Flügel auf!

Flügel auf! – Ilse Frapan

Die 1852 in Hamburg geborene Schriftstellerin Ilse Frapan, eigentlich Ilse Lévien, war Zeit ihres Leben eine eifrige Novellenschreiberin, von denen sie immer wieder einige in Sammelbänden veröffentlichte – unter anderem auch in dem 1895 erstmals erschienenen “Flügel auf!” Die enthaltenen Novellen “Weiße Flamme”, “Liebesmühen”, “Der erste Blick hinter die Kulissen”, “Die Schöpfung” und “Symbiose” wurden insofern überarbeitet, dass die wichtigsten Begriffe und Worte der heute aktuellen Rechtschreibung entsprechen.

Flügel auf!

Flügel auf!

Format: Taschenbuch/eBook

Flügel auf!

ISBN Taschenbuch: 9783849666743

ISBN eBook: 9783849661472

 

Auszug aus dem Text:

Weiße Flamme.

Und so hatte er denn mitten im Semester den Wirtsleuten das Zimmer kündigen und umziehen müssen. Es war ihm zwar fast ans Herz gewachsen, das Stübchen mit dem weiten Blick über die Stadt hinweg, nach dem schönen, farbenwechselnden Ütliberg drüben, aber im Sommer galt es ja ohnehin die Läden zu verschließen, weil ihm den ganzen Tag die Sonne auf das einzige Fenster brannte. Und dazu der ewige Streit zwischen den Eheleuten, die sich mit jedem Monat schlechter vertrugen – er war froh, als er seinen Trieb, alles beim alten zu lassen, damit es ginge, wie es Gott gefiele, endlich überwunden und die Änderung getroffen hatte.

Das war nun freilich ein anderes Haus, in das ihn der Zufall geführt. Ein altes vornehmes, weitläufig gebautes Haus mit großen getäfelten Stuben und niedrigen Balkendecken, mit steingepflastertem hallendem Hausflur, kühl und sonnenlos, mit verräucherten Ölgemälden an den Treppenaufgängen, eingemauerten Wappenschildern und glänzenden Messingschlössern an den Türen. Nicht ein einziger Student wohnte darin, sondern lauter solide, wohlhäbige Vollbürger, die ihren guten Wein im Keller hatten und um zehn Uhr zu Bette gingen; Männer mit ehrfurchterweckenden Uhrketten auf Samtwesten und Kotelettbärten, Leute, die wenig Mägde hielten, weil ihre Frauen sonst nichts zu tun gewusst hätten – ein stilles, reserviert blickendes Haus, das sich etwas darauf zu gute tat, nicht modern zu sein, weil modern ihm so viel wie leichtfertig und armschluckerhaft bedeutete.

Und in diese Umgebung er hinein mit seinen zweiundzwanzig Jahren, seinem Widerwillen gegen das Hergebrachte, das ehrwürdig genannt sein wollte, nur weil es alt war – mit seinem Spürsinn für faule Flecke und unklare Verhältnisse, mit seiner Anbetung der sozialistischen Idee, die er idealisierte, zum Evangelium der Zukunft machte, mit seinem jungen Weltverbesserermut und seinem täglichen, stündlichen Verzweifeln an sich selbst. Es war ihm auch selber jedes Mal ein wunderliches Gefühl, die glatt und glänzend braun gewichsten Treppen hinanzustürmen, und in den ersten Tagen war es ihm sogar passiert, dass er den Schritt unwillkürlich dämpfte, wenn weiter oben oder unten eine Tür geöffnet wurde; nicht etwa aus Befangenheit, wie er entschuldigend zu sich selber sagte, sondern aus einem stark entwickeltem Gefühl für das Stilvolle. Es wäre nicht im Charakter des Hauses gewesen, hier studentisch ungebunden mit Pfeifen und in weiten Sätzen, wie er es gewohnt war, aus- und einzugehen. Man war schließlich auch aus guter Familie und über die erste kraftgenialische Periode hinaus – ja, und wenn einmal etwas von seinem Programm verlauten sollte, war es auch nicht übel, diesen Philistern und krassen Bourgeois zu zeigen, dass man Sozialist sein und doch die Formen der sogenannten guten Gesellschaft besitzen könne.

So lachte er zu den Bedenken und Abmahnungen seiner Freunde und schwur, dass er sich zum erstenmal in seiner Wohnung behaglich fühle, seit er in Zürich sei.

„Weil du eben auch schon auf dem Wege bist, ein Philister zu werden,“ hieß es, und da lachte er noch fröhlicher und ließ es dabei bewenden. Eben weil sie alle ihm prophezeiten, er werde es in seiner „Kapitalistenhochburg“ noch viel weniger aushalten als in der Proletarierspelunke. War es doch immer sein Vergnügen und sein Stolz gewesen, das Gegenteil von dem zu tun, was man von ihm erwartete. Sie konnten ihm eigentlich keinen größeren Gefallen erweisen, als achselzuckend von ihm zu sagen „Ja, Iversen ist eben unberechenbar.“ Er protestierte dann gleichmütig: „Aber nein! wieso denn?“ Heimlich dachte er: Nun ja, wenn ich von euch allen ausgerechnet werden könnte – ein trauriger Tropf müsste ich sein; da wär’s gerade Zeit, sich dem Absinth zu ergeben, oder dem Morphium (auf Wein oder Bier verfiel er schon gar nicht!) oder dem Börsenspiel oder einer „Meitschi mit Batze“,[1] oder dem Antisemitismus, oder irgendeinen anderen „Kühweg“ zu betreten, wie ihr ihn früher oder später alle einmal entlang trottet.

Aber es war nicht allein Trotz, es war auch ein ästhetisches Wohlbehagen an seiner neuen Umgebung. Und dann hatte ihm die Wirtin von Anfang an so gefallen. Ein zartes altes Frauchen, nicht größer als ein vierzehnjähriges Kind, mit einem feinen bleichen Gesichtchen, besonders der Mund mit den ein wenig herabgezogenen Winkeln war so unendlich fein. Und sie hatte etwas Anmutiges in den Bewegungen und besonders in der Art, den Kopf hinten über zu legen, wenn sie mit ihm sprach, das ihm hier zu Lande noch nicht vorgekommen war. In Deutschland, ja, da kannte er so feine alte Frauen, nur hatten die etwas Starres, Formelles, nicht diese vogelartige graziöse Hurtigkeit, die an ein junges Mädchen erinnerte, diese anspruchslose Freundlichkeit, wenn er ihr auf der Treppe oder im Gang begegnete, diesen ganz zarten, wehmütigen Duft, wie ihn eine welke Blume aushaucht, die einmal sehr lieblich, sehr schön gewesen. Und dann war es so wonnig still um ihn herum. Außer der Wirtin und der langgedienten, bäuerlich breiten Magd war niemand im ganzen Stock, und von unten störte kein ungeschickter Laut seine Muße. Die drei kleinen Fenster gingen ins Grüne; ehemals hatte der schöne baumreiche Garten mit den hohen Thuja- und Zedernwipfeln wohl zu diesem Hause gehört, bis es herunterkam und stockweise vermietet wurde. Und über den noch märzkahlen Obstbaumkronen hinweg sah man den Kranz der Alpenhäupter, vom Glärnisch bis zum Uri-Rotstock, ganz hoch am Horizont, dass es ihm immer vorkam, als sähe er eine Landschaft von Dürer im drückend engen niederen Fensterrahmen. Er setzte sich auch hin, das abzuzeichnen, aber dann, unwillig über sich selbst, als es ihm nicht gelang, beschloss er, all’ diese Tagedieberei aufzugeben und die seltene Ruhe um ihn her, einzig zur Arbeit aufs Examen zu benutzen. War er doch ohnehin schon sehr alt geworden, fast dreiundzwanzig Jahr, über all’ seinem zersplitterten Interesse, ohne nur einmal so viel wie das zweite Propädeutikum gemacht zu haben. Es gab kühle Mahnbriefe von zu Haus, ironische Erkundigungen nach seinem „neuesten Steckenpferd“, wie der Papa Mediziner seine Beschäftigung mit Politik und Literatur nannte, und es kam ihn allmählich hart an, die Widersprüche zwischen seinem bloß genießenden Leben und der sozialen Richtung, die er mit so viel heftigem Enthusiasmus vertrat, glatt hinunterzuschlucken. Die meisten der „Genossen“ kannten solche Skrupel nicht; sie lebten wie die Lilien auf dem Felde von den Monatswechseln der Papas, immer unter der Verkündigung des Prinzips, dass Arbeit die Pflicht aller sei, und dass nur die Ausübung der allgemeinen Arbeitspflicht die Gesellschaft retten könne. Aber er wollte nicht sein wie die anderen, und er ärgerte sich, ärgerte sich, dass er sich füttern lassen musste wie ein Schulknabe. Füttern und schelten! Wie viele Jahre das nun schon so ging, es war zum Verzweifeln! Und bis wir den Zukunftsstaat haben, wo jeder sein Leben verdient, einfach dadurch, dass er täglich drei oder vier Stunden an einer Maschine steht, kann man alt und grau werden. Da blieb schließlich nichts übrig, als sich ans Studium zu halten – es war ihm schon wie eine wohltönende Vorbedeutung, dass die neue Wirtin ihn von Anfang „Herr Doktor“ geheißen. Er sagte nicht nein, obwohl er rot wurde; schade, dass sein Papa und der ebenso sarkastische Schwager nicht hören konnten, mit welcher Achtung man ihn hier behandelte! die hätten sich ein Beispiel nehmen dürfen.

So kräftig war sein Entschluss, dass er bis über die Osterferien anhielt; er ging nicht heim, wie die Eltern es gewünscht, sondern blieb die zwei stillen langweiligen Monate, wo es in den Züricher Straßen geradezu unheimlich leer an Studenten war, hinter den Büchern hocken, holte viel Versäumtes nach, ward aber aus Mangel an freundlicher Ansprache ganz öde und in sich gekehrt und fiel von einem „Moralischen“ in den anderen. Da er nun infolge dessen oft mit gefalteter Stirn, nachdenklichen Mundwinkeln und etwas gebeugter Haltung der überschlanken Gestalt einherging, setzte sich in dem Hause, das sich ganz heimlich hinter dicht zusammengezogenen Gardinen und durch Gucklöcher in den Flurtüren, mit ihm beschäftigte, die Meinung fest, dass „Frau Doktor Röslins Student“ im dritten Stock etwas Rechtes und Vornehmes sein müsse, gar zu eifrig und vielleicht auch ein richtiger Streber, nicht recht jung und duckmäuserhaft, aber jedenfalls, ein solventer Zahler. Diese hohe Meinung bekam das erste Loch nach fast zwei Monaten, als an einem wundermilden Aprilabend, voller Mondschein und Aprikosenblütenduft, der Einsame seine lang vergessene Geige dem bestaubten Kasten entnahm und bei offenen Fenstern in einem Ruck bis elf Uhr musizierte. Seit er mit Anneli gebrochen, hatte er keine Saite mehr angerührt. Ach, sie war ja nur ein Puppengehirnchen gewesen, aber wie goldig glänzten die Locken auf dem dummen runden Köpfchen, und wie verschmitzt hatte sie ihm zulächeln können, während sie mit der Großmutter die häuslichsten Dinge verhandelte. Und wie nett sie sich auf allerlei Zeichensprache verstanden, trotzdem. Fünf Finger und einer das hieß: Morgen früh um sechs Uhr geh ich zur Messe; wer Lust hat, darf mich begleiten. Ach, sie war doch sehr lieb gewesen, so frei und übermütig, wenn sie ganz allein waren, so ganz „fromme Helene“ im Beisein der Großmutter. Ja, der Neckname, über den sie fast einen ganzen Tag mit ihm geschmollt, passte ihr leider wie angegossen! Ihr letzter Streich – o nein – das war nun einfach nicht zu dulden! Ihre Sparbüchse leeren, um einem Kunstreiter eine silberbeschlagene Reitpeitsche zu kaufen, und das Geschenk ihm selber in die Wohnung tragen, vermummt in die Kleider ihres Bruders – das war – er hatte ihr harte Worte gesagt, als er es erfuhr und sie einfach ableugnete, endlich aber lachend zugab. Gewiss, er war für alle Gleichberechtigung der Frau, aber es musste Grenzen geben. Es war unausstehlich für einen Mann, betrogen zu werden, noch dazu eines Tölpels wegen.

„Tölpel? Ach, wenn du nur halb so schön reiten könntest wie der, du könntest zufrieden sein und brauchtest dich nicht mit dem dummen Ding da, mit der Medizin, zu plagen.“

Das schlug den Boden aus. Er, der so oft verkündigt, alle Arbeit sei gleichwertig, begann mit ungeheurer Verachtung zu predigen gegen alles, was nicht geistige Tätigkeit war. Hatte er sonst genug gegen „Rezeptenschmierer“ und „gelehrte Industrieritter“ gedonnert, so gab es nun nichts Höheres und Verehrungswürdigeres als die Ärzte, die „Retter der Zukunft des Menschengeschlechts“, denen es zu verdanken ist, wenn wir eine wahrhaft hohe Stufe erreichen und die Tierheit immer mehr und mehr von uns abstreifen werden. Die Worte strömten nur so von seinen zornig geschürzten Lippen, über das blonde Anneli, das mit gesenktem Kopf hinduckte und verlegen mit den Bernsteinperlen an dem dünnen Halse spielte. Als er es aber völlig zerquetscht zu haben glaubte, erhob sich’s mit kalt beleidigter Miene, wischte ein bisschen an den Augen herum, die übrigens nichts von Feuchtigkeit zeigten, und sagte schnippisch: wenn er es denn doch für so arg einfältig halte und sich für so arg gescheit, so wolle es ihn in seinem „Größenwahn“ nicht weiter stören und bedauere nur, dass sie beide so sehr an den Unrechten gekommen seien. Der Dumme, der für sie passe, sei freilich schon gefunden, er werde es begreiflich schwerer haben, indes „so eine von d’Siebengescheite, mit abgeschnittene Haar, wo in d’Universität laufet,“ könne er vielleicht doch bekommen. Und fort und aus. Das Anneli war gewesen. Seine Betroffenheit über die Verwandlung vor seinen Augen, wo ein leichtherziges unbedachtes Kind sich in ein boshaft freches Weib verkehrte, hielt noch tagelang an. Jetzt erfuhr er’s einmal selbst, was das heißt: die Weiber! Größenwahn! Und das hatte auf dem Grund ihrer doch so seicht scheinenden Seele geschlummert, diese schöne Meinung von ihm, während sie miteinander scherzten und kosten. Er hatte gemeint, sie liebe ihn, er hatte zum mindesten geglaubt, sie seien gut Freund. Aber nun auch nie wieder. Nicht Anneli und keine andere. Und wenn es doch einmal sein sollte in fernen Tagen und das Schicksal es so mit sich brächte, dann jedenfalls kein solch Apfelblütengesicht, dem man nichts als süße blonde Gedanken zutraut. Mochte sie eher hässlich sein, die Enttäuschung ist dann nicht so groß. Das war die Überlegung der ersten Stunde.

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