Die kleine Stadt

Die kleine Stadt – Heinrich Mann

Einer der bekanntesten Romane Heinrich Manns spielt in einer italienischen Kleinstadt, in der es noch die – vermeintlich – heile Welt gibt. Aber dann kommt eine Komödiantengesellschaft in die Stadt und verändert das Leben und die Einwohner nachhaltig. Alles ändert sich, und am Schluss endet dieses “Alles” in einer menschlichen Katastrophe.

Die kleine Stadt

Die kleine Stadt.

Format: Taschenbuch/eBook.

Die kleine Stadt.

ISBN Taschenbuch: 9783849668433

ISBN eBook: 9783849660109

 

Auszug aus dem Text:

 

Der Advokat Belotti trat schwänzelnd an den Tisch vor dem Café „zum Fortschritt“, wischte mit dem Taschentuch um seinen kurzen Hals und sagte erstickt:

„Die Post hat wieder Verspätung.“

„Jawohl“, machten Apotheker und Gemeindesekretär; und da nichts Tatsächliches mehr zu sagen blieb, schwiegen sie. Der Reisende warf hin:

„Ihr wird doch nichts zugestoßen sein?“

Die andern stießen unwillig den Atem aus. Der Leutnant der Carabinieri legte mit Nachsicht, weil es sich um einen Fremden handelte, die große Sicherheit der Straßen dar. Zwei seiner Leute begleiteten stets zu Pferde die Post, und nur einmal hatten sie einzugreifen gehabt. Damals wollte ein Bauer seinen Platz nicht bezahlen und zog gegen den Kutscher das Messer.

„Solche Leute haben wenig Erziehung“, erklärte der Leutnant.

„Ein langweiliges Handwerk, das eure“, rief der Apotheker Acquistapace mit seiner braven Stimme.

„Betrunkene aus dem Graben ziehen und eine entlaufene Kuh zurückscheuchen. Als wir dabei waren, gings anders zu. Wie, Gevatter Achille?“

Der Wirt rief von drinnen: „Zugegen.“

Er stampfte heraus, stützte die Last seines Bauches auf eine Stuhllehne und wartete mit offenem Munde, worin die Zunge umherrollte.

„Wie, mein Alter?“ und der Apotheker klopfte ihn auf den Bauch, „vor unseren Füßen ist manche Granate geplatzt. In Bezzecca wars, als gleich bei uns beiden der General Garibaldi selber stand. Die Granate platzt, wir springen zurück, versteht sich; der General aber rührt sich nicht; er sieht in den Dampf, als ob er sinnt. ‚Keine Furcht, Freunde‘, sagt er zu uns, und, Achille, wir hatten keine mehr.“

„Das ist die reine Wahrheit“, sagte der Wirt; und mit Wucht: „Der General war ein Löwe.“

„Er war ein Löwe“, wiederholte der andere Alte, fuhr mit der Hand durch seinen riesenhaften Schnauzbart und sah alle von oben an. Plötzlich machte er sich klein und tat eine Gebärde, als streichelte er ein Kind.

„Aber auch ein Engel war er: ja, unwissend in manchem, wie ein Engel. Manches geschah, wie, Gevatter? was er nie erfahren hat. Alle wussten, dass jener Nino ein Weib war, nur der General nicht.“

Der Advokat Belotti fragte: „War er eigentlich ein schönes Weib, jener Nino?“

Der Apotheker zischte leise. „Solche Frauen gibt es nicht mehr! Und als ihr Geliebter gefallen war, da kams heraus, dass sie eine war. Aber sie verließ uns darum nicht. Hatte sie nun ihn nicht mehr, um dessentwillen sie mitgezogen war, hatte sie doch uns alle. Und uns alle hat sie geliebt!“

Seine braunen Hundeaugen jubelten in der Erinnerung. Der Wirt lachte lautlos, dass sein Bauch den Stuhl umherwarf. Sein Sohn, der schöne Alfò, war herzugetreten, der junge Savezzo mit frisch gebrannten Locken vom Barbier her über den Platz gekommen; — und alle, alle hatten, wie der Alte endete, ein neidisches Gesicht.

Gleich darauf erinnerten sie sich, dass die Geschichte sehr alt war und dass sie alle, sogar der Reisende, sie kannten, wie sie die Hühnerlucia kannten. Ihre Stunde war da: schon klapperten ihre Holzschuhe in der Gasse neben dem Café. Mit ihrem Gegacker, das lauter war als das der Hennen, mit ihrer Nase, die schärfer war als die Hühnerschnäbel, flügelschlagend mit ihren langen Armen, scheuchte sie das Federvieh zum Brunnen und ließ es aus der Pfütze trinken. Die Kinder kreischten um sie her, stießen sie, zupften an ihr und sprangen vor Lust, wenn die Alte in ihren bunten Lappen wie ein großes mageres Huhn kopflos kreuz und quer flatterte. Ringsum gingen Fensterläden auf; an der Ecke schräg vor dem Café drängten über den Arkaden des Rathauses drei Beamte sich in eins der alten Pfeilerfenster; die dicke Mama Paradisi sah aus ihrem Hause herab; dahinten im Corso sogar streckte Rina, die kleine Magd des Tabakhändlers, den Kopf heraus, und dem Advokaten Belotti schien es, dass sie ein neues Halstuch trage. Er überlegte nicht ohne Unruhe, wer ihr nun das wieder geschenkt haben könne. Inzwischen schloss die Kleine ihr Fenster, Mama Paradisi das ihre; die Hühnerlucia und all ihr Lärm waren bis morgen dahin in die Gasse; und der Platz schlief weiter in seiner weißen Sonne, winklig beleckt von den Schatten. Der des Palazzo Torroni, am Eingang des Corso, lief spitz hinüber zum Dom, und vor der buckligen Kirchenfront malten die beiden säulentragenden Löwen ihr schwarzes Abbild aufs Pflaster. Wildgezackt sprang der Schatten des Glockenturmes bis an den Brunnen vor. Neben dem Turm aber wich das Dunkel zurück, tief in den Winkel, worin man das Haus des Kaufmannes Mancafede wusste. Kaum dass die Umrisse seiner Fenster zu erkennen waren; — hinter einem stand aber sicher auch jetzt, wie sie immer dort stand, die Unsichtbare, das Rätsel der Stadt: Evangelina Mancafede, die niemals ausging und dennoch alles wusste, was geschah, es früher als alle wusste. In der Stadt tat jeder, was er tat, unter den Augen der Unsichtbaren. Durch alle Häuser am Platze schien sie, aus ihrem Schattenwinkel hervor, hindurchsehen zu können: nur eins verdeckte ihr der Turm, den Palazzo Torroni. Auch hieß es, dass sie von dort nichts wissen wollte, dass ihr Vater und ihre Magd — denn sonst erblickte niemand sie — den Namen des Barons vor ihr nicht nennen durften, seit er, den sie geliebt hatte, die andere geheiratet hatte. Seitdem ging sie nicht mehr aus! Sie war damals vierundzwanzig gewesen und war jetzt dreiunddreißig. „Eine schöne Frau“, wisperte der Advokat dem Reisenden ins Ohr. „Vom Stillsitzen soll sie junonische Formen bekommen haben.“

Seine Hände, die diese Formen nachbilden wollten, ließ er rasch wieder sinken, denn zweifellos sah sie ihn. Der Reisende fragte:

„Ist sie, seit ich zuletzt hier war, noch immer nicht ausgegangen?“

„Was denken Sie!“

Alle bekamen gekränkte Mienen.

„Sie verspricht es, sooft der Alte es will, dann lässt er ihr schöne Kleider kommen, sogar von Rom her, denn schließlich ist sie das reichste Mädchen hier und hätte hunderttausend Lire mitbekommen; lädt ihre ehemaligen Freundinnen ein, bestellt den Wagen zur Ausfahrt . . . Die Stunde ist da, der Wagen mit den Freundinnen steht vor dem Hause, Evangelina in ihren schönen Kleidern steigt die Treppe hinab. In der Mitte aber hält sie an, sagt ‚Nicht heute, ein anderes Mal‘ und geht zurück in ihr Zimmer.“

Mehrere lugten aus den Augenwinkeln hinüber nach dem geheimnisvollen Hause. Unten, wie in schwarzer Höhle, glomm ein Licht, und vor seinem Laden ging der Kaufmann hin und her: langsam immer hin und her. Die Gäste des Cafés „zum Fortschritt“ konnten ihm zusehen und bei seiner Bewegung fühlen, dass die Zeit vergehe.

Der Apotheker erhob sich, denn ein Kunde war bei ihm eingetreten: der Junge des Gastwirtes Malandrini. Was konnte bei Malandrini vorgefallen sein? Gewiss handelte es sich um die Frau, die der Tabakhändler erst gestern mit dem Baron Torroni in ziemlich verdächtiger Unterhaltung gesehen hatte. Wer weiß, was sie jetzt aus der Apotheke brauchte. „Nun —?“ und alle Blicke sogen an dem alten Acquistapace, der, sein hölzernes Bein schwingend, zurückkam.

„Die Schwiegermutter hat Sodbrennen.“

Alle Köpfe senkten sich.

„Wenig Bewegung ist hier am Ort“, sagte der Leutnant der Carabinieri zu dem Reisenden und nickte hinüber, wo sich der Kaufmann Mancafede hin und her bewegte. Der Reisende wollte höflich den Ort entschuldigen, aber der Advokat Belotti sagte erstickt:

„Was kann man tun, wenn diese verdammte Post eine Stunde Verspätung hat! Sonst sähe hier vielleicht alles anders aus. Denn schließlich — sagen wir nur die Wahrheit! — können doch jeden Tag die größten Dinge geschehen. Die Stadt steht vor Ereignissen, die . . .“

„— nicht eintreten“, schloss der Gemeindesekretär und lehnte sich zurück, um seine Taille zu zeigen.

„Wer sagt Ihnen das?“

Der Advokat fuchtelte, bevor er sprechen konnte.

„Bin nicht etwa ich der Vorsitzende des Komitees und muss ich nicht als erster wissen, ob etwas geschieht, ob etwas, sage ich, geschehen kann?“

„Bevor die Post da ist?“

„Die Post! Die Post, mein Herr, war schon öfter da. Die Post hat zum Beispiel mir: verstehen Sie wohl, mein Herr, mir dem Vorsitzenden des Komitees, einen Brief ihrer Exzellenz der Frau Fürstin Cipolla gebracht, mit der gütigen Erlaubnis der Frau Fürstin, das Schlosstheater zu benutzen für die Vorstellungen der Truppe, die wir, das Komitee, hierher zu verschreiben gedächten. Und das war bereits kein geringer Erfolg, wenn Sie bedenken —“

Der Advokat wendete sich zum Reisenden; einen seiner mürben Finger, die ihn älter machten als sein Gesicht, reckte er hinter sich, wo die Treppengasse zum Kastell hinaufbog.

„— dass das Theater seit fünfzig: seien wir genau, seit achtundvierzig und dreiviertel Jahren unbenutzt steht, nämlich seit der Vermählung des armen Fürsten . . .“

„War die Vorstellung gut, Advokat?“ fragte beißend der Gemeindesekretär. „Sie haben doch schon damals den Impresario gemacht? Denn wann waren Sie untätig? Gewiss nicht einmal in den Windeln.“

Und der Advokat, mit verächtlichem Achselzucken:

„Des armen Fürsten, um den ihre Exzellenz noch trauert. Darum darf ich auch die Bewilligung unseres Gesuchs mir ganz persönlich zuschreiben und dem Umstande, dass ich der Sachwalter der Frau Fürstin bin.“

„Aber der Kapellmeister?“ fragte sein Gegner. „Sollte nicht auch er einiges Verdienst haben? Alfò, sage unserm Freunde, ob du und die andern alle in der ‚Armen Tonietta‘ eure Instrumente spielen könntet, wenn nicht unser Maestro Dorlenghi wäre!“

„Wer leugnet seine Tüchtigkeit? Übrigens zahlt die Gemeinde ihm hundert Lire monatlich und die Kirche fünfzig. Aber scheint es den Herren nicht, dass wir auf die Künstler, die er uns verschaffen wollte, recht lange warten müssen?“

„Ich wette, dass sie heute in der Post sitzen werden!“ rief der Apotheker. Der Advokat bezweifelte es.

„Vielleicht werde ich als Vorsitzender des Komitees mich noch selbst nach ihnen umsehen müssen. Wer weiß, wohin ich fahren werde: bis nach Rom vielleicht.“

„Aber Advokat,“ sagte der Gemeindesekretär, „was verstehen Sie vom Theater?“

„Ich? Sie vergessen, Herr Camuzzi, dass ich in einer Stadt wie Perugia studiert habe. Dort hatten wir oft genug eine Truppe von Komödianten, und wir Studenten verkehrten mit ihnen, kann ich den Herren sagen, nicht anders, als ich mit Ihnen verkehre. Die Choristinnen: ah! ich sage nur dies Wort, die Choristinnen . . . Natürlich hatte auch die Primadonna den ihren, aber man musste reich sein, sehr reich; ich erinnere mich, ein Herr aus der Stadt gab ihr dreihundert Lire im Monat. Begreifen Sie das? Dreihundert Lire für eine Frau!“

Da der Advokat in lauter achtungsvolle Gesichter sah, blühte er auf. Er öffnete seinen schwarzen Rock, obwohl keine Weste darunter war. Die Arme in der Luft gerundet, mit rauen gelben Manschetten, die bis über die Korallenknöpfe herausfielen, und mit einer Flüsterstimme, aus der manchmal ein heiseres Bellen brach:

„Aber so ist die große Welt: man muss sie kennen. Die Herren Künstler sind die großartigsten von allen. Man hat keinen Begriff von dem Leben, das diese Schauspieler und Literaten führen. Jede Nacht Champagner, schöne Weiber, soviel sie mögen, und nie vor zwölf aus dem Bett.“

„Als ich in Forlì stand,“ sagte der Leutnant der Carabinieri, „zeigte man mir einen Maler, der zwei Fiaschi trinken konnte. Freilich war er ein Deutscher.“

„Wozu auch,“ schloss der Advokat, „da sie spielend mehr Geld verdienen, als sie brauchen, und keine Sorgen haben. Für uns Bürger ists anders eingerichtet auf der Welt. Aber es ist nicht übel, dass es auch Menschen gibt, die ein so leichtes Leben haben, nach Herzenslust über die Stränge schlagen dürfen und immer guter Laune sind. Haben wir erst einige der Art hier bei uns, wird es lustig werden.“

…..

 

 

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