Grases mischte. Das Mädchen hatte ihr Tuch von dem heißen Gesichte genommen und einen Haufen roter und blauer Blumen auf die abgebundene Schürze geworfen, die sie aus dem grünen Korne gepflückt, wo sie sie eben abreichen können; sie war nicht gerade schön zu nennen, aber leicht und zart gebaut, und aus dem klaren Auge strahlte eine Frische des Ausdrucks, welche an den Blick des Rehes erinnerte. Während die andern Dirnen entweder schliefen oder untereinander plauderten und mit den wenigen jüngeren Burschen schwatzten, bei denen ländliche Gefallsucht die Müdigkeit überwunden, lag nur eine einzelne Gefährtin neben ihr, und sie saß abgesondert und geringen Anteil nehmend, scheinbar in den schönen Kranz vertieft, der ihr unter den Händen wuchs; nur zuweilen blickte sie verstohlen von der Scene abwärts, die stiller und stiller ward. Das Lüftchen schwieg endlich auch und machte einer drückenden Schwüle Platz; keine Grille, kein Vogel rührte sich; die einzelnen Schmetterlinge, welche die Sense aus dem blühenden Grase verscheucht hatte, waren verschwunden und suchten Kühlung und Feuchtigkeit an der Wurzel des Kornes oder am benachbarten Quell bei den Libellen; das Geplauder der Mädchen und Knaben war verstummt, nur das Schnarchen einiger Schläfer störte noch die Mittags-Mitternachtsstunde.
Da kam ein rüstiger Bursche raschen Schritts mit einem Kruge daher. Auf seinem sonnengebräunten Strohhut steckte ein Busch Vergissmeinnicht, die er an dem kleinen Wiesenbache, ohne sich eben dabei aufzuhalten, eine gute Faust voll auf einmal abgerissen. Er nahm einen Umweg, zuerst mit dem Kruge zu der Kränzewinderin zu kommen, den er zum allgemeinen Besten da gefüllt hatte, wo die glücklichen Frösche nicht warten, bis man’s ihnen bringt. Ich bring’s Euch erst, flüsterte er, damit Ihr’s am frischesten habt. Lieschen sah ihn freundlich dankbar an, nahm den Krug, trank und wollte ihn der Nachbarin reichen; diese aber schlief ganz fest. Lasst sie, sagte Fritz, ich komme noch einmal wieder, wenn ich herum bin.
Aber er schien keine Lust zu haben wegzugehen und stand noch immer. Lieschen wurde verlegen, die Blumen fielen ihr aus der Hand, und der Kranz rückte nicht weiter. Fritz dachte nicht daran sie aufzuheben, er stand und würgte an Etwas, das ihm nicht aus der Kehle wollte. Um nur was zu sagen, bemerkte er: Ihr macht ja da einen schönen Kranz!
Ja, antwortete Lieschen und sah zu seinem Strauß auf, als wollte sie in bäuerlicher Einfalt erwidern: Ihr habt ja da einen schönen blauen Busch! Den Namen der Blumen kannte sie nicht. Fritz wusste ihn eben so wenig, aber er nahm den Hut ab, langte sie herunter und warf sie ihr in den Schoss. Da! sagte er, und seine Augen leuchteten so blau wie die Blumen. Lieschen nahm sie und band sie in den Kranz, ohne sie zu vereinzeln. Fritz stand noch immer da. Sie wagte nicht aufzusehen. Endlich sagte sie mit unsicherer Stimme: Geht doch weiter, Euer Wasser wird warm, es steht ja in der Sonne, — und scheu glitt ihr Blick wieder auf die Blumen herab.
Fritz aber ließ sein Auge in der Versammlung umherschweifen, dann bückte er sich, wie um den Krug zu fassen, wodurch seine Gestalt Lieschen vor den Blicken der Gesellschaft schirmte, im Fall es noch welche unter ihr gab — aber statt den Henkel zu ergreifen, ließ er seine Hand auf Lieschens sinken und sagte: Lieschen, willst du mich?
Lieschen erschrak über die plötzliche Werbung, wollte die Hand zurückziehen und konnte nicht, sie zuckte und zuckte, aber es ging nicht, vielleicht wandte sie nicht alle Kraft an; endlich sah sie zu Fritzens treuherzigem blauem Auge auf und senkte ihr flüchtiges braunes schnell wieder; eine große Träne hing an den Wimpern.
Fritz sah das Mädchen einen Augenblick betroffen an, dann aber überwältigte ihn eine süße Überzeugung, und in täppischer, bäurischer Freude wollte er ihr mit einem: Heida! um den Hals fallen; eben warf er seinen Hut dazu in die Lüfte, als eine raue Stimme um die Ecke des Kornfeldes rief: Aber zum Henker, wo bleibt denn der Wetterjunge mit dem Wasser? Stellt er’s da nicht auf die Erde in die Sonne und schwatzt! — Fritz nahm Krug und Hut auf und ging, Lieschen blickte nicht vom Kranze weg. Als jene eine Strecke weit waren, hörte sie sie reden und fürchtete, sie könnte der Gegenstand ihres Gesprächs sein. Aber es war nur der Durst, denn Beide standen still, der Mann nahm Fritzen den Krug aus der Hand, setzte ihn an den Mund und trank, als wolle er nie wieder aufhören. Dann gingen sie weiter. Lieschen folgte ihnen mit den Augen, Fritz sah sich nicht mehr um.
Als die Glocke vom fernen Dorfturm zwei Uhr schlug und der Laut wie erstickt durch die heiße Luft zitterte, kam der Verwalter vom nahen Gute auf der Wiese an, und die Reihen stellten sich wieder, Fritz an Lieschens Seite. Aber er sprach nicht mit ihr, doch ging er ihr zur Hand, wo er konnte, und übernahm so viel von ihrer Arbeit, wie, ohne Aufsehen zu erregen, möglich war.
Und Lieschen ging nach Hause mit den Andern, den Rechen auf der Schulter, aber im Herzen nicht wie die Andern. Die Dirnen schwatzten, sie war ganz still. Von fernher klang noch das Schärfen einer Sense durch die dunkelnde Luft, das Gezirp der Grillen verkündete einen heißen Tag. Im Dorfe kehrte die Herde eben heim, und Kühe und Schnitter langten gemischt vor den Türen an, wo die Menschen den Tieren den Vortritt ließen. Fritz wohnte am Anfange des Dorfes und verschwand zuerst; Lieschens Haus war am anderen Ende. Sie trat auf den Flur mit dem erdigen Boden, legte Hut und Rechen ab und ging in die Küche, den Milchbrei zu bereiten. Als sie das Mehl einstreute, kam ihr Schwesterchen mit dem Kranze daher, den sie von ihrem Hute genommen; sie guckte in den Topf und sagte: Süßer Brei, Lieschen? — Närrchen, antwortete diese, morgen ist Sonntag! — Ach so mache ihn doch alle Tage süß, was geht mich der Sonntag an, ich gehe ja noch nicht mit in die Kirche und aufs Feld! entgegnete die Kleine, indem sie den Kranz zerpflückte und einzelne welke Blumen ins Feuer warf. Doch Lieschen ließ den Löffel im Topfe stehen, dass die Flamme seinen langen Stiel ergriff und ihn wie gemeines Holz behandelte, setzte den Topf mit Mehl hastig neben die brennenden Töpfe und fuhr mit der noch ganz weißen Hand nach dem Kranze, den sie der Kleinen entriss. Darüber erhob diese ein großes Geschrei. Lieschen erschrak, sie dachte, die Mutter möchte kommen und Red’ und Antwort fordern, denn das Nestküchlein war ihr Liebling; sie konnte gezwungen werden, ihm den welken Kranz zu überlassen, oder man konnte wissen wollen — sie wusste selbst nicht was. Sie wandte sich schnell ab, riss den Busch Vergissmeinnicht heraus, steckte ihn in den Eimer, der im Schatten stand, und gab der Kleinen den Kranz zurück, die nach Art verzogener Kinder zwar zu schreien aufhörte, doch nun ohne Unterlass fragte: Aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben? aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben? — Dummkopf, erwiderte Lieschen, weil mein — sie wollte sagen: Hutband daran hing, du hättest es mit den Blumen ins Feuer geworfen — aber ein neues Geschrei der Kleinen sparte ihr die Notlüge. Mariechen wies auf den brennenden Löffel und rief: Der Löffel brennt; Mutter, Mutter, Lieschen lässt den Löffel verbrennen! und damit stürzte sie in die Stube. Die Mutter kam mit ihr zurück, schalt, besah den Löffel hin und her. Lieschen nahm ihn ihr hastig aus der Hand, den Brei rasch umzurühren, dass er nicht verbrenne, dabei fiel aber ein Stückchen von dem verkohlten Stiel in den weißen Brei — Mutter, sagte sie, ich kann hier nichts machen vor dem Kinde; ich bin müde von der Arbeit, und das Mariechen macht mir den Kopf noch warm mit Dummheiten. — Pack’ dich in die Stube und zieh dem Vater die Stiefeln aus! rief die Mutter, er wartet auf dich. — Die Kleine ging murrend fort, kam jedoch nach ein paar Minuten schon wieder, stellte sich dicht ans Feuer, Lieschen in den Weg, und wiederholte: Aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben? Dabei warf sie eine verwelkte Mohnblume, ein Kornblümchen nach dem andern ins Feuer und sah sie, in knisternde Funken verwandelt, den Schlot hinauffahren. Lieschen ergriff das beste Mittel, der Litanei des Quälgeists ein Ende zu machen, sie antwortete nicht.
Man setzte sich zu Tisch, und die Kleine vergaß über dem Essen, dass sie, bis sie die Mühen der Großen zu teilen im Stande sei, dieselben zu vermehren geschaffen schien. Auf einmal aber entdeckte sie in dem weißen Löffel voll Brei, den sie zum Munde führte, ein kleines schwarzes Köhlchen; der Teufel fasste sie bei dieser verwandten Materie, sie spuckte, und sobald sie den Mund wieder frei hatte, brauchte sie ihn zur Lästerung und sagte: Aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben? Aber warum sollte ich ihn denn vorhin nicht haben?
Eine zweite Kohle, die ihr zwischen die Zähne kam, erstickte die zum dritten Mal wiederholten Worte. Sie sprudelte wie eine Katze. Die hässlichen Kohlen, sagte sie, die waren einmal ein schöner Löffel; ja, ja, Lieschen! Lieschen lässt die Löffel verbrennen auf dem Herd. Sie heizen besser als Torf, nicht, Lieschen? Lässt sich auch schön Brei dabei kochen, sie leuchten gleich in den Kessel, so braucht man keine Lampe. — Der Vater, ein genauer Mann, erkundigte sich nach dem Zusammenhange dieser anklagenden Reden, und das arme Lieschen musste noch eine Strafpredigt in Gegenwart des verzogenen Schwesterchens hinnehmen. Doch sie hörte sie kaum. Der Lärm und das Gesumme des häuslichen Treibens störte ihre lieblichen Gedanken, und sie suchte sich ihnen hinzugeben. Ein paar Mal war ihr, als bewege sich ein dunkler Schatten vor dem Fenster, als müsse es Fritz sein; sie sah dahin, und der Schatten war weg; vielleicht träumte ihn nur ihr Geist. Endlich wurden die Laden geschlossen, das Feuer gelöscht; das unartige Schwesterchen lag zu den Füßen des Bettes ihrer Mutter und schlief, nur Lieschen wachte noch in ihrer Dachkammer und dachte an die Wiese, das Kornfeld, an die Blumen, an — Endlich überkam sie eine Rührung, und sie weinte, wie andere vor dem Altare weinen. Dann war ihr zu Mute als ob sie beten müsse, sie murmelte einige Worte, bis Worte und Tränen stockten und ihr Kopfkissen unter ihrem warmen, gleichmäßigen Hauche trocken ward. Draußen schwatzten die Frösche in weiter Ferne ihr Schlummerlied.
…