Essentielle Schriften, Band 1

Essentielle Schriften, Band 1 – Philon

Philon von Alexandria war ein jüdisch-hellenischer Philosoph, geboren um 20 v. Chr., der 42 n. Chr. eine Mission der alexandrinischen Juden an den Kaiser Caligula begleitete, um gegen die Bedrückungen Abhilfe zu erbitten, denen dieselben ausgesetzt waren, weil sie das Bild des Imperators in ihren Synagogen auszufüllen sich weigerten. Als die Gesandtschaft vom Kaiser schnöde abgewiesen worden, verfasste er eine Rechtfertigungsschrift der Juden, die nach Caligulas Tod im Senat vorgelesen wurde. Er starb gegen 54. Seine auf allegorischer Deutung des Alten Testaments ruhende Philosophie fördert wesentlich stoische und platonische Gedanken ans Licht und betrachtet als Endzweck des Lebens, das Schauen Gottes durch asketische Kontemplation zu erreichen. Zwischen dem rein geistigen Gott und der irdischen Welt fungieren Mittelwesen, welche ebenso sehr den platonischen Ideen als den jüdischen Engeln entsprechen. Als ihre Zusammenfassung gilt der Logos, durch dessen Einführung Philons Lehre die Grundlage der Theologie der alexandrinischen Schule wurde. In diesem Band sind enthalten “Über die Weltschöpfung”, “Über Abraham”, “Über Joseph”, “Über das Leben Mosis” und “Über den Dekalog.”

Essentielle Schriften, Band 1

Essentielle Schriften, Band 1.

Format: Paperback, eBook

Essentielle Schriften, Band 1.

ISBN: 9783849666194 (Paperback)
ISBN: 9783849661762  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

 

Über die Weltschöpfung.

Übersetzer: Joseph Cohn

Das Buch von der Weltschöpfung (περὶ τῆς κατὰ Μωυσέα κοσμοποιίας, de opificio mundi) gehört zu der zusammenhängenden Reihe von Schriften, die eine systematische Darstellung des Mosaischen Nomos d. h. des wesentlichen Inhalts des Pentateuchs zum Gegenstande haben. Dieser zerfällt nach Philo in drei Teile: den Weltschöpfungsbericht, einen historischen und einen gesetzgeberischen Teil. Dieser Dreiteilung entsprechend besteht auch Philos Werk nach dem Plane, den er wiederholt angibt, aus drei Hauptteilen: über die Weltschöpfung, über das Leben der Patriarchen (Abraham, Isaak, Jakob, Joseph), über die Gesetze; in dem letzten und grössten Teil behandelt er zuerst den Dekalog, der die allgemeinen Grundlagen der Gesetze enthält, dann in mehreren Büchern die Spezialgesetze. Den Bericht von der Weltschöpfung hat Moses nach der Meinung Philos mit Absicht den Gesetzen selbst vorangeschickt, um zu zeigen, dass Gesetz und Welt in vollem Einklang mit einander stehen und dass der gesetzestreue Mensch zugleich der wahre Weltbürger ist, da er nach dem Gesetz der Natur lebt, durch das auch die Welt regiert wird; Moses will damit gewissermassen auf seine Gesetzgebung vorbereiten. Philo erläutert nun in diesem Buche den biblischen Weltschöpfungsbericht mit Hilfe platonischer, stoischer und pythagoreischer Lehren, aber so dass er die Physik mit der Theologie, die Kosmologie mit seiner Lehre von Gott und dem Logos eng verknüpft. Seine Theorie der Weltschöpfung oder richtiger Weltbildung lehnt sich im wesentlichen an Platos Timaeus an. Die Schrift zerfällt in zwei Teile: im ersten Teil (bis § 133) wird das Sechstagewerk (Hexaemeron) nach 1 Mos. Kap. 1 behandelt, im zweiten Teil (§ 134–172) wird die Schöpfung und der Sündenfall des ersten Menschen nach 1 Mos. Kap. 2 und 3 ethisch und allegorisch (psychologisch) erläutert.

Philo betont zuerst, was die Bibel voraussetzt, dass die Welt geschaffen ist, er wendet sich gegen die entgegengesetzte Ansicht sieht von der Anfangslosigkeit der Welt, weil damit die völlige Untätigkeit Gottes behauptet und die göttliche Vorsehung hinweggeleugnet wird. Damit verbindet er gleich die stoisch-pythagoreische Lehre von den beiden Weltprinzipien, der wirkenden Ursache (Gott) und der passiven Materie (§ 7–12). Nachdem er kurz auf die Bedeutung der Zahl sechs im Schöpfungswerk hingewiesen (§ 13. 14), geht er auf den ersten Schöpfungstag näher ein, an dem nach seiner Ansicht die intelligible Welt, das Urbild der sichtbaren Welt, geschaffen wurde; diese Idealwelt ist aber nur ein Produkt des göttlichen Denkens, sie hat ihren Sitz in dem göttlichen Logos; dieser ist das Werkzeug, mit dem die Welt geschaffen wurde, die Ursache aber ist die Güte Gottes (§ 15–25). Mit dem biblischen Ausdruck „im Anfang schuf Gott“ ist nach Philo nicht ein zeitlicher Anfang gemeint, weil die Zeit nicht vor der Welt vorhanden gewesen sein kann; „im Anfang“ sei soviel wie „zuerst“ (§ 26–28). Hierauf werden sieben Teile der Idealwelt angeführt und besprochen, die Philo in den ersten Sätzen der Bibel, die vom ersten Tage handeln, angedeutet findet (§ 29–35). Dann folgt die Schilderung der Entstehung der sichtbaren Welt (§ 36–76); Philo sucht hier den biblischen Bericht mit den naturwissenschaftlichen Lehren zu verbinden, wie sie zu seiner Zeit allgemein verbreitet und in ihren Grundzügen schon von Aristoteles begründet waren; zugleich zieht er wiederholt die pythagoreische Zahlensymbolik heran. Auch beim Menschen, der zuletzt geschaffen wurde, nimmt Philo eine doppelte Schöpfung an; zuerst wurde die Gattung Mensch oder der Idealmensch geschaffen, der ebenso wie die Idealwelt unkörperlich ist. Er begründet diese Annahme damit, dass die Schöpfung des Menschen an zwei Stellen der Bibel erzählt wird (1 Mos. 1,27 und 2,7); in dem Worte ἐποίησεν (er machte, schuf) der ersten Stelle findet er die Schöpfung des Idealmenschen, in dem Worte ἔπλασεν (er bildete) der zweiten Stelle die Bildung des wirklichen ersten Menschen ausgedrückt. Nachdem er am Schlusse dieses Abschnitts (§ 76) diesen Unterschied, auf den er später (§ 134) zurückkommt, kurz erwähnt hat, wirft er die Frage auf, warum der Mensch zuletzt geschaffen wurde, und gibt vier Gründe dafür (§ 77–88). Die als Abschluss des Schöpfungswerkes in der Bibel ausgesprochene Heiligung des siebenten Tages gibt Philo Veranlassung, einen langen Exkurs über die Bedeutung der Zahl sieben einzuschalten (§ 89–128). Den Schluss des ersten Teiles bildet eine kurze Erläuterung der Worte 1 Mos. 2,4–6 (§ 129–133); Philo glaubt in diesen Versen eine Andeutung seiner Ansicht zu finden, dass der Entstehung der wirklichen Welt eine Schöpfung der Idealwelt vorausgegangen ist.

Der zweite Teil beginnt mit der Erklärung der Worte 2 Mos. 2,7, in denen nach Philos Ansicht die eigentliche Schöpfung des ersten Menschen ausgesprochen ist. Philo schildert in breiter Darlegung die körperlichen und geistigen Vorzüge, durch die der erste Mensch, weil er aus der Hand Gottes selbst hervorging, vor den späteren Geschlechtern ausgezeichnet war (§ 134–144). In abgeblasster Form haben sich die Merkmale der Eigenart des ersten Menschen auch auf seine Nachkommen vererbt (§ 145–147). Zu den Vorzügen des ersten Menschen gehört es auch, dass er als König der Schöpfung den andern Geschöpfen Namen geben durfte (§ 148–150). Es folgt die Erläuterung der biblischen Erzählung von dem Sündenfall des ersten Menschenpaares (§ 151–169). In diesem Abschnitt kommt neben der rein philosophischen Betrachtungsweise auch die Allegorie zur Geltung. Solange der erste Mensch allein war, glich er in seiner Einzigkeit Gott und der Welt, daher war er auch sündenfrei; mit dem Auftreten des Weibes aber tritt die Liebe in die Welt, diese erweckt die Wollust, die der Anfang und die Ursache aller Sünde und Ungerechtigkeit auf Erden ist. Zu dieser buchstäblichen Auffassung fügt Philo eine allegorische Erklärung hinzu: der Garten Eden ist die von mannigfaltigen Meinungen erfüllte menschliche Vernunft, der Baum des Lebens ist die Gottesfurcht, durch die die Seele unsterblich wird, der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen die Einsicht des Menschen; Adam ist der menschliche Geist, Eva die Sinnlichkeit, die Schlange die Wollust, und der Sündenfall bedeutet, dass die Lust mit Hilfe der Sinne den Geist zur Sünde verleitet. Am Schlusse fasst Philo den Inhalt des biblischen Schöpfungsberichts dahin zusammen, dass vornehmlich fünf sehr wichtige Grundlehren darin ausgesprochen seien: die Existenz Gottes, die Einzigkeit Gottes, die Erschaffung der Welt, die Einzigkeit der Welt, die göttliche Vorsehung.

Es verdient besonders hervorgehoben zu werden, dass zu keinem andern Philonischen Buche so viele Parallelen in Talmud und Midrasch vorhanden sind wie zu diesem. Dass einige Gedanken, die in ihnen enthalten sind, aus Philo in den Midrasch hineingekommen sind, ist nicht unwahrscheinlich. Vielleicht dürfen wir daraus den Schluss ziehen, dass diese Schrift Philos in rabbinischen Kreisen am meisten bekannt war. In einem späten Midrasch, dem sog. Midrasch Tadsche, sind einige Stellen unseres Buches direkt benutzt (A. Epstein in Revue des études juives XXI, 80ff).

UEBER DIE WELTSCHOEPFUNG NACH MOSES

[1] 1 Manche Gesetzgeber haben das, was ihnen als recht galt, in ungeschminkter und einfacher Form angeordnet; andere haben ihre Gedanken in ein schwülstiges Gewand gekleidet und die Volksmassen betört, indem sie mit mythischen Gebilden die Wahrheit verhüllten. 2 Moses aber hat beides vermieden, das eine, weil es unbedacht, bequem und unphilosophisch ist, das andere, weil es voll Lug und Trug ist; er hat vielmehr seinen Gesetzen einen sehr schönen und erhabenen Anfang gegeben, indem er weder ohne weiteres angab, was zu tun oder zu unterlassen sei, noch auch – obwohl es nötig gewesen wäre, erst den Geist derer, die sich der Gesetze bedienen sollten, vorzubereiten – Mythen erdichtete oder die von andern verfassten nacherzählte. 3 Dieser Anfang ist, wie ich sagte, höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetze als auch das Gesetz mit der Welt im Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird[1]4 Die Schönheit der Gedanken dieser Weltschöpfung vermöchte kein Dichter und kein Schriftsteller würdig zu preisen; denn sie gehen über das Sprach- und Gehörvermögen hinaus und sind zu gross und zu erhaben, als dass sie mit den Organen eines Sterblichen erfasst werden könnten. 5 Allein deswegen dürfen wir uns nicht schweigend verhalten; wir müssen vielmehr aus Liebe zu Gott selbst über unsere Kraft hinaus sie zu schildern wagen, indem wir zwar eigentlich nichts, statt des Vielen aber doch einiges vorbringen, soweit der von Verlangen und Sehnsucht nach Weisheit beherrschte menschliche Geist vorzudringen vermag. 6 Denn wie auch das kleinste Siegel, wenn es geprägt wird, die Abbilder kolossaler Grössen aufnimmt, so werden vielleicht auch die ausserordentlichen Schönheiten der in den Gesetzen beschriebenen Weltschöpfung, wenn sie mit ihren Strahlen die Seelen der Leser treffen, auch bei schwächerer Darstellung offenbar werden; es muss jedoch zuvor noch etwas erwähnt werden, was nicht verschwiegen werden darf.

[2.] 7 Es haben nämlich manche, weil sie die Welt mehr als den Weltschöpfer bewunderten, jene für unerschaffen und ewig erklärt[2], diesem aber, Gott nämlich, in unfrommer Weise völlige Untätigkeit angedichtet, während sie im Gegenteil dessen Macht als die eines Schöpfers und Vaters anstaunen mussten und nicht die Welt über alles Mass verherrlichen durften. 8 Moses aber, der bis zum höchsten Gipfelpunkt der Philosophie vorgedrungen und durch göttliche Offenbarungen über die meisten und wichtigsten Dinge der Natur belehrt worden ist, erkannte sehr wohl, dass in den existierenden Dingen das eine die wirkende Ursache, das andere ein Leidendes sein muss, und dass jenes Wirkende der Geist des Weltganzen ist, der ganz reine und lautere, der besser ist als Tugend, besser als Wissen, besser als das Gute an sich und das Schöne an sich, 9 dass das Leidende dagegen an und für sich unbeseelt und unbeweglich ist, nachdem es aber von dem Geiste bewegt und gestaltet und beseelt worden, in das vollendetste Werk, in diese (sichtbare) Welt, sich verwandelte[3]. Die aber von der Welt behaupten, dass sie unerschaffen sei, merken nicht, dass sie das nützlichste und notwendigste der zur Gottesverehrung führenden Dinge beseitigen, nämlich die Vorsehung. 10 Denn dass der Vater und Schöpfer um das Geschaffene sich kümmert, lehrt die Vernunft; denn ein Vater hat doch die Erhaltung seiner Kinder im Auge, ein Künstler die Erhaltung seiner Kunstwerke; mit allen Mitteln wehrt er ab, was ihnen nachteilig und schädlich ist, und alles Nützliche und Zuträgliche sucht er auf jede Weise herbeizuschaffen. Zu dem Nichtgewordenen dagegen hat derjenige, der nicht geschaffen hat, keinerlei Beziehung[4]11 Wertlos aber und unnütz ist die Ansicht, die in dieser Welt wie in einem Staate Anarchie annimmt, so dass sie keinen Aufseher, Lenker oder Richter hätte, von dem alles gerechter Weise regiert und geleitet werden muss. 12 Der grosse Moses dagegen erkannte, dass das Ungewordene (Ewige) zu dem Sichtbaren ganz und gar nicht passt; denn alles mit den Sinnen Wahrnehmbare ist im Werden und in Veränderung und bleibt niemals in demselben Zustand; er schrieb daher dem Unsichtbaren und nur Gedachten als verwandte Eigenschaft die Ewigkeit zu, während er dem sinnlich Wahrnehmbaren den ihm zukommenden Namen Genesis (Werden, Schöpfung) zuerteilte. Da nun diese Welt sichtbar und sinnlich wahrnehmbar ist, so ist sie notwendigerweise auch geschaffen; deshalb hat Moses mit Recht auch die Erschaffung der Welt beschrieben und in sehr würdiger Weise diese göttlichen Dinge behandelt.

[3.] 13 In sechs Tagen, sagt er, ist die Welt geschaffen worden, nicht etwa weil der Schöpfer einen Zeitraum dazu nötig hatte – denn es ist selbstverständlich, dass Gott alles auf einmal bewirkt, nicht nur durch seinen Befehl, sondern schon durch sein Denken –, sondern weil für die Entstehung der Dinge eine bestimmte Ordnung nötig war. Zur Ordnung aber gehört die Zahl, und von den Zahlen ist nach den Gesetzen der Natur die für die Schöpfung passendste die Sechs[5]. Wenn man nämlich von der Eins an zählt, ist sie die erste vollkommene Zahl, da sie ihren Teilen gleich und aus ihnen zusammengesetzt ist, nämlich aus der Drei als der Hälfte, der Zwei als dem 3. Teil und der Eins als dem 6. Teil; zugleich ist sie, so zu sagen, sowohl männlich als weiblich und durch die Kraft der Vermischung beider Prinzipien zusammengesetzt; männlich ist nämlich in der Natur das Ungerade, das Gerade dagegen weiblich; von den ungeraden Zahlen ist nun die erste die 3, von den geraden die 2, und das Produkt beider ist die 6. 14 Denn es musste die Welt als das vollkommenste der gewordenen Dinge nach einer vollkommenen Zahl, der Sechs, geschaffen werden, und da sie die aus Paarung entstehenden Geschöpfe enthalten sollte, so musste sie auch selbst nach einer gemischten Zahl, der ersten geraden-ungeraden, gebildet werden, weil sie sowohl die Idee des den Samen spendenden Männlichen als die Idee des den Samen empfangenden Weiblichen umfassen sollte. 15 Einem jeden der sechs Tage aber teilte er einige Teile des ganzen Schöpfungswerkes zu, mit Ausnahme des ersten Tages, den er selbst, damit er nicht mit den anderen zusammen gezählt würde, nicht den ersten nennt, sondern treffend als einen Tag bezeichnet[6], da er das Wesen der Einheit in ihm erblickte und ihm deshalb diese Bezeichnung beilegte.

[4.] Von dem Inhalt (dieses Tages) müssen wir das anführen, was wir zu sagen imstande sind; denn alles zu sagen ist unmöglich. Er ist nämlich vor allen bevorzugt und umfasst die Schöpfung der gedachten Welt, wie der Bericht (der Bibel) über ihn besagt. 16 Da Gott nämlich bei seiner Göttlichkeit im voraus wusste, dass eine schöne Nachahmung niemals ohne ein schönes Vorbild entstehen kann und dass keines von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen tadellos sein würde, das nicht einem Urbilde und einer geistigen Idee nachgebildet wäre, bildete er, als er diese sichtbare Welt schaffen wollte, vorher die gedachte, um dann mit Benutzung eines unkörperlichen und gottähnlichen Vorbildes die körperliche – das jüngere Abbild eines älteren – herzustellen, die ebensoviele sinnlich wahrnehmbare Arten enthalten sollte, wie in jener gedachte vorhanden waren[7].

17 Wir dürfen jedoch weder sagen noch denken, dass die aus den Ideen zusammengesetzte Welt sich an irgend einem Orte befindet; wie sie entsteht, werden wir erkennen, wenn wir ein Gleichnis aus dem menschlichen Leben betrachten. Wenn eine Stadt durch die grosse Freigebigkeit eines Königs gegründet wird oder eines Führers, der sich unumschränkte Macht aneignet und zugleich durch Edelsinn ausgezeichnet ist und seinem Glücke noch mehr Schmuck verleihen will, so kommt ein geschulter Baukünstler, betrachtet das Klima und die günstige Lage des Ortes und skizziert zuerst bei sich nahezu sämtliche Teile der zu erbauenden Stadt, Tempel, Gymnasien, Amtsgebäude, Märkte, Häfen, Schiffswerfte, Strassen, die Anlage der Mauern, die Errichtung von Häusern und öffentlichen Gebäuden; 18 sodann nimmt er wie in einem Wachssiegel in seiner Seele die Formen aller Gegenstände auf und malt sich eine gedachte Stadt aus; und nachdem er deren Bilder durch das ihm angeborene Erinnerungsvermögen aufgefrischt und ihre Merkmale sich noch tiefer eingeprägt, beginnt er als tüchtiger Meister, das Auge auf das Musterbild gerichtet, mit dem Bau der aus Holz und Stein bestehenden (wirklichen Stadt), indem er die körperlichen Gegenstände den einzelnen unkörperlichen Ideen vollkommen ähnlich bildet[8]19 Aehnlich haben wir uns die Sache auch bei Gott zu denken, dass er also in der Absicht, die „Grossstadt“[9] zu bauen, zuerst im Geiste ihre Formen schuf, aus denen er eine gedachte Welt zusammensetzte und dann mit Benutzung jenes Musterbildes die sinnlich wahrnehmbare herstellte.

[5.] 20 Gleichwie nun die in dem Baumeister zuvor entworfene Stadt nicht ausserhalb eine Stätte hatte, sondern nur der Seele des Künstlers eingeprägt war, ebenso hat auch die aus den Ideen bestehende Welt keinen andern Ort als die göttliche Vernunft, die dieses alles geordnet hat. Denn welchen andern Wohnsitz für die göttlichen Kräfte könnte es wohl geben, der geeignet wäre, ich sage nicht alle, sondern auch nur eine einzige, welche es auch sein mag, unverändert aufzunehmen und zu fassen? 21 Eine göttliche Kraft aber ist auch die weltschöpferische, die als Quelle das wahrhaft Gute hat. Denn wenn einer die Ursache erforschen will, warum eigentlich dieses All geschaffen wurde, so scheint er mir das Ziel nicht zu verfehlen, wenn er behauptet – was übrigens auch schon einer der Alten gesagt hat[10] –, gütig sei der Vater und Schöpfer; deshalb hat er seine vollkommene Natur nicht der Materie vorenthalten, die aus sich selbst nichts Edles hat, aber die Fähigkeit besitzt alles zu werden. 22 Denn von selbst war sie ungeordnet, eigenschaftslos, leblos, ungleich, voll Verschiedenartigkeit, Disharmonie und Missklang; sie empfing aber ihre Veränderung und Umwandlung in die vorzüglichen Gegensätze, in Ordnung, Beschaffenheit, Beseeltsein, Gleichheit und Gleichartigkeit, Harmonie und Wohlklang und alle anderen Eigenschaften der besseren Art.

Dieser Beitrag wurde unter Antike Philosophie, Religionen der Welt veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.