Handbuch der Poetik, Band 2. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst

Handbuch der Poetik, Band 2. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst – Herman Baumgart

Das große Verdienst dieses Werkes, einer der umfassendsten Abhandlungen zur Poetik, liegt in einer gründlichen, besonnenen und fruchtbaren Kritik der Lessingschen Theorien vom aristotelischen Standpunkt aus. Der Verfasser führt namentlich aus, dass alle Kunst die Aufgabe hat, seelische Vorgänge im weitesten Sinne darstellend hervorzubringen. Der große Künstler aber ist der, dessen Empfinden zugleich das stärkste und reichste und das gesündeste ist, deshalb für die ganze Gattung gültig, einen jeden bewegend und sein persönliches Empfinden erweiternd, läuternd und zu dem allgemein menschlichen erhebend. Das Gesetz ist also ein und dasselbe für die Poesie wie für die bildenden Künste. Das Werk enthält eine Fülle von guten Beobachtungen über einzelne Dichtungen. Lob verdient u.a., daß der Verfasser auch das altdeutsche Epos in grundlegender Weise mit herangezogen hat; interessant ist es, hier die Lachmannsche Liedertheorie vom philosophischen Standpunkte aus bekämpft zu sehen. Grundlage dieses Textes, der insofern überarbeitet wurde, dass die wichtigsten Wörter und Begriffe der aktuellen Rechtschreibung entsprechen, ist die Originalausgabe aus dem Jahre 1887. Dies ist Band zwei von zwei.

Handbuch der Poetik, Band 2. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst

Handbuch der Poetik, Band 2. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst.

Format: Paperback, eBook

Handbuch der Poetik, Band 2. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst.

ISBN: 9783849666378 (Paperback)
ISBN: 9783849661519  (eBook)

 

Auszug aus dem Text:

Die Nachahmung einer Handlung durch Handelnde ist ein Drama.

 Daraus ergibt sich zunächst, dass diese Art von Nachahmung äußerlich der Zeit und dem Orte nach beschränkt ist. Während die epische Erzählung allenthalben vor sich gehen kann, hier unterbrochen und dort wieder aufgenommen, sind durch die dramatische Nachahmung Handelnde und Zuschauende an einen bestimmten Ort gebunden und zwar für eine Dauer, welche durch die überall sich gleich bleibenden Grenzen der menschlichen Wahrnehmungs- und Genussfähigkeit, sich auf ein Maximum von etwa drei bis vier Stunden normiert.

 Zu dem Nachahmungsmittel des Wortes, welches das Drama mit dem Epos gemeinsam hat und zwar des durch rhythmisch-metrischen Wohlklang verschönerten und erhöhten Ausdrucks, fügt es als höchst wesentliches zweites Mittel der Nachahmung die Schaustellung (ὄψις) hinzu, sichtbare Darstellung nicht nur der Bewegungen, Mienen, Gebärden der Handelnden, sondern auch der unbelebten, für die Handlung in Betracht kommenden, Körper; und als drittes Mittel, welches in der modernen dramatischen Kunst entweder nur ganz nebensächlich verwandt wird, oder, in der Oper ihr dominierend ganz neue Gesetze gibt, die Musik.

 Aus dem Gegenstande und den Mitteln der dramatischen Nachahmung bestimmt sich nun die Art und Weise derselben, welche nicht nur die Darstellungsweise der ausgewählten Handlung umfasst, sondern auch die Auswahl und Einrichtung dieser Handlung selbst. Denn nach der Natur der poetischen Nachahmung überhaupt sind nicht alle Handlungen zu ihrem Gegenstande geeignet, und nach der spezifischen Natur der dramatischen Mittel nicht alle, die etwa im Epos verwandt werden können, auch für das Drama passend, wenigstens nicht in derselben Begrenzung und Anordnung. Ferner was die Darstellungsweise betrifft, so wird in der lyrischen Poesie eine Handlung lediglich um des Pathos und Ethos willen dargestellt werden, die in ihr zur Entfaltung kommen, um ihres Empfindungs-, Stimmungs- oder Charaktergehaltes willen; die Handlung selbst wird als Mittel dienen, um jene nachzuahmen. Umgekehrt werden im Drama Pathos und Ethos, Empfindungen und Charaktere, lediglich dargestellt werden um die Nachahmung des Geschehenden und dessen, was getan wird, des eigentlichen Handlungs-Inhaltes, zu bewirken; also nur insoweit als sie als Mittel für den eigentlichen Nachahmungsgegenstand zu verwenden sind.

Als Haupterfordernis wird die dramatische Handlung mit der epischen die Vollständigkeit und Einheit gemeinsam haben müssen, wie sie im Vorangehenden definiert wurden; aber für beide wird doch eine Modifikation hinzutreten. An der Vollständigkeit darf nichts fehlen: alle äußeren und inneren Voraussetzungen für den Beginn der Handlung, der ganze innere und äußere Verlauf derselben, der äußere wie der innere Abschluss, alles das muss in der Nachahmung gegeben sein, wobei das Drama allerdings insofern gegen das Epos im Vorteil ist, als es sehr Vieles, was im Epos durch das Wort berichtet werden muss, durch ihr zweites Hauptmittel, die Schaustellung, unmittelbar vor Augen zu führen vermag. Deswegen ist die Vollständigkeit der dramatischen Handlung eine bei weitem größere als die der epischen; niemals vermag diese letztere der Wirklichkeit sich so weit zu nähern wie jene, da, wie früher erörtert, der poetischen Nachahmung der Körperwelt durch das Mittel des bloßen Wortes sehr bestimmte Schranken gesetzt sind. Je mehr nun aber durch diese weit umfassendere äußere und innere Vollständigkeit — denn insofern ein sehr bedeutender Teil der inneren Vorgänge durch äußere Körperveränderungen sichtbar wird, so kann auch nach dieser Seite die dramatische Vollständigkeit eine ausgedehntere sein — von der dem Drama zugemessenen Zeit von höchstens vier Stunden notwendig in Anspruch genommen wird, desto geringer muss der äußere Umfang der nachgeahmten Handlung, die nichtsdestoweniger eine geschlossene Einheit, ein intaktes Ganze darzustellen hat, bemessen sein. Zwischen- und Nebenhandlungen, wenn sie nicht unentbehrlich für die Haupthandlung sind, werden daher auszuschließen sein; das Maß für diese aber ist allein von demjenigen Gesichtspunkte aus zu bestimmen, von welchem aus sich die Einheit der Handlung darstellt. Dieser Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Nachahmungszweck, auf dessen Erreichung in jedem einzelnen Falle das dramatische Kunstgebilde abzielt.

 Hier nun greifen die am Schlusse des fünfzehnten Abschnittes angestellten Erwägungen Platz.

 Das Handeln beruht auf Empfindungen, Gesinnungen, Erwägungen und daraus hervorgehenden Willensentscheidungen; in unauflöslich fest verschlungenem Gewebe ist das Handeln mit dem Geschehen verknüpft: aus den “Handlungen”, die beides verbunden darstellen, geht also das Schicksal, Glück und Unglück der Menschen, hervor. Da nun die Charakterschilderung niemals der Zweck der dramatischen Nachahmung ist, sondern immer nur eines ihrer Mittel, ihr Zweck dagegen die Darstellung von Handlungen, den Begriff in dem soeben bezeichneten Sinne genommen, da aber von diesen Glück und Unglück abhängen, so ist offenbar der Einheitsgesichtspunkt für die dramatischen Handlungen dieser: dass in jedem Falle das Verhältnis zwischen der Handlung und jener Alternative von Glück und Unglück, das heißt also das Schicksal, sich klar darstelle; und zwar, wie aus der allgemeinen, für alle Kunst gültigen Gesetzgebung von selbst hervorgeht, erstens in richtiger Weise und zweitens so, dass diese Richtigkeit sich unmittelbar der Empfindung kund tue, das heißt also ästhetisch wahrgenommen werde, oder nach Kantischer Terminologie ausgedrückt, durch die “Urteilskraft” ohne den Begriff des Richtigen dennoch als solche allgemeingültig konstatiert werde. Wodurch anders aber kann die Richtigkeit des dargestellten Schicksalsverlaufs — und zugleich, was ja ebenso das unbedingte gemeinsame Erfordernis aller Kunst ist, der Art und Weise seiner Darstellung — sich dem ästhetischen Urteil gegenüber bezeugen als durch die Richtigkeit, Reinheit, das heißt also absolute Allgemeingültigkeit derjenigen Empfindungen, welche hervorzurufen dieser dargestellte Schicksalsverlauf das bei allen nicht völlig anomal Gearteten und Gesinnten immer in gleicher Weise wirksame Vermögen erhalten hat!1

 Bei der Kürze der eigentlichen Handlung, welche, wie bemerkt, durch die äußeren Umstände gebieterisch für die dramatische Form der Nachahmung gefordert wird, ist nun aber die geschilderte Wirkung nicht anders denkbar, als wenn der dargestellte Schicksalsverlauf ein typischer ist, im einzelnen Falle das im Ganzen vorhandene, Alles lenkende Gesetz der Anschauung und Empfindung wahrnehmbar macht. Die nach dieser Richtung hin prägnanteste, inhaltreichste, also schicksalsvollste Handlung ist demgemäß die dramatisch beste.

 Um einen sicheren Weg zur Feststellung der für das Drama gültigen Gesetze über die Einrichtung der Handlung zu gewinnen, wird es also erforderlich sein, jenen Begriff der “schicksalsvollsten” Handlung möglichst genau zu präzisieren.

 Dabei zeigt sich sofort, wie verkehrt hier wie überall in der Kunst die alte und immer wieder aufs Neue beliebte Ansicht ist, dass mit einer getreuen Nachahmung der Wirklichkeit, in diesem Falle also von Handlungen, wie sie sich wirklich ereignet haben und auch vielleicht oft ähnlich wiederholen — die, wie man zu sagen liebt, “dem Leben abgelauscht” sind —, der Hauptzweck der Kunst, und vor allem der dramatischen Kunst, erreicht sei; denn gerade sie habe den Zweck der Wirklichkeit den Spiegel vorzuhalten und sie so wiederzugeben, wie sie sie finde.

 Wie oft ereignet es sich im Leben, dass schlechte oder unrichtige, ja verkehrte einzelne Handlungen vom Glück und vom Erfolge begleitet sind; und nicht nur einzelne, sondern mitunter lange Reihen und weite Verkettungen und Verzweigungen solcher Handlungen. Es ist aber von allen Fällen dieser am entschiedensten von jeder Art der dramatischen Nachahmung auszuschließen: Darstellung einer schlechten Handlung mit glücklichem Ausgang. Tragisch kann sie nicht im mindesten wirken, selbst nicht, wenn in ihrem Verlauf die Befürchtung schweren Verhängnisses vorübergehend sehr lebhaft erregt würde. Ferner verletzt sie das Gerechtigkeitsgefühl auf das schwerste; sie erschüttert die Vorstellung von dem Vorhandensein eines Zusammenhanges von Ursache und Wirkung in dem Gange der Dinge, der mit dem unser Denkvermögen beherrschenden Vernunftgesetz in Übereinstimmung ist, und setzt an die Stelle der Überzeugung von der Geltung eines solchen Zusammenhanges die Vorstellung, dass Laune, Willkür, unberechenbarer Zufall allein die Herrschaft haben. Nun hat freilich die Kunst weder mit unserm Gerechtigkeitsgefühl, noch überhaupt mit unsern sittlichen oder praktischen Überzeugungen direkt etwas zu tun, sondern allein sich durch die ästhetische Wahrnehmung an unser Empfindungsvermögen zu wenden: aber gerade hier würde sie auf jene Weise ihres Zweckes, die Bedingungen in sich zu vereinen, um uns durch dasselbe zur Freude zu bewegen, am meisten verfehlen. Denn statt beglückender Ruhe und wohlgefälliger Harmonie inmitten stärkster Bewegung der Gemütskräfte, würde eine solche Nachahmung, die zwar sicherlich auch bewegend, ergreifend, ja höchst aufregend, “packend”, wie man es heute gern nennt, wirken kann, nur Beunruhigung, Widerstreit der Empfindungen, unregelmäßige heftige Leidenschaften erzeugen. Die virtuoseste Handhabung der künstlerischen Mittel würde damit also nichts anders bewirken als dieselbe Ruhelosigkeit und Verwirrung, dieselben fruchtlosen Gemütserregungen, die so oft zu unserm Schaden und Verdruss durch die Vorgänge des wirklichen Lebens in uns hervorgebracht werden. Dieselben ihrer Qualität nach! Ihre Intensität wird freilich durch den wichtigen Umstand sehr vermindert, dass das Interesse des persönlichen Egoismus unberührt bleibt.

 Hierin liegt der Grund, dass diese absolut fehlerhafteste und verwerflichste von allen Arten der Einrichtung von Handlungen bei der großen Masse jederzeit am sichersten auf eifrigsten Beifall rechnen kann. Denn erstlich kommt sie überhaupt dem Leidenschaftsbedürfnis entgegen. In jeder Kraft liegt nach dem Naturgesetz der Drang zu ihrer Betätigung; für die körperlichen wie für die seelischen Kraftvermögen gibt es zuletzt keine größere Qual als absoluten dauernden Mangel der Betätigung. Gerade also, wo es an bewusstem, in sich geklärtem, fest und maßvoll in sich geordnetem Seelenleben fehlt — welches, bei dem stetigen und innigen organischen Kontakt der sämtlichen Seelenvermögen untereinander, durch die fortwährende, mächtige, wenn auch unmerklich vor sich gehende Einwirkung der logischen und sittlichen Kultur auf die mehr und mehr zu einem bleibenden Besitz, zu einer immerfort innewohnenden Fähigkeit und Fertigkeit (ἕξις ἠθική) sich gestaltende Empfindungsweise zustande gebracht wird —, und je mehr es an solcher, einzig mit Recht so zu nennenden, ästhetischen Kultur fehlt, gerade da wird die bloße Beschäftigung der Gemüts- und Empfindungskräfte, sei sie wie sie sei, am begierigsten verlangt werden. Je heftiger sie bei der Abwesenheit des egoistischen Interesses sich gestaltet, desto leidenschaftlicher wird sie aufgesucht werden; denn es ist einmal objektiv bei weitem leichter, dieses Bedürfnis leidenschaftlicher Erregung zu befriedigen, als klares und reines, maßvolles und harmonisches Empfinden hervorzurufen, und sodann ist es subjektiv viel bequemer, sich jenem passiven Genießen hinzugeben, als diese ohne eigene Betätigung nicht denkbare Empfindungsweise in sich zur Wirkung gelangen zu lassen. Nun ist aber jenem Bedürfnis auf keine Weise leichter genügt als mit der Darstellung, um es mit einem Worte zu sagen, von schlechten Handlungen, also von Fehlerhaftigkeit aller Art, Lastern, Verbrechen, Verirrungen und den damit zusammenhängenden Verwickelungen; und da die Neigung zu dem passiven, bequemen Genuss an der bloßen leidenschaftlichen Erregung der strengen Konsequenz gern aus dem Wege geht und weit lieber sich mit der Vorstellung schmeicheln lässt, dass schließlich doch noch “alles gut werde”, und mit solcher günstiger Schlusswendung obendrein noch sehr leicht das oberflächliche Vergnügen an dem falschen Schein einer angeblichen moralischen Sinnesänderung verknüpft werden kann, so ist die Nachahmung schlechter Handlungen mit glücklichem Ausgange das eigentliche Grundschema sowohl der epischen als dramatischen Pfuscherei.

Dieser schlimmste Grundfehler ist keineswegs auf die Massenproduktion eingeschränkt, die sich an die Instinkte der rohen Menge wendet; auch der verwöhnte Geschmack lässt sich allzu leicht darüber täuschen, wenn nur die Darstellungsmittel in geschickter oder gar virtuoser Weise gehandhabt werden, da ja auch ein solcher, im Grunde völlig fehlerhaft eingerichteter Handlungsverlauf im Einzelnen immerhin genugsam Gelegenheit bietet, die Wirkungen des Rührenden und Furchtbaren oder auch des Komischen und Erheiternden hervorzubringen; da er ferner der irrtümlichen Forderung des sogenannten “Realismus”, die auf unmittelbare Nachahmung der Wirklichkeit und Natur geht, oft am besten zu entsprechen scheint.

Dieser Beitrag wurde unter Poetik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.