Die Möwe (Neuübersetzung)

Die Möwe (Neuübersetzung) – Anton Tschechow

“Die Möwe” wurde 1895 geschrieben und 1896 uraufgeführt. Das Werk gilt allgemein als das erste von Tschechows vier großen Stücken. Es handelt von den romantischen und künstlerischen Konflikten zwischen vier Personen: dem berühmten Erzähler Boris Trigorin, der naiven Nina, der gealterten Schauspielerin Irina Arkadina und ihrem Sohn, dem symbolistischen Dramatiker Konstantin Treplev. Wie die anderen abendfüllenden Stücke Tschechows beruht auch “Die Möwe” auf einem Ensemble verschiedener, voll entwickelter Charaktere. Im Gegensatz zum Melodrama des Mainstream-Theaters des 19. Jahrhunderts werden reißerische Handlungen (wie Konstantins Selbstmordversuche) nicht auf der Bühne gezeigt. Die Charaktere neigen dazu, in ihrer Sprechweise eher Themen zu umgehen, anstatt diese direkt anzusprechen; mit anderen Worten, ihre Zeilen sind voll von dem, was in der Dramatik als Subtext bekannt ist. Die Figur des Trigorin gilt als eine von Tschechows größten männlichen Rollen.

Die Möwe (Neuübersetzung)

Die Möwe (Neuübersetzung).

Format: eBook/Taschenbuch.

Die Möwe (Neuübersetzung).

ISBN eBook: 9783849662066

ISBN Print: 9783849666033

 

Auszug aus dem Text:

 

1. Aufzug

 

[Schauplatz ist der Park auf SORINS Anwesen. Eine breite, von Bäumen bestandene Allee führt von den Zuschauern weg zu einem See, der im hinteren Teil des Parks liegt. Die Allee selbst ist mit einer grob zusammengezimmerten Bühne verbaut, die vorübergehend für die Aufführung von Laienschauspielen errichtet wurde und den Blick auf den See verdeckt. Links und rechts der Bühne wuchert dichtes Gebüsch. Ein paar Stühle und ein kleiner Tisch stehen vor dieser Bühne. Die Sonne ist gerade untergegangen. Man hört JAKOB und einige andere Arbeiter auf der Bühne hinter dem heruntergelassenen Vorhang hämmern und husten].

[MASCHA und MEDWIEDENKO kommen von einem Spaziergang zurück und betreten die (große) Bühne von links].

MEDWIEDENKO. Warum trägst du ständig Trauerkleidung?

MASCHA. Ich kleide mich schwarz, weil diese Farbe meinem Leben  entspricht. Ich bin unglücklich.

MEDWIEDENKO. Warum solltest du unglücklich sein? [Denkt nach] Ich begreife es nicht. Du bist gesund, und dein Vater ist zwar nicht reich, aber sehr tüchtig und geschickt. Mein Leben ist viel härter als deines. Ich habe zwar nur dreiundzwanzig Rubel im Monat zum Leben, aber ich trage keine Trauerkleidung. [Beide setzen sich]

MASCHA. Glück hängt nicht von Reichtum ab; arme Menschen sind oft glücklich.

MEDWIEDENKO. In der Theorie ja, aber nicht in der Wirklichkeit. Nimm zum Beispiel mich: Meine Mutter, meine beiden Schwestern, mein kleiner Bruder und ich müssen alle irgendwie von meinem Gehalt von dreiundzwanzig Rubeln im Monat leben. Wir müssen essen und trinken, wenigstens das. Oder willst du etwa, dass wir auf Tee und Zucker verzichten? Oder auf Tabak? Beantworte mir das, wenn du kannst.

MASCHA. [Sieht in Richtung der Holzbühne] Das Stück wird bald beginnen.

MEDWIEDENKO. Ja, Nina Zarietchnaya wird in Treplieffs Stück mitspielen. Sie lieben sich, und ihre beiden Seelen werden sich heute Abend in dem Bemühen vereinen, denselben Gedanken mit verschiedenen Mitteln zu interpretieren. Es gibt keinen Boden, auf dem sich deine und meine Seele treffen könnten. Ich liebe dich. Ich bin zu ruhelos und traurig, um zu Hause zu bleiben. Jeden Tag laufe ich sechs Meilen hierher und wieder zurück, nur, um von deiner Gleichgültigkeit empfangen zu werden. Ich bin arm, meine Familie ist groß, und natürlich ist es für dich nicht reizvoll, einen Mann zu heiraten, der nicht einmal genug zu essen für sich selbst findet.

MASCHA. Das ist es nicht. [Nimmt eine Prise Schnupftabak] Ich bin gerührt von deiner Zuneigung, aber ich kann sie nicht erwidern, das ist alles. [Sie bietet ihm die Schnupftabakdose an] Willst du auch etwas?

MEDWIEDENKO. Nein, ich danke dir. [Eine Pause]

MASCHA. Es ist ziemlich schwül; heute Nacht braut sich wohl ein Sturm zusammen. Du hast nichts anderes im Sinn, als zu moralisieren oder über Geld zu reden. Für dich ist die Armut das größte Unglück, das einem Menschen widerfahren kann, aber ich denke, es ist tausendmal einfacher, in Lumpen betteln zu gehen, als – aber das würdest du sowieso nicht verstehen.

[Auftritt SORIN, auf einen Stock gestützt, und TREPLIEFF].

SORIN. Aus irgendeinem Grund, mein Junge, passt das Landleben nicht zu mir, und ich bin sicher, dass ich mich nie daran gewöhnen werde. Gestern Abend bin ich um zehn ins Bett gegangen und heute Morgen um neun aufgewacht, weil ich das Gefühl hatte, dass mein Gehirn vor lauter Schlaf an meinem Schädel zu kleben beginnt. [Lacht] Und doch bin ich nach dem Abendessen unbeabsichtigt wieder eingeschlafen und fühle mich in diesem Moment völlig fertig. Es ist ein echter Albtraum.

TREPLIEFF. Es besteht kein Zweifel, dass du in der Stadt leben solltest. [Erblickt MASCHA und MEDWIEDENKO] Man wird euch rufen, wenn das Stück beginnt, meine Freunde, aber ihr dürft jetzt nicht hier bleiben. Geht bitte.

SORIN. Fräulein Mascha, würden Sie freundlicherweise Ihren Vater bitten, den Hund nicht mehr anzuketten? Er hat letzte Nacht so laut geheult, dass meine Schwester nicht schlafen konnte.

MASCHA. Sie sollten selbst mit meinem Vater sprechen. Ich bitte um Verzeihung, aber ich kann das nicht tun. [Zu MEDWIEDENKO] Komm, lass uns gehen.

MEDWIEDENKO. Ihr sagt uns Bescheid, wenn das Stück beginnt?

[MASCHA und MEDWIEDENKO ab].

SORIN. Ich weiß jetzt schon, dass der Hund wieder die ganze Nacht heulen wird. Das ist auf dem Lande einfach so; ich habe hier nie so leben können, wie es mir gefällt. Ich komme für einen Monat Urlaub hierher, um mich etwa auszuruhen und so, und muss mich mit solchem Unsinn herumschlagen, sodass ich schon nach dem ersten Tag gute Lust habe, wieder abzuhauen. [Lacht] Eigentlich habe ich mich immer gefreut, wieder von diesem Ort wegzukommen, aber jetzt, wo ich im Ruhestand bin, ist dies der einzige Ort, der mir verbleibt. Irgendwo muss man ja leben.

JAKOB. [Zu TREPLIEFF] Lass uns schwimmen gehen, Konstantin.

TREPLIEFF. In Ordnung, aber ihr müsst in zehn Minuten zurück sein.

JAKOB. Das werden wir, mein Herr.

TREPLIEFF. [Betrachtet die Bühne] Wie in einem richtigen Theater! Siehst du, da haben wir den Vorhang, den Vordergrund, den Hintergrund, es ist alles da. Wir brauchen noch nicht einmal eine künstliche Kulisse. Das Auge schweift direkt zum See und ruht auf dem Horizont. Der Vorhang wird sich heben, wenn der Mond um halb neun aufgeht.

SORIN. Prächtig!

TREPLIEFF. Natürlich wird der ganze Effekt ruiniert, wenn Nina zu spät kommt. Sie sollte schon längst hier sein, aber ihr Vater und ihre Stiefmutter bewachen sie so gut, dass es leichter wäre, einen Gefangenen aus dem Gefängnis zu befreien, als sie von zu Hause wegzuholen. [Richtet SORINS Kragen aus] Dein Haar und dein Bart sind ja ganz zerzaust. Wolltest du sie nicht kürzen lassen?

SORIN. [Glättet seinen Bart] Sie sind das Trauerspiel meines Lebens. Selbst als ich jung war, sah ich immer aus, als wäre ich betrunken oder so. Die Frauen haben mich nie gemocht. [Setzt sich] Warum ist meine Schwester so außer sich?

TREPLIEFF. Warum? Weil sie neidisch und gelangweilt ist. [Setzt sich neben SORIN] Sie spielt heute Abend nicht –Nina schon, und deswegen ist sie neidisch auf alles, auf die Aufführung des Stücks und auf das Stück selbst, das sie hasst, ohne es je gelesen zu haben.

SORIN. [Lachend] Tut sie das wirklich?

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