Ein Erbe am Rhein – René Schickele
“Ein Erbe am Rhein” ist das Hauptwerk des elsässischen Autors. Er begleitet eine Adelsfamilie durch die schwere Zeit von ca. 1900 bis 1930 und spinnt daran bereits sein eigenes Bild eines geeinten Europas.
Format: eBook
Ein Erbe am Rhein.
ISBN eBook: 9783849657093.
Auszug aus dem Text:
Ich habe ihr geschrieben und sie gebeten zu kommen. Der Brief liegt verschlossen vor mir. Ich entsinne mich kaum seines Wortlauts. So behält man von einer tiefen Liebesstunde nur die Erinnerung an eine traumhafte Begebenheit … Ich bitte sie in dem Brief, zu mir zu kommen, soviel ist gewiß. Werde ich ihn absenden? Durfte ich ihr denn überhaupt so zügellos schreiben, sie so bitten, nach jener Trennung in Mailand und einem zweijährigen Schweigen? Bedeutet ein solcher Brief nicht dasselbe wie ein nächtlicher Einbruch in ihr Schlafzimmer? Sie erwartet mich nicht, ich weiß nicht, wie sie lebt, ob einsam oder nicht, ob zufrieden oder nicht, ich weiß nichts von ihr als den Namen der römischen Straße, worin das Familienhaus der Capponi steht. In den zwei Jahren ist sie für mich eine Fremde, bin ich ein Fremder für sie geworden, ärger, als es ein Toter für den Überlebenden sein kann, denn es fehlt die Gewißheit des Grabes … Auch andre Fragen stelle ich mir, so, ob ich wohl geschrieben hätte, wenn meine Frau noch lebte, und darauf finde ich keine Antwort, sondern nur zehn verschiedene Antworten, bei denen jede Behauptung mit Bedingungen umstellt ist wie mit Vexierspiegeln … Aber nein, wenn Doris noch lebte, so hätte ich vermutlich keinerlei Grund, Maria zu Hilfe zu rufen. Ich wäre gesund. Doris und mir, uns fehlte nichts und niemand, als ich sie verlor, und nicht umsonst hatte Maria bei unsrer letzten Trennung das Zeichen des Kreuzes über mich, den ihr Verlorenen, geschlagen!
So glaube ich es wenigstens, doch bin ich mir der Lückenhaftigkeit meiner Erinnerungen bewußt. Und wohin sollten derartige Fragen auch führen, wenn nicht, an allen Ecken und Enden, vor ein Gericht, zu dem ich Doris selbstquälerisch aus dem Grabe herbeiriefe, damit sie gegen mich zeuge, gegen mich und Maria. Wie lächerlich! Als ob ich der Mann wäre, der sich wegen seiner Gefühle und persönlichen Erlebnisse vor ein Gericht ziehen ließe, und wäre es von mir selbst!
Dies alles ist nur das Gestammel meiner Herzschläge, im Halbdunkel des Bewußtseins, verschlafen …
Ich erhebe mich, mühsam noch immer, vom Tisch.
Ich blicke auf die Ebene.
Vor fünf Minuten war noch alles in einen dicken, gelben Dunst gehüllt wie in eine Wolke von Pollen der Weidenkätzchen. Jetzt trocknet die Sonne die Aufschrift des Briefes an Maria Capponi.
In den fünf Minuten geschah, daß die gelben Wolken silbergrau wurden und Hügel darin sichtbar in weiter Ferne. Die Hügel kamen angeschwommen, und gleichzeitig, als vollzöge sich eine einheitliche Vorwärtsbewegung, graste weißer Wasserdampf die Wiesen herauf. Dann klaffte ein Stück Bläue im westlichen Himmel, schwarz gerändert: ein Ausblick auf die hohe See, wo, unsichtbar, die Sonne fuhr. Die Regentropfen am Fensterrand hingen blind … Darauf begann die silbergraue Wolke, die, als sie noch gelb gewesen, alles verhüllt hatte, blau zu dampfen, ja, und dann verschwand sie, ich kann nicht sagen, wie. Als letzte Spur von ihr bekränzt ein heller Schein die Hügel. Und dies ist nur das Allergröbste, was in den fünf Minuten vorgegangen.
Jetzt funkeln die Wiesen. Die Bäume verpulvern ihr Grün. Aber der Rauch des Schnellzugs Amsterdam-Mailand, der drunten in der Ebene vorbeifährt, krümmt sich, dehnt sich und will nicht vergehn, und dort, noch tiefer in der Ebene, öffnet sich eine zweite grüne Welt … Die elsässische Ebene liegt voll Sonne! Doch zwischen uns und ihr ist noch ein Dunst, der sie verschleiert … Er ist nicht mehr! Das Land links des Rheins, das Land rechts des Rheins atmet ein einziges Lächeln.
Vögel segeln von Wipfel zu Wipfel, setzen sich, fragen die Stille an, fliegen weiter. Die jungen Obstbäume tragen schauernd eine Flimmerkrone, und ihre großen Brüder sind Gerüste von Domen, überfließend von Licht. Im dunkel zerklüfteten Gewölk mischt der Himmel die Farben für den Sonnenuntergang.
Schöne Welt, heitere Welt, ach, wir traurig entstellten Menschen! Warum können wir nicht eingehen in Baum und Gras, in Blume und Wolke und nur dasein, wunderbar sinnlos, ewig bewegt und doch unbesorgt gleich ihnen! Warum ist des Menschen Sterben so schwer?
Ich lehne mich aus dem Fenster und begegne einem Wind, den ich an seiner würzigen Milde als den Zephir erkenne. Welch ein Winter liegt hinter mir! Doch nun ist der Frühling im Anzug. Unser Planet wiegt leichter. Schon fühle ich, wie ich selber an Gewicht verliere.
Zur Zeit, da ich noch Mythologie und Weltanschauung lernte, teilte ich meine Verachtung zwischen dem Zephir und der Serenitas, die ich mit Recht für ein Paar hielt, doch schob ich ihnen aus Bosheit bunt bestickte Pantoffeln unter, den “schicksallosen Alten” – wo sie doch in Wirklichkeit auf den leichtesten aller Götterfüße durchs Leben gehn und ihre verwandten Gesichter von Schicksalen schimmern wie vom feurigen Anhauch eines ganzen sommerlichen Gartens.
Maria wird kommen! Ich sehe die Schneeglöckchen in ihrem Winkel beim Abendläuten, und ich entsinne mich eines Tages, da ich in den Alpen tausend Meter unter mir ein winziges Dorf erblickte, dessen Kirchturm zu Abend läutete. Die Glocke fing bei jedem Zug einen Sonnenstrahl und schleuderte ihn empor. Mit den Augen hörte ich sie läuten, wie jetzt die Schneeglöckchen.
Und Maria stand neben mir. Wir hielten uns mit dem Arm umschlungen und lächelten einander an. In unser beider Körper war keine einzige dunkle Stelle, und wir lachten auf, nur, um unser Lachen in den Tiefen unserer Körper widerhallen zu hören.
….