Onkel Wanja (Neuübersetzung)

Onkel Wanja (Neuübersetzung) – Anton Tschechow

“Onkel Wanja” wurde erstmals 1898 veröffentlicht und 1899 vom Moskauer Kunsttheater unter der Leitung von Konstantin Stanislawski uraufgeführt. In dem Stück geht es um den Besuch eines älteren Professors und seiner glamourösen, viel jüngeren zweiten Frau Jelena auf dem Landgut, das die Grundlage für ihren städtischen Lebensstil darstellt. Zwei Freunde – Wanja, der Bruder der verstorbenen ersten Frau des Professors, der das Gut seit langem verwaltet, und Astrow, der örtliche Arzt – geraten beide in Jelenas Bann und beklagen gleichzeitig die Langeweile ihres provinziellen Lebens. Sonja, die Tochter des Professors mit seiner ersten Frau, die mit Wanja zusammenarbeitet, um das Gut am Laufen zu halten, leidet unter ihren unerwiderten Gefühlen für Astrow. Die Situation spitzt sich zu, als der Professor ankündigt, dass er das Gut, Wanjas und Sonjas Zuhause, verkaufen will, um mit dem Erlös ein höheres Einkommen für sich und seine Frau zu erzielen.

Onkel Wanja (Neuübersetzung)

Onkel Wanja (Neuübersetzung).

Format: eBook/Taschenbuch.

Onkel Wanja (Neuübersetzung).

ISBN eBook: 9783849662073

ISBN Print: 9783849666040

 

Auszug aus dem Text:

 

1. Aufzug

[Ein Landhaus auf einer Erhebung des Geländes. Davor ein Garten. In einer Baumallee, unter einer alten Pappel, steht ein gedeckter Tisch für den Tee, darauf ein Samowar, etc. Neben dem Tisch einige Bänke und Stühle. Auf einem davon liegt eine Gitarre. In der Nähe des Tisches wurde eine Hängematte angebracht. Es ist drei Uhr nachmittags an einem bewölkten Tag].

[MARINA, eine stille, grauhaarige, kleine alte Frau, sitzt am Tisch und strickt einen Strumpf. ASTROFF geht neben ihr auf und ab].

MARINA. [Gießt etwas Tee in ein Glas] Trink ein wenig Tee, mein Sohn.

ASTROFF. [Nimmt widerwillig das Glas an] Irgendwie ist mir nicht danach.

MARINA. Dann möchtest du stattdessen ein wenig Wodka?

ASTROFF. Nein, ich trinke nicht jeden Tag Wodka –außerdem ist es viel zu heiß dafür. [Eine Pause] Sagen Sie, Schwester, wie lange kennen wir uns schon?

MARINA. [Nachdenklich] Lassen Sie mich kurz nachdenken – wie lange mag das sein? Herr, hilf mir, mich zu erinnern. Sie kamen das erste Mal hierher in unsere Gegend – ich muss überlegen – wann war das? – Sonjas Mutter lebte noch – es war zwei Winter, bevor sie starb; und das war vor elf Jahren – [nachdenklich] vielleicht auch mehr.

ASTROFF. Habe ich mich seither sehr verändert?

MARINA. Oh, ja. Sie waren damals hübsch und jung; nun sind Sie ein alter Mann und nicht mehr hübsch anzuschauen. Außerdem trinken Sie.

ASTROFF. Ja, zehn Jahre haben mich zu einem anderen Menschen gemacht. Und warum? Weil ich überarbeitet bin. Marina, ich bin vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung auf den Beinen. Ich kenne keine Ruhe; nachts zittere ich unter meiner Decke aus Angst, herausgerufen zu werden, um einen Kranken zu besuchen; seit wir uns kennen, habe ich Jahre lang geschuftet, ohne mich auszuruhen oder einen Tag freizumachen; kann ich etwas dafür, dass ich alt werde? Obendrein ist das Dasein sowieso langweilig; es ist ein sinnloses, schmutziges Geschäft, dieses Leben, und so schwergängig. Alle Menschen hier sind töricht, und wenn man zwei oder drei Jahre mit ihnen zusammenlebt, wird man selbst töricht. Das ist unvermeidlich. [Zwirbelt seinen Schnurrbart] Sehen Sie nur, was für ein langer Schnurrbart mir gewachsen ist. Ein alberner, langer Schnurrbart. Ja, ich bin so töricht wie alle anderen, Schwester, aber nicht so blöd; nein, ich bin nicht verblödet. Gott sei Dank ist mein Gehirn noch intakt, obwohl meine Gefühle abgestumpft sind. Ich verlange nichts, ich brauche nichts, ich liebe niemanden, bis auf Sie natürlich. [Küsst ihren Kopf] Als ich noch ein Kind war, hatte ich eine Amme wie Sie.

MARINA. Wollen Sie nicht einen Bissen essen?

ASTROFF. Nein. In der dritten Woche der Fastenzeit musste ich wegen einer Epidemie raus nach Malitskoi. Dort tobte ein sehr ansteckender Typhus. Die Bauern lagen nebeneinander in ihren Hütten, und die Kälber und Schweine liefen zwischen den Kranken herum. Was für ein Dreck, und welch ein Rauch! Unbeschreiblich! Ich schuftete den ganzen Tag für diese Leute, kein Krümel ging mir über die Lippen, aber als ich nach Hause kam, kam ich immer noch nicht zur Ruhe; ein Weichensteller war von einem Zug erfasst worden; ich legte ihn auf den Operationstisch, wo er unter Betäubung in meinen Armen starb. In diesem Moment erwachten meine Gefühle, die eigentlich abgestorben hätten sein sollen, wieder, und mein Gewissen quälte mich, als hätte ich den Mann getötet. Ich setzte mich hin und schloss die Augen – etwa so – und dachte: Werden unsere Nachkommen in zweihundert Jahren, für die wir gerade den Weg eben, ein freundliches Wort für uns übrighaben? Nein, Schwester, sie werden es vergessen haben.

MARINA. Der Mensch vergisst, aber Gott nicht.

ASTROFF. Ich danke Ihnen für diese Worte. Sie sind sehr, sehr wahr.

[Auftritt VOITSKI, der aus dem Haus kommt. Er hat nach dem Essen etwas geschlafen und sieht ziemlich zerzaust aus. Er setzt sich auf die Bank und rückt seinen Kragen zurecht].

VOITSKI. Hm. Ja. [Eine Pause] Ja.

ASTROFF. Haben Sie geschlafen?

VOITSKI. Ja, sehr lange sogar. [Gähnt] Seit der Professor und seine Frau hier sind, scheint unser tägliches Leben aus den Fugen geraten zu sein. Ich schlafe zur falschen Zeit, trinke zu viel Wein und esse mittags und abends alle möglichen Schweinereien. Das ist nicht gesund. Früher haben Sonja und ich zusammen gearbeitet und waren nie untätig, aber jetzt arbeitet sie allein, während ich nur noch esse und trinke und schlafe. Da stimmt doch etwas nicht.

MARINA. [Schüttelt den Kopf] So ein Chaos im Haus! Der Professor steht erst um zwölf Uhr auf, der Samowar kocht den ganzen Morgen, und alles muss auf ihn warten. Bevor die beiden kamen, haben wir um ein Uhr zu Mittag gegessen, wie alle anderen auch, aber jetzt essen wir erst um Sieben. Der Professor sitzt die ganze Nacht wach und schreibt und liest, und plötzlich, um zwei Uhr, klingelt es! Um Himmels willen, was ist das? Der Professor will einen Tee! Weckt die Dienerschaft, zündet den Samowar an! Mein Gott, was für ein Chaos!

ASTROFF. Werden sie lange hier bleiben?

VOITSKI. Hundert Jahre! Der Professor hat beschlossen, sich hier niederzulassen.

MARINA. Schaue sich das einer an! Der Samowar steht seit zwei Stunden auf dem Tisch, und sie gehen einfach alle spazieren!

VOITSKI. Schon gut, regt euch nicht auf; da kommen sie ja.

[Man hört sich nähernde Stimmen. SEREBRJAKOW, ELENA, SONJA und TELEGIN kommen aus den Tiefen des Gartens und kehren von ihrem Spaziergang zurück].

SEREBRJAKOW. Großartig! Wunderbar! Was für herrliche Aussichten!

TELEGIN. Sie sind prächtig, Eure Exzellenz.

SONJA. Morgen werden wir in den Wald gehen, nicht wahr, Papa?

VOITSKI. Meine Damen und Herren, der Tee ist fertig.

SEREBRJAKOW. Seien Sie bitte so gut und schicken Sie meinen Tee in die Bibliothek. Ich habe noch einiges zu erledigen.

SONJA. Ich bin sicher, du wirst den Wald lieben.

[ELENA, SEREBRJAKOW und SONJA gehen ins Haus. TELEGIN setzt sich neben MARINA an den Tisch].

VOITSKI. Da geht unser weiser Gelehrter hin – an einem heißen, schwülen Tag wie diesem, in Mantel, Golfschuhen und mit einem Regenschirm!

ASTROFF. Er achtet eben sehr auf seine Gesundheit.

VOITSKI. Wie hübsch sie ist! Wie anmutig! Ich habe in meinem Leben noch nie eine schönere Frau gesehen.

TELEGIN. Wissen Sie, Marina, wenn ich auf den Feldern oder im schattigen Garten spazieren gehe, wenn ich auf diesen Tisch hier schaue, schwillt mein Herz vor unendlicher Freude. Das Wetter ist bezaubernd, die Vögel singen, wir alle leben in Frieden und Zufriedenheit – was könnte sich die Seele mehr wünschen? [Nimmt sich ein Glas Tee]

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