Diplomatie und Weltkrieg

Diplomatie und Weltkrieg – Graf Julius Andrassy

Dies ist eines der interessantesten und wertvollsten Bücher in der Flut der Literatur, die den Ersten Weltkrieg behandelt, denn es ist nicht, außer vielleicht im letzten Abschnitt, eine Apologie, sondern eine gründliche Untersuchung der Ursachen der großen Katastrophe und des Zusammenbruchs Österreich-Ungarns. Es ist sicherlich eine der großen Ironien der Geschichte, dass der jüngere Andrássy als letzter Außenminister der Doppelmonarchie das Instrument für die Auflösung des Systems war, das sein brillanter Vater weitgehend geschaffen und geleitet hatte. War dieses Schicksal verdient? Bei der Betrachtung der Ansichten des Autors muss berücksichtigt werden, dass er, obwohl er lange Zeit in der ungarischen Politik tätig , nur selten im Amt war, und er behauptet nicht zu Unrecht, dass er die Dinge anders gehandhabt hätte. Dennoch schreibt er ohne Groll, außer in Bezug auf Graf Michael Károlyi, erzählt viel bisher nicht Bekanntes und trifft viele durchdringende Urteile und treffende Phrasen, für die der Historiker dankbar sein wird.

Diplomatie und Weltkrieg

Diplomatie und Weltkrieg.

Format: Taschenbuch/eBook

Diplomatie und Weltkrieg.

ISBN: 9783849662608 (eBook)

ISBN: 9783849665593 (Taschenbuch)

 

Auszug aus dem Text:

 

Erstes Kapitel. Unsere Kriegsmotive

Zu jener Zeit, als in den Straßen von Sarajevo die Revolverschüsse knallten, die mehr Blutvergießen und größere Verheerungen zur Folge hatten als jemals vorher irgendeine einzelne menschliche Tat, und als die Monarchie entschlossen war, mit den Folgen dieses Mordes abzurechnen, stand ich dem Kabinett Tisza in schärfster Opposition gegenüber. Dennoch unterstützte ich diese außenpolitische Aktion der Regierung. Die große Masse der Nation tat dasselbe. Die erste Frage, über welche ich Rechenschaft zu legen habe, ist demnach die, welche Ursachen uns geleitet haben, als wir ein energisches Auftreten gegen Serbien unterstützten.

Während vor der napoleonischen Koalition und seit dem Zerfall der nach Napoleon zustande gekommenen Heiligen Allianz die Geschichte Europas auf der unabhängigen Politik und gegenseitigen Konkurrenz der einzelnen Großmächte basierte, lebten wir seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wieder in einem Zeitalter der großen Bündnisse.

Europa war in zwei Lager geteilt. In der internationalen Politik dominierte nicht das gegenseitige Verhältnis der unabhängigen Völker, sondern jenes der beiden großen Staatengruppen. Das Ziel dieser Mächtegruppierungen war die Sicherung des Friedens, das Mittel dazu war die Schaffung des Gleichgewichtes der Mächte. Und dennoch war die Folge dieses Systems der Ausbruch eines Krieges von solchen Dimensionen, wie ihn die Weltgeschichte nicht gekannt hat. Obzwar ich überzeugt bin, dass dieses System den europäischen Frieden länger erhalten hat, als das Konzert der voneinander unabhängigen Staaten es hätte tun können, glaube ich doch, dass dieses Konzert der Staaten niemals zu einem Zusammenstoße von solchem Umfange hätte führen können wie das System der großen Bündnisse.

Die mit dem System der großen Bündnisse sich entwickelnden riesigen Rüstungen konnten unmöglich ins Unendliche gesteigert werden. Es war vorauszusehen, dass, wenn diese Rüstungen keinen Abschluss finden, wenn sie nicht an einer wirtschaftlich erträglichen Grenze haltmachen, sie nach einer vielleicht noch langen, aber doch nicht unbegrenzten Zeitdauer zum finanziellen Zusammenbruch, zur Weltrevolution oder zum Weltkrieg führen müssen. Nur eine internationale Vereinbarung, welche die Rüstungen einschränkt, wäre imstande, die Katastrophen zu verhindern. Es muss als ein Misserfolg der europäischen Diplomatie bezeichnet werden, dass eine solche Lösung nicht gefunden wurde.

Wenn wir die heutige furchtbare Weltkrise begreifen wollen, müssen wir vor allem prüfen, wie die Staatengruppen sich bildeten und wie sich das Verhältnis unter ihnen vergiftete.

Den ersten Anstoß zum System der Bündnisse gaben die führenden Staatsmänner Deutschlands und Ungarns: Bismarck und Andrassy, indem sie das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis im Jahre 1879 abschlössen. Andrassy wollte jedoch bei diesem Bündnisse stehenbleiben. Die Tripelallianz war nicht sein Werk und war überhaupt keine Folge der Initiative österreichischer oder ungarischer Staatsmänner. Andrassys Grundgedanke war die Verteidigung gegen die russische Gefahr, und er fürchtete, dass die Einbeziehung Italiens den Anschein hätte, als würde seine Kombination sich gegen Frankreich richten. Auch fürchtete er, dass der Anschluss Italiens zur Bildung einer russisch-französischen Allianz führen würde. Er hielt vom Standpunkt der Monarchie ein Tête-à-Tête mit Deutschland für vorteilhafter als eine Tripelallianz, in welcher Italien und Deutschland einander näherstehen und das ohnehin große Übergewicht Deutschlands durch diesen Umstand nur noch gesteigert würde. Er hätte es vorgezogen, dass England der Dritte im Bunde sei. Es gelang ihm auch, England, noch bevor das Zweierbündnis zustande kam, der Monarchie näherzubringen. Auf dem Gebiet der Orientpolitik entstand ein Parallelismus zwischen England und uns. Beim Entwurf des Defensivabkommens mit Deutschland telegraphierte Andrassy dem Kaiser Franz Joseph (31. August 1879), England wäre von diesem Abkommen zu unterrichten und wenn möglich, wie es Bismarck hoffte, auch neizuziehen. — Leider ist diese Idee nicht verwirklicht worden.

Nach der Demission Andrassys näherte sich Italien uns, dem “Erbfeind”, aus dem Grunde, weil Italien die Freundschaft Deutschlands brauchte und der Weg nach Berlin über Wien führte. Italien wollte zu jener Zeit das Bündnis mit Deutschland deshalb erwerben, weil Frankreich in Tunis seine alten Pläne kreuzte und weil die öffentliche Meinung in Italien einsah, dass Italien alleinstehend seine Interessen nicht wahrnehmen und im Mittelländischen Meere keine entsprechende Machtposition erlangen könnte.

Infolge des Anschlusses Italiens gewann das Dreierbündnis eine gegen Frankreich gerichtete Spitze, was Andrassy vermeiden wollte, Bismarck aber von Anfang an beabsichtigte. Im Jahre 1879 wollte Andrassy unter keinen Umständen die von Bismarck verlangte Verpflichtung übernehmen, dass Österreich-Ungarn im Falle eines Angriffes Frankreichs das Deutsche Reich unterstützen solle, weil er befürchtete, dass Frankreich dies als eine Drohung auffassen und dadurch in die Arme Russlands getrieben werden könnte. Als Bismarck ihn in diese Richtung drängte, erklärte er, lieber auf die Verwirklichung des Bündnisses verzichten zu wollen.

Nach dem Zustandekommen des Dreierbündnisses erstand sogleich die Gefahr, dass Frankreich und Russland sich trotz des Gegensatzes, welcher zwischen der Republik und dem Zarismus herrschte, verbünden würden. Bismarck fühlte dies und arbeitete dem entgegen, indem er mit Russland freundschaftliche Beziehungen unterhielt, die für uns schädlich waren. Trotzdem gelang es ihm nicht, eine Annäherung der beiden Staaten zu verhindern. Schon im Jahre 1888, zur Zeit der Kanzlerschaft Bismarcks, kommt die erste große französische Anleihe zustande, die ein Symptom der politischen Intimität und der erste, vorbereitende Schritt zur französisch-russischen Allianz war.

Ungarn wollte das abgeschlossene Dreierbündnis aufrechterhalten, weil Ungarn seit dem Jahre 1848 Sympathien für Italien bewahrte und weil angesichts des zustande gekommenen französisch -russischen Gegenbündnisses die Sicherung des Gleichgewichtes ohne den Anschluss Italiens unmöglich gewesen wäre. Der von uns verschmähte Verbündete hätte sich der feindlichen Mächtegruppe angeschlossen. Das treue Festhalten an dem geschlossenen Bündnis involviert aber keine Verantwortlichkeit für den Abschluss des Bündnisses.

Die beiden Mächtegruppen hätten übrigens friedlich nebeneinander leben können; ein Zusammenstoß zwischen ihnen war nicht unbedingt notwendig. Es ist wohl wahr, dass Frankreich sich mit dem Verlust von Elsass-Lothringen niemals befreundete und mit der ganzen Wucht des französischen Patriotismus an der Hoffnung auf Revanche hing; es ist auch wahr, dass Gambetta der französischen Mentalität den richtigen Ausdruck verlieh, als er sagte, dass Frankreich stets an Elsass-Lothringen denken müsse, aber niemals davon sprechen dürfe. Eine aufrichtige und sichere Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland war nicht denkbar; allein in Anbetracht der größeren Macht Deutschlands war nicht zu befürchten, dass Frankreich bei seiner sichtlich zunehmenden Friedensliebe einen Krieg ausschließlich wegen Elsass-Lothringens beginnen würde. In der ersten Zeit des Dreierbündnisses war der Gegensatz zwischen Frankreich und Italien am schärfsten. Wenn dieser Gegensatz damals einem anderen Konflikt begegnet wäre, hätte der Krieg nicht vermieden werden können; da aber ein solcher Konflikt sich nicht ergab, wurde der Friede durch die italienische Frage nicht gestört.

Auch die Orientfrage führte nicht notwendigerweise zu einer Katastrophe. Mit dieser Frage will ich mich gründlicher beschäftigen, denn sie birgt das Maß der Verantwortlichkeit Ungarns für den Krieg in sich, und sie wurde der Ursprung des Weltkrieges.

Seitdem die türkische Rasse ihre Offensivkraft eingebüßt hatte, war die Expansion Russlands, im Bunde mit dem Panslawismus und mit der Orthodoxie, die Hauptgefahr für den ungarischen Staat. Schon Peter der Große suchte Fühlung mit jenen Serben, die vor der türkischen Verfolgung nach Ungarn geflüchtet waren. Seither hatte der russische Zar die ganze orthodoxe und slawische Welt immer mehr unter seine Protektion genommen. Diese ständige Gefahr war seit dem Krimkriege, welcher die russischen Ambitionen zurückdrängte, in den siebziger Jahren wieder akut geworden, als Ignatiew den Petersburger Hof von neuem zu einer aktiven Orientpolitik drängte. Nach den Siegen der russischen Armeen schien es, als würden die russischen Zaren ihre alten Träume verwirklicht sehen und erreichen, dass das Doppelkreuz auf der Hagia Sophia aufgerichtet und die Christenheit des Balkans von Moskau aus regiert werde.

Wäre die Konzeption Ignatiews gelungen, so hätte das für die österreichisch -ungarische Monarchie eine unmögliche Situation hervorgerufen. Die Monarchie wäre so wirtschaftlich wie politisch lahmgelegt worden, wenn Cettinje, Belgrad, Warschau und Moskau unter eine Leitung geraten wären. Sie wäre gleichsam von einem eisernen Ring umschlossen gewesen; ihre innere Widerstandskraft wäre dem Zerfall preisgegeben. Der Irredentismus hätte aus dem Übergewicht des Zarismus neue Kräfte gewonnen. Die in der panslawistischen Idee sich bergende Gefahr wurde durch Ignatiew selbst enthüllt, der in seinen Memoiren aufrichtig eingesteht, sein Ziel sei keineswegs die Bildung von selbständigen slawischen Staaten, sondern die Vereinigung des gesamten Slawentums unter der Führung des Zaren, zur Vernichtung des Deutschtums und Österreich-Ungarns. Als’ Werkzeug zur Erreichung dieses Zieles wollte Russland damals Großbulgarien benutzen, welches gegen den Willen der Türken, der Serben, der Griechen und der Rumänen zustande kommen sollte und, den Feindseligkeiten aller seiner Nachbarn ausgesetzt, unter russischer Leitung stehend, vollständig auf Russlands Unterstützung angewiesen, eine russische Dependenz geworden wäre.

Im Gegensatz hiermit befolgte England wie auch unsere Monarchie eine Politik, die auch die Interessen der übrigen Balkanstaaten vor Augen behielt und die Türkei in einem solchen Kräftezustande erhalten wollte, dass sie im Besitze der Meerengen und Konstantinopels verbleibe, dabei die Unabhängigkeit der einzelnen christlichen Völker des Balkans gesichert werde, ohne dass irgendeines dieser Völker ein künstliches Übergewicht über die anderen erlange. In großen Zügen ist dieses Programm auf dem Berliner Kongress zur Geltung gekommen.

In den Kreisen unserer Feinde ist es zur Mode geworden, die späteren Wirrnisse des Balkans auf den Berliner Vertrag zurückzuführen. Diese Beschuldigung ist jedoch ganz und gar ungerecht. Der Berliner Vertrag war nicht die Ursache, sondern eine Folge der Wirrnisse des Balkans. Man kann gegen diesen Friedensvertrag höchstens den Einwand erheben, dass es ihm nicht gelang, die Orientfrage zu lösen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass es im Jahre 1878 unmöglich war, eine solche Regelung zu finden, welche dieses Ziel erreicht hätte. Dass die damalige russische Lösung, nämlich das Übergewicht Bulgariens, ohne den hartnäckigen Widerstand der benachbarten Staaten nicht zu erreichen war, das beweisen alle Ereignisse, die seit dem Berliner Kongresse eingetreten sind: der bulgarische Krieg und der letzte Balkankrieg, ja sogar auch der Weltkrieg, in welchem Serbien lieber sein Dasein auf das Spiel setzte, als Bulgariens Herrschaft in Mazedonien zu dulden. Eine solche Formel der mazedonischen Frage, welche die bulgarischen, griechischen und serbischen Wünsche gleichmäßig befriedigt hätte, konnte weder damals noch seither gefunden werden. Das Tendenziöse dieser Kritik wird am besten durch die Tatsache bewiesen, dass gerade diejenigen dem Berliner Vertrag die Schuld beimessen, die heute dasselbe tun, was der Berliner Kongress getan hat: sie bekämpfen die Suprematie Bulgariens.

Ich glaube übrigens, dass auch die gegenwärtige Regelung der Balkanfrage keine endgültige sein wird. Bulgarien hat für das im Vertrage von San Stefano vorgezeichnete Großbulgarien so viel Blut vergossen, dass es heute weniger auf dieses Ideal wird verzichten wollen als je vorher.

Die Schwierigkeiten des Balkanproblems sind die folgenden: Bei den Balkanstaaten fehlen die traditionellen, geschichtlichen und fehlen die natürlichen Grenzen. Das staatbildende Prinzip bei ihnen ist ausschließlich die Nationalität, doch sind auf dem Balkan die Rassen so sehr durcheinandergemischt, dass dieses staatbildende Prinzip zu einer Quelle fortwährender Zwistigkeiten wurde. Die Grundlage eines gesunden staatlichen Lebens ist ein zusammenhängendes, wirtschaftlich zusammengehöriges Gebiet mit natürlichen Grenzen und einer einheitlich fühlenden Bevölkerung. Auf dem Balkan sind das Nationalitätenprinzip, welches sich unbedingte Geltung verschaffen will, und die übrigen staatbildenden Faktoren nicht in Harmonie, daher die ewigen Zwistigkeiten. Der Balkan wird von selbst kaum zu einem dauernden Frieden gelangen. Nur eine Föderation könnte einen solchen Frieden ermöglichen, dazu ist aber der gegenseitige Hass zu groß, das gegenseitige Verständnis zu gering und das Bildungsniveau unzureichend. Die Festigung des Weltfriedens könnte auch den Frieden des Balkans festigen, nicht aber umgekehrt. Der Balkan bleibt eine Achillesferse des Friedens. Unter solchen Umständen ist es eine krasse, ungerechte Beschuldigung, wenn man die auf dem Balkan entfesselten Stürme jener Politik zuschreibt, welche wir im Berliner Vertrag zur Geltung gebracht haben.

Wie verhält es sich nun aber mit der serbischen Frage? Ist es wahr, dass der serbisch-österreichisch-ungarische Widerstreit die Veranlassung der Weltkatastrophe war und in der Okkupation von Bosnien-Herzegowina seinen Ursprung hatte? Auch bei dieser Frage kann ich nur das Gesagte wiederholen. Der Beschluss des Berliner Kongresses ist eine Folge der akuten Krise in der serbischen Frage, ein Lösungsversuch, nicht aber die Quelle der Krise.

Diejenigen, die die Quelle des Gegensatzes in dem vom Berliner Kongress unserer Monarchie erteilten Mandat erblicken, berufen sich darauf, dass die Serben naturgemäß nach dem Besitze von Bosnien-Herzegowina strebten, dass sie schon in der Vergangenheit für die Befreiung dieser Länder Opfer brachten, dass wir also, indem wir in diese einzogen, die natürlichen Wege Serbiens kreuzten und sein Volk zu unserem Feinde machten.

Alle diese Tatsachen sind wahr, aber die Folgerung ist eine irrtümliche. Die Gegensätze sind nicht daraus entstanden, dass wir mit der Okkupation von Bosnien-Herzegowina die Wege Serbiens kreuzten; sondern wir haben Bosnien und die Herzegowina okkupiert, weil Serbien nicht nur nach dem Besitze dieser Länder strebte, sondern auch nach dem Besitze von Gebieten, die von alters her der Monarchie gehörten. Die Überlassung von Bosnien-Herzegowina würde die Serben nicht befriedigt haben, wäre vielmehr für sie nur ein neuer Ansporn gewesen, mit verdoppelter Energie nach dem Meer zu streben und die Hand auch nach Dalmatien und Kroatien auszustrecken. Es ist wahr, dass die Aufstände der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung gegen das türkische Regime von Serbien und Montenegro unterstützt wurden, aber es ist nicht minder wahr, dass schon in den sechziger Jahren Miletics eine großserbische Politik befolgte, und zwar auf Kosten der Gebietsintegrität Ungarns. Wahr ist endlich auch, dass der Aufstand der Crivoscie in Dalmatien gleichfalls von Montenegro genährt wurde, in der Hoffnung, dass diese Landesteile sich den Schwarzen Bergen anschließen werden. Je mehr sich Serbien dem Meer genähert hätte, umso eifriger wäre sein Bestreben gewesen, das Meer auch zu erreichen. Ein Serbien, das sich bis zur Grenze von Dalmatien erstreckt, konnte auf Zara, Ragusa-Cattaro noch weniger verzichten als ein Serbien, dessen Grenze die Drina war. Je mehr die Möglichkeit der Vereinigung der Südslawen an Wahrscheinlichkeit gewann, umso stärker musste die Sehnsucht nach dieser Vereinigung in Belgrad sein. Eine lange kroatische und dalmatinische Grenze, die nicht verteidigt werden konnte, würde nur den Irredentismus gekräftigt und die Lage der Monarchie zu einer unerträglichen gemacht haben.

Wir haben Bosnien und die Herzegowina besetzt, um unseren Weg zum Meer und unseren alten Besitzstand in Dalmatien gegen die großserbische Idee zu verteidigen. Die großserbische Idee ist nicht eine Folge der Okkupation, sondern die Okkupation war ein Mittel der Verteidigung gegen die großserbische Idee.

Die ganze Aktion war übrigens keine Herausforderung, war kein gegen Serbien gerichteter Akt, war nicht verletzend für die serbische Staatlichkeit. Bosnien und die Herzegowina waren ja kein serbischer Besitz, wir nahmen diese Länder nicht Serbien weg, sondern der Türkei. Nicht serbische Bewohner widersetzten sich unseren Truppen, sondern die mohammedanischen Grundbesitzer und die mohammedanische Demagogie. Hadzsi Loja stachelte den muselmanischen Fanatismus auf, nicht aber das großserbische Gefühl. Serbien hätte einen weit größeren Widerstand überwinden müssen als wir, wenn es Bosnien hätte besetzen wollen, weil zu jener Zeit die militärische Gewalt völlig in den Händen der Türkei lag. Die Monarchie erschien nicht als Eroberer in Bosnien-Herzegowina, sondern als ein Schützer der Zivilisation und der Christenheit, mit dem Beruf, dort Ordnung zu machen. Keine einseitige Aktion, keine Machtberechnung leitete die Monarchie nach Sarajevo und nach Mostar, sondern Europa hatte auf dem Berliner Kongress auf Vorschlag Englands einhellig ausgesprochen, dass nur wir in der Lage seien, dort die Ruhe und die Ordnung herzustellen.

Der in Berlin revidierte Vertrag von San Stefano war für Serbien nicht günstig. Dieser Vertrag beließ Bosnien und die Herzegowina unter türkischer Herrschaft, obgleich diese Herrschaft dort nicht aufrechterhalten werden konnte. Die genannten Länder hingen nur zur See mit Konstantinopel zusammen. Es war sicher anzunehmen, dass diese unglücklichen Provinzen der Schauplatz blutiger Unruhen blieben. Russland behandelte den König Milan sehr unsanft, begünstigte hingegen Bulgarien. Auf dem Berliner Kongress wurden Serbien solche Gebiete zugesprochen, welche Russland für Bulgarien bestimmt hatte. Der Berliner Kongress schuf keine Gegensätze zwischen Serbien und Österreich-Ungarn, im Gegenteil, als er die Macht Österreich-Ungarns in der Nähe Serbiens steigerte, schützte er zugleich die Interessen Serbiens. Serbien leitete denn auch die Konsequenzen der neuen Lage ab; es gab seiner Politik eine neue Richtung und befolgte anstatt der früheren russischen Politik eine österreichisch-ungarische Politik. Der Berliner Vertrag war nicht die Ursache jenes Zerwürfnisses, welches zwischen uns und Serbien später eintrat, er brachte uns vielmehr unserem Nachbar näher. Die Serben fühlten, dass im Orient unser Wille maßgebend sein werde, deshalb glichen sie sich mit uns aus.

Unsere Feinde verbreiteten und glaubten es leider auch, dass wir außer Bosnien und der Herzegowina auch noch Albanien und Mazedonien erobern wollten, und dass Saloniki das Ziel der Politik Andrassys sei. Davon ist kein Wort wahr. In der Konzeption Andrassys war für Eroberungsgelüste kein Raum. Er wollte nur die wirtschaftlichen Verbindungen und den politischen Einfluss für uns sichern, darum legte er so großes Gewicht darauf, dass Serbien und Montenegro den Sandschak Novibazar nicht unter sich aufteilen, dass sie uns nicht von dem Südbalkan abschließen und dass wir nicht von einem südslawischen Reich eingeschlossen seien. In seiner Konzeption lag aber nichts, was die nach einem unabhängigen und friedlichen Leben strebenden Balkanstaaten gefährdet hätte. Der Grundgedanke seiner Politik war, dass die Monarchie ihren Einfluss zum Schutze der Freiheit der einzelnen Staaten gebrauchen möge, auch wollte er sie ebenso gegen die Übergriffe und die väterliche Protektion des Zaren wie gegen die eventuellen Revanchegedanken des Sultans schützen. Dabei wünschte Andrassy eine solche wirtschaftliche Politik zu befolgen, welche uns dem Balkan näherbrächte und einen lebhaften wirtschaftlichen Verkehr zwischen uns fördern würde. Er wollte nicht erobern, hatte doch die Monarchie ohnehin zu viele fremde Nationalitäten, überdies wohnten die in Frage kommenden Völker in schwer zugänglichen Berggegenden, waren aus der Feme nur schwer zu regieren, ihre Erwerbung wäre daher ein schlechtes Geschäft gewesen.

Die Machtposition, die wir seit dem Berliner Vertrag eingenommen hatten, trug denn auch in den achtziger Jahren ihre Früchte. Bulgarien, welches die Russen befreit, es jedoch in seiner freien Entwicklung behindert hatten, suchte zur Zeit des Battenbergers und Stambulows Schutz bei der Monarchie. Als Serbien einen Krieg mit Bulgarien begann, ist es Fürst Khevenhüller, unser Gesandter, der Serbien rettete. Der Beherrscher Montenegros nahm von unserem Monarchen ein fixes Jahresgehalt an.

Leider konnten wir diese Situation nicht völlig ausnutzen. Infolge der Einführung von Agrarzöllen und unserer energielosen Haltung in der bulgarischen Frage verloren wir viel von der Sympathie und dem Prestige, welches wir dadurch erworben hatten, dass wir zur Zeit des russischtürkischen Krieges trotz der russischen Siege unserem eigenen Programm Geltung zu verschaffen wussten. Doch trotz unserer Fehler blieb unsere Lage eine solche, dass die Entwicklung des Balkans den Frieden nicht gestört haben würde, wenn nicht die Weltlage eine Änderung erfahren und die neue politische Konstellation neue Energien jenem großserbischen Gedanken zugeführt hätte, den wir zwar zurückgedrängt hatten, aber nicht ganz aus der Welt zu schaffen vermochten.

Die hier gekennzeichnete Orientpolitik der Monarchie musste nicht zu einem ständigen Gegensatze zwischen uns und Russland führen. Nicht Andrassy war es, der den russischen Revanchegeist heraufbeschwor. Seine Politik war auch Russland gegenüber in allen Stücken loyal. Russland war in Berlin aus dem Grunde in eine Situation der Demütigung geraten, weil es seine uns gegebenen Versprechungen nicht einhielt. Bevor Russland sich zu dem Orientkriege entschlossen hat, kam ein Vertrag zwischen Russland und uns zustande folgenden Inhalts: Russland werde die Folgen des russisch-türkischen Krieges nicht allein bestimmen, sondern die Frage vor den Areopag Europas bringen, Russland wird keinen solchen christlichen Staat schaffen, welcher die übrigen Balkanvölker gefährden und auf dem Balkan eine künstliche Suprematie ausüben könnte; endlich wird Österreich-Ungarn, wenn der Status quo nicht aufrechterhalten werden könnte, Bosnien und die Herzegowina annektieren. In dem Vertrage von San Stefano geriet Russland mit diesen Abmachungen in Widerspruch. Diese Abmachungen kamen in Berlin zur Geltung. Andrassy wollte keineswegs Russlands schwierige Lage zur Demütigung dieses Reiches ausnutzen, wollte auch keineswegs sich selbst Ruhm und seinem Lande vergängliche und gefährliche Vorteile sichern. Lebhaft erinnere ich mich jener kritischen Zeiten, als der europäische Friede an einem Haar hing, als Russland die von ihm übernommenen Pflichten verletzte und fraglich wurde, ob es so weit nachgeben würde, dass eine Vereinbarung zustande kommen könnte. Mein Vater rechnete unbedingt auf einen leichten Sieg. Die russische Armee, durch einen zweijährigen Krieg geschwächt, stand vor Konstantinopel einem noch aktionsfähigen türkischen Heer und England gegenüber, mit unserer Wehrmacht im Rücken.

Rumänien, das sich durch den Verlust Bessarabiens verletzt fühlte, hielt zu jener Zeit mit uns. Mein Vater sagte mir oft, dass, wenn es in dieser Situation zu einem Kriege käme, die gefangene russische Armee sicherlich über die Ringstraße ziehen würde. Er glaubte zuversichtlich, dass sein Ruhm demjenigen Cavours und Bismarcks gleichkommen würde, aber einen Krieg wollte er nicht. Auch sagte er oft: Russland kann nicht auf einen Schlag vernichtet werden wie ein gefährliches feindseliges Individuum, es überlebt seine Niederlage und wird zu einem Rachekriege rüsten. Die in ihren Hilfsquellen schwächere Monarchie wird erschöpft sein, bevor es zu einem neuen Zusammenstoße kommt. Deshalb suchte mein Vater eine Lösung, welche keine unwiderruflichen Interessengegensätze zwischen uns und Russland schaffen würde.

Anfänglich war die Erbitterung in Russland natürlich groß, doch lastete das Odium hauptsächlich auf Bismarck, von dem man erwartet hatte, dass er im Interesse Russlands einen Druck auf uns ausüben werde. Nachdem aber die Monarchie die russische Nervosität damit beantwortete, dass sie ein Schutzbündnis mit Deutschland abschloss; nachdem ferner der innere Friede Russlands durch den Nihilismus gefährdet erschien, konnte und wollte Russland keine ernste Revanchepolitik verfolgen, so dass nach nicht gar langer Zeit das frühere Verhältnis zwischen unserer Monarchie und dem Zarenreich wiederhergestellt war. Schon im Jahre 1881 kam eine Vereinbarung zwischen den beiden Kabinetten zustande, und im Jahre 1884 hatten die beiden Monarchen eine Begegnung in Skierniewice.

Die Harmonie wurde im Jahre 1888 durch die bulgarische Frage wieder gestört; dieses neue Zerwürfnis entsprang aber nicht dem Gefühl der Revanche oder dem Entschlüsse, den Berliner Vertrag umzustoßen. Die Ironie des Schicksals fügte es, dass die Ursache des Konfliktes gerade der Umstand wurde, dass Russland sich bemühte, jene Vergrößerung Bulgariens, welche es in Berlin gegen unseren Widerstand forcierte, zu verhindern. Der russische Zar exponierte sich für den Vollzug des Berliner Vertrages, was meine Behauptung bestärkt, dass die von Andrassy, Bismarck und Beaconsfield ins Leben gerufene Schöpfung keinen dauernden Gegensatz zur slawischen Welt begründete. Nach diesem längere Zeit währenden Zwist wurde in der Orientpolitik die Harmonie zwischen unserer Monarchie und Russland wiederhergestellt (1892 — 1908).

Das Verhältnis der beiden Staatengruppen zueinander nahm erst dann eine gefährlichere Wendung, als zu den bisherigen Gegensätzen sich auch der englisch-deutsche Gegensatz gesellte, welcher die in allen übrigen Fragen sich bergende Spannung steigerte.

Die Politik Andrassys und Disraelis hatte England und Österreich-Ungarn einander nähergebracht. Gladstone entzweite uns zwar wieder, allein Salisbury stellte die frühere Harmonie wieder her. Für die Auffassung des letzteren Staatsmannes ist es bezeichnend, dass er im Jahre 1879 über das deutsch-österreichisch-ungarische Bündnis sich dahin äußerte, es sei eine “glückliche Nachricht”; und dass er später, als Ministerpräsident des Britenreiches, in der bulgarischen Frage entschlossen auf unserer Seite stand und mit uns gemeinsam gegen die überspannten russischen Ansprüche kämpfte.

Im Jahre 1887 kam zwischen England, Italien und Österreich-Ungarn eine Vereinbarung in Betreff der Unabhängigkeit Bulgariens zustande. Als England in demselben Jahre seine Flotte verstärkte und die These aufstellte, dass dieselbe mindestens so stark sein müsse als die nachfolgenden zwei stärksten Flotten zusammen, dachte es in erster Reihe an die Flotte Frankreichs. England geriet zu jener Zeit in einen akuten Gegensatz zu Frankreich wegen gewisser kolonialer Interessen in Afrika und Asien, so dass England, obgleich in keinem direkten Vertragsverhältnis zum Dreibunde, diesem dennoch näherstand als der russisch-französischen Allianz und in den großen Fragen der Weltpolitik seine Stimme meistens zu unseren Gunsten erhob.

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