Handel, Banken, Versicherungen und Handwerk

Handel, Banken, Versicherungen und Handwerk – Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Band 4

 

Die 1914 im Original veröffentliche Reihe “Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. ” gehört zu den umfangreichsten historischen Abhandlungen über die Entwicklung und den Aufbau des Kaiserreiches. Hier in einer Wiederauflage von insgesamt acht Bänden vorliegend, umfasst das Werk auf fast 2000 Gesamtseiten Beiträge der wichtigsten Koryphäen ihrer Zeit zu relevanten Themen. Dies ist Band 4, der unter anderem die Entwicklung des auswärtigen und des Binnenhandels, das Bank- und Versicherungswesen und das Handwerk behandelt.

Handel, Banken, Versicherungen und Handwerk

Handel, Banken, Versicherungen und Handwerk.

Format: eBook/Taschenbuch.

Handel, Banken, Versicherungen und Handwerk.

ISBN eBook: 9783849663179

ISBN Taschenbuch: 9783849665210

 

Auszug aus dem Werk:

 

Der Binnenhandel

Von Dr. Otto Ehlers, Syndikus der Handelskammer Berlin, M. d. A.

Das Erstarken der Wirtschaft, das wir in Deutschland für alle Gebiete feststellen können, hat um so mehr Staunen hervorgerufen, als die Fortschritte sich auf einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum zusammendrängen, auf das noch nicht vollendete halbe Jahrhundert, das seit Gründung des Reiches verflossen ist. Aber die Erklärung für diese beschleunigte Entwicklung liegt nahe. Was andere Kulturstaaten, insbesondere England und Frankreich, in jahrhundertelanger stetiger Arbeit erreicht hatten, mußte Deutschland, dessen wirtschaftliche Kräfte in der Periode der politischen Zersplitterung nicht hatten zur Entfaltung kommen können, gewissermaßen im Fluge nachholen. Es ist ein gutes Zeichen für die wirtschaftliche Veranlagung des deutschen Volkes, daß bei seinen Schöpfungen die Solidität des Werkes nicht unter der Schnelligkeit, mit der es hergestellt ward, gelitten hat.

Der Hauptteil der wirtschaftlichen Fortschritte, die sich seit den Tagen der Reichsgründung vollzogen haben, entfällt auf die zweite Hälfte des Zeitraumes. Der Samen, der in der ersten Hälfte gelegt worden war, ging auf und führte zu einer Entwicklung, die mit geringfügigen Unterbrechungen einen außerordentlichen Aufstieg darstellt. Die Weltmacht wurde Weltmarktsmacht.

In nachstehender Darstellung soll erwiesen werden, daß der Binnenhandel an dieser Entwicklung gebührenden Anteil genommen hat.

Der Binnenhandel im Verhältnis zum Außenhandel.

Wer die Geschichte des Deutschen Binnenhandels schreiben will, muß zugleich die Geschichte der Gütererzeugung schreiben. Was an Rohstoffen und fertigen Waren geschaffen wird, bleibt nur zu einem kleinen Teil im Eigenverbrauch der Erzeuger, die weitaus überwiegende Menge wird Gegenstand des Verkehrs und gelangt erst über diesen hin zum endlichen Ziel, zum Verbrauch. Der Weg, den das Gut vom Geburtsort an bis zur Sterbestätte – denn Verbrauch ist Vernichtung – zurücklegt, kann kurz oder lang sein: fast immer wird, um die Fahrt zu bewerkstelligen, eine leitende Hand nötig sein. Diese Hand bietet der Handel. Hält sich die Fahrt innerhalb der Grenzen des einheimischen Gebiets, so sprechen wir von Binnenhandel; schneidet sie die Grenze, so ergibt sich der Begriff des Außenhandels.

Unterschiede sonstiger Art, die das Wesen berühren, bestehen nicht zwischen den genannten zwei Arten des Handels, mag die historische Entwickelung auch einige Verschiedenheiten zutage gefördert haben. Diese schrumpfen im modernen Staat immer mehr zusammen, die Lebensbedingungen, unter denen die beiden Gattungen des Handels sich entfalten, werden die gleichen, die Wechselwirkung zwischen ihnen gewinnt dauernd an Innigkeit. Ein blühender Außenhandel geht regelmäßig mit einem blühenden Binnenhandel Hand in Hand; Störungen, die widrige Verhältnisse, insbesondere menschliche Unvernunft, dem einen bereiten, lassen den anderen nicht unberührt. Weder ist der Außenhandel vornehmer oder produktiver als der Binnenhandel, noch ist er weniger patriotisch als dieser. Alle solche Vorstellungen, denen man in den Kundgebungen verflossener Zeiten vielfach, aber auch heute noch hin und wieder begegnet, halten vor der Erfahrung nicht stand.

In einer Beziehung nimmt allerdings der Außenhandel eine bevorzugte Stellung ein, die scheinbar nur theoretische Bedeutung hat, in Wirklichkeit aber von praktischem Wert ist. Er ist statistisch zu erfassen, ein Umstand, der sowohl dem Privatmann nützliche Winke für Bezugs- und Absatzmöglichkeiten gibt als auch den Staatsmann bei wirtschaftspolitischen Vorschlägen vor der Gefahr irrtümlicher Voraussetzungen behütet. Man braucht nicht gläubig auf die amtliche Statistik zu schwören und wird doch ohne weiteres zugeben müssen, daß die Beurteilung der Verhältnisse des Außenhandels dank der Anschreibungen der Reichsstatistik unvergleichlich leichter und sicherer ist als die Beurteilung der Verhältnisse des Binnenhandels, die in jungfräulicher Reinheit noch des Statistikers harren. Es zeigt sich hier wieder einmal die merkwürdige Erscheinung, daß wir fast immer über Vorgänge, die in unserer Nähe sich abspielen, am mangelhaftesten unterrichtet sind, daß wir, wie jemand treffend bemerkt hat, beispielsweis über den Umlauf der Sterne, die in endlosen Weiten sich befinden, mehr wissen als über den Umlauf des Geldes, das wir in den Fingern fühlen. Der dem alltäglichen Tun und Treiben nahe Binnenhandel ist in dichteren Nebel gehüllt als der Außenhandel, mit dem doch die große Menge der Menschen weder persönliche noch örtliche Fühlung hat.

Den Umfang des Binnenhandels zu schätzen, ist deshalb eine Aufgabe, an deren Lösung man nur mit den erheblichsten Vorbehalten gehen kann. Zahlenmäßige Nachweise gibt es zwar über einen großen Teil des Binnenverkehrs, aber dieser ist nicht gleichbedeutend mit dem Binnenhandel, denn jener umfaßt auch Gütermengen, die ohne Vermittlung des Handels zum Umsatz gelangen.

Die beiden Hauptverkehrswege, die für den Handel Betracht kommen, sind Bahn und Fluß; ihr Übergewicht über die gewöhnliche Landstraße wächst, je mehr das Schienennetz sich ausdehnt, je leistungsfähiger die Ströme und Kanäle gestaltet werden. Man wird darum in den Zahlen des Warenverkehrs, der durch Bahn und Schiff besorgt wird, den geeigneten Anhalt für den Warenverkehr überhaupt finden dürfen. Die Statistik für das Jahr 1911 gibt folgenden Aufschluß:

 Nach Ausweis dieser Zusammenstellung erreichte die Gesamtmenge der in Deutschland (auf Bahn und Fluß) beförderten Güter das Gewicht von reichlich 500 Mill. Tonnen. Davon entfielen mehr als 400 Mill. auf den Inlandsverkehr. Zieht man die Jahre 1909 und 1910 heran, so gelangt man annähernd zu dem gleichen Ergebnis; man wird deshalb die Verhältniszahl, wonach der Binnenverkehr 4/5, der Auslandsverkehr 1/5 der Gesamtwarenbewegung umfaßt, im großen und ganzen als zutreffend erachten dürfen.

Unter Festhaltung eines solchen Verhältnisses und unter Berücksichtigung der Wertberechnungen, die für den Auslandsverkehr in der amtlichen Statistik vorliegen und die diesen für das letzte Jahr auf rund 20 Milliarden Mark angeben, wird man für die Gütermenge des Binnenverkehrs auf eine Wertsumme von 80 Milliarden Mark kommen. In Anbetracht dessen, daß bei der Berechnung der ganze Landstraßenverkehr, der fast ausschließlich dem Binnenverkehr zuzuzählen ist, außer Ansatz geblieben ist, verschiebt sich das Verhältnis zwischen Binnen- und Auslandsverkehr noch erheblich zugunsten des ersteren, so daß die 80 Milliarden Mark einer Erhöhung benötigen.

Es ist schon angedeutet worden, daß der absolute Wert solcher Berechnungen gering ist. Wie sorgsam die amtliche Statistik auch geführt wird, die Ergebnisse bleiben lückenhaft. Namentlich gilt dies von der Statistik der Schiffahrt, aber auch die Verkehrsziffern der Bahnen geben kein vollständiges Bild; es sei nur daran erinnert, daß bei den Anschreibungen der Bahnverwaltung ein beträchtlicher Teil des Stückgutverkehrs (nämlich Beförderungsmengen unter 500 kg) ganz außer acht gelassen wird. Es ist ferner zu bedenken, daß in der Beförderungsstatistik dieselbe Ware mehrmals erscheinen kann (wenn z. B. eine Lagerung den Beförderungsakt unterbrochen hat), und bei weiterer Betrachtung ergeben sich noch mancherlei andere Bedenken gegen die Genauigkeit der Gewichtsberechnung. Auch obige Wertberechnung ist nur in rohen Umrissen ausgeführt; um eins zu erwähnen, ist bei ihr von jeder Rücksicht auf Qualitätsunterschiede abgesehen worden. Aber eines beweist trotz aller Mängel jene Berechnung: daß der Binnenverkehr den Auslandsverkehr um ein Vielfaches überragt. Namentlich das letzte Jahrzehnt hat dem deutschen Auslandsgeschäft eine überaus starke Steigerung gebracht, indes ist diese Inanspruchnahme wirtschaftlicher Kräfte keineswegs auf Kosten des Binnenverkehrs erfolgt; in gleichem Schritt und Tritt gingen Inlands- und Auslandsverkehr vorwärts.

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