Hubertus

Hubertus – Paul Keller

Kellers Heimatroman spielt in einem kleinen schlesischen Dörfchen, in das der Titelheld flieht, um der Stadt zu entkommen. Bald bricht ein Unglück nach dem anderen über das kleine Dorf herein und gipfelt schließlich im Mord der hübschen Bianka …

Hubertus

Hubertus.

Format: eBook

Hubertus.

ISBN eBook: 9783849656126.

 

 

Auszug aus dem Text:

 

Ich bin erst seit drei Tagen in diesem Hause. Rundum ist mir noch alles neu. Alle Wege muß ich erst finden lernen. Kaum vier Menschen, die mir begegnen, kenne ich mit Namen. Ich weiß nichts von diesen Waldhütten und Waldhöfen, nichts von ihren Schicksalen und ihren Bewohnern.

Es ist alles noch von mir zu erforschen. Da hätten also Geist und Herz Arbeit genug. Aber in den drei Tagen hat mich doch mehr als einmal die Langeweile angegrinst. Es beschlich mich erst gestern abend tiefe Furcht, ich würde es hier nicht aushalten, und als der Mond schon hoch am Himmel stand, trat ich ans Fenster und hatte das Heimweh.

Als ich noch jünger war, habe ich mich einmal weit über ein Jahr lang nach einem fernen Mädel gesehnt, mit dem wehen Verlangen, dessen nur die weiche Jugend fähig ist, mit sterbensbanger Traurigkeit im Herzen, mit müdem, leerem Glanz in den Augen, ja, oft mit bitterem Geschmack auf der Zunge und einem Würgen in der Kehle. So schlimm war diese Sehnsucht! Mit der Zeit wurde ich krank, und ich wußte, daß es nur ein Heilmittel geben könne – die Nähe der Geliebten. So reiste ich zu ihr, sobald es möglich war, und mit jeder Bahnstation, die ich ihr näher kam, verringerte sich das Heimweh, bis es erstarb in einer großen, aber seltsam unruhigen Freude.

Als ich bei dem Mädchen war und als die Beklommenheit des Wiedersehens überwunden, das Glück der ersten Tage ausgekostet war und wir abends allein durch die Dämmerung gingen, kam jenes Verlangen, jenes tiefe Heimweh wieder. Das Mädchen, das neben mir ging, erschien mir auf einmal fremd, und meine Sehnsucht suchte die andere, die sie immer gesucht hatte und die – meine Nachbarin nicht war.

Und jene andere kannte ich nicht!

Was habe ich mich nach der Waldeinsamkeit gesehnt in der letzten Zeit meines Großstadtlebens. Wie der Hirsch nach der Wasserquelle, wie der Verfolgte nach dem Freihafen, wie ein müdes Kind nach dem Schoß der Mutter.

Aber gestern abend, als der Mond über den Wipfeln der Tannen, die mich und mein schmuckes Waldhaus umhegen, so silbern und schön schwamm, wie nur je ein romantischer Maler ihn malte, und ich den ruhigen Atem der schlummernden Bäume hörte, so mitten im Dämmerlichte erfüllter Liebesnähe – kam das Heimweh wieder, und ich befürchte, daß es wohl auch dieser Wald nicht sein wird, was mir zum Frieden dient.

Ich als Mensch aus der großen Welt lache doch über den Weltschmerz; aber es ist schlimm, daß ich nicht weiß, wonach ich mich sehne.

Nach dem alten Leben? Gewiß nicht. Ich habe seine Freuden bezahlen müssen mit dumm verschleudertem Geld, mit elenden Gewissensskrupeln, mit dem Verlust der Gesundheit. Schlimmer als der gemeinste Wucherer hat das Leben mich betrogen, hat auf den Wert seines Tandes Millionen Prozente aufgeschlagen, und ich Tropf habe es nicht gemerkt oder nicht merken wollen, wie frech ich hintergangen wurde, sondern alles, alles gezahlt.

Oder sehne ich mich nach den Freunden? Irgend ein neuerer Dichter hat gesagt: »Es ist ein trauriges Lied, das von den guten Freunden.« Ich habe eine ganze Anzahl »Freunde« gehabt. Die meisten waren Amüsierkumpane, famose Gesellen beim Spiel, Wein und Tanz; aber wenn einer ging, hinterließ er keine Lücke; es kam leicht ein Ersatzmann. Dann waren ein paar Gesellen, die mich ausnutzten; es waren arme Schlucker, denen es verziehen sein soll. Dann war einer darunter – ein Betbruder – der mir immerfort Moral predigte. Das war der widerwärtigste von allen. Dem habe ich auf die Beine geholfen, daß er davonging und sich jetzt mit mir nur in der Weise beschäftigt, daß er mir Schande gibt. Vier Freunde habe ich gehabt: einen, dem ich alles beichten konnte und der immer ein heilendes Wort hatte – der ist gestorben – und einen zweiten, der meinte, das Wesen der Freundschaft bestehe darin, daß man sich immer die unverfälschte Wahrheit sage, und der mir deshalb täglich und stündlich widersprach und grob kam. Mit dem unterhalte ich mich jetzt lieber brieflich. Den dritten guten Freund hat das Leben in weite Ferne verschlagen, und den vierten drückt der Kampf ums Dasein in immerwährende Fron.

Geschwister habe ich nie gehabt. Die Eltern sind lange tot, schon gestorben, als ich noch ein Kind war. Der Herr Vormund, der mich aufzog, hat das reiche Erbteil an Geld, das mir meine Eltern hinterließen, gewissenhaft verwaltet; aber was sonst ein Kind für Reichtümer hat: Frohsinn, Tollerei, strahlende Laune oder gar Liebe – das hat mir der Mann alles unterschlagen. Er ist ein ärgerer Defraudant, als wenn er sich an meinen Wertpapieren vergriffen hätte.

In meine Großstadtwohnung ist einmal ein Einbrecher eingedrungen, hat eine goldene Uhr und einen Ring von ungefähr fünfhundert Mark Wert gestohlen und hat dafür zwei Jahre Zuchthaus bekommen.

Mein Vormund, der in das Paradies meiner Kindheit einbrach und mir zwar kein gemünztes Geld, aber dafür alle Schmuckstücke junger Jahre stahl, ist nicht mit einem Tag Gefängnis bestraft worden. An meinem einundzwanzigsten Geburtstage, da ich großjährig wurde, habe ich an meinen Vormund geschrieben, ich hätte von einem vereidigten Sachverständigen, Vermögensverwalter usw. mir ausrechnen lassen, daß die von ihm für mich aufgewandte Mühe etwa 2000 Mark wert gewesen sei; diese Summe hätte ich heute dem »Verein für Kinderpflege«, dessen Vorstand seine Gattin sei, überwiesen, damit ich meinerseits mit ihm quitt sei. Meine Gegenrechnung wolle ich nicht ihm, sondern dem alles genau bezahlenden Herrgott einschicken.

Es gibt viele Orden im deutschen Land. Einen Vormundsorden sollte es geben für solche Vormünder, die ihre Aufgabe, toten Vaters Stelle zu vertreten, wirklich erfüllen. Aber die Vormundsschaftsgerichte dürften diesen Orden nicht vorschlagen, die sind mit zu geringer Leistung zufrieden; auch nicht die Gemeinden und Waisenräte, denn sie empfinden ja doch mehr oder weniger die ganze Vormundschaft nur als eine Last; auch nicht die Mündelkinder selbst wären ganz kompetent, sie sind, ach, zu so großer Bescheidenheit, zu oft so unbegründeter Dankbarkeit erzogen, daß auch sie schäbige, liebearme Faulpelze dankbar dekorieren würden, weil sie es nicht besser wissen. Wenn der Herrgott selbst den Vormundsorden verleihen könnte, er, der allein alles weiß und Herz und Nieren kennt, dann wäre dieser Orden viel seltener als das Eiserne Kreuz erster Klasse für einen gemeinen Mann, aber auch dann – wie jenes – ehrlich und schwer verdient.

Februar. Es ist noch tiefer Winter in den Waldbergen. An dem Felsenblock, der neben meinem Hause ist, stehen und hängen meterlange Eiszapfen. Er sieht aus wie eine kristallene Orgel, die in den Silberdom des Waldes eingebaut ist. Den Bachweg herauf klimmen alte dicke Weiden, schwerfällig wie Bauern, die in weißen Schafspelzen zur Kirche kommen, und neben der Orgel stehen einige Birken wie zierliche Jungfrauen, die ein frommes Lied singen wollen.

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