Stille Straßen

Stille Straßen – Paul Keller

Ein Buch von kleinen Leuten und großen Dingen. Kellers Novellen zeichnen sich durch eine schier unglaubliche Erfindungsfülle und künstlerische Gestaltungskraft aus.

Stille Straßen

Stille Straßen.

Format: eBook

Stille Straßen.

ISBN eBook: 9783849656133.

 

 

Auszug aus “Der Träumer”:

 

Das war Peter Günzel, ein Schmied, der im allerverlorensten Tal des Riesengebirges wohnte. Am 29. November hatte er von der Sonne Abschied genommen. Mittags um 1 Uhr. Da war sie untergegangen. Von seinem Hause aus hätte er sie nicht mehr sehen können um diese Zeit. Aber er hatte den weitesten Weg gemacht, den er überhaupt zurücklegt: vierhundert Schritt hinab bis zum Brünnlein, dreihundertsechzig Schritt seitwärts bis zum Wegweiser. Dort hatte er die Sonne gesehen, ehe er sie auf Wochen aus den Augen verlor.

Dagestanden, als sie in die graue Schneewand kroch, von der er wußte, sie würde auf Wochen einen unermeßlichen Nebel bringen, dagestanden mit der Pelzmütze in der Hand und gesagt: »Behüt’ Gott! Glückliche Reise nach Afrika! Nach Afrika und Angra Pequena! Adieu, liebe Sonne. Da bist du nun alle Tage in Afrika. Und bei mir bist du nicht mehr! Es gefällt dir bester da unten, weil es da wärmer ist. Und vielleicht, weil es dort Giraffen und Kolibris gibt. Behüt’ Gott! – Da ist sie hin! Da ist sie hin!« –

Große steife Strahlen hatten aufgeglänzt in den Nebel und in die Unendlichkeit hinein, wie ein weißer, harter Heiligenkranz – dann war sie »hin« gewesen.

Wird schwer sein, Peter Günzel, wird sehr schwer sein, diese einsame tote Zeit!

Wenn’s gut geht, am 18. Januar, dann kannst du wieder zum Wegzeiger gehen, die Mütze abnehmen und sagen: »Grüß Gott, liebe Sonne! Da bist du ja wieder! Was macht Afrika und Angra Pequena? Und wie geht’s den Giraffen und Kolibris? Ich lebe unterdes auch noch immerfort, wie du siehst. Grüß Gott!«

Bis zum 18. Januar!

Wird schwer sein, Peter Günzel!

So setzte er sich zunächst die Pelzmütze auf und zog sie tief über die Ohren. Dann watete er zurück durch den hohen Schnee.

Am Brünnlein machte er halt. Das war auch hin. Gefroren! Hielt’s mit der Sonne. Es war nicht recht von dem Wässerchen. Er mußte sich nun so lange Schneewasser machen oder, wenn’s was Gutes sein sollte, ein Stück Eis auftauen. Waren gar viel Umstände! Er klopfte mit dem Stock auf die kreisrunde gefrorene Wasserfläche.

»He, Schlingel, ich kenn’ dich! Tu nicht so dumm, ich kenn’ dich! Warum versteckst du dich? Warum sagst du kein Wort? Warum bist du so faul? Wart’, silbernes Halunklein, ich werd’ dir’s auf dem Kopf sagen: Schlittschuhlaufen willst du das Volk lassen und Schlitten fahren! Und dafür läßt du mich dursten! Läßt das Volk auf dir rumkrabbeln, wie ein Pudel auf seinem Rücken die Flöhe, und läßt mich dursten!«

Er kicherte und klopfte noch einmal auf die Eisdecke.

»Es hält! Es wird keines einbrechen!«

Dann richtete er sich empor und stand eine Weile stumm und steif da wie ein toter Baumstumpf. Vom Himmel sank eine schwere graue Wolke wie ein dickes Tuch. In den Ästen der Bäume war ein Klirren und Knacken. Schatten schlichen vom Tale herauf, Schatten und Kälte. Den Waldsaum entlang kroch ein schwarzes Tier.

Versonnen fuhr Peter Günzel noch einmal mit seinem Stabe über die Eisdecke.

»Wenn der Mond nicht kommt, werden auch die Waldkinder nicht kommen.«

Danach wandte er sich seinem Hause zu.

Die Waldschmiede lag in einer Nordschlucht des Riesengebirges an der alten Bergstraße, abseits der neuen Chaussee. Auf dieser alten Bergstraße ging niemand mehr als Holzmacher, Pilzweiblein und Zollwächter. Die Schmuggler gingen unten auf der Chaussee bequemer und sicherer. Im Winter war die Bergstraße ganz und gar verschneit, da wagte kaum ein Jägersmann auf Schneeschuhen den Weg. Jetzt war die Tür noch frei, aber bis an die Fenster lagen schon Windswehen. Wenn eine stille, warme Schneenacht kam, dann sanken Millionen, Millionen Flocken auf das kleine Haus, und am Morgen, wenn jenseits der Schlucht der Tag graute, war der Schmied mitsamt seinem Hause im Schnee begraben.

Dann lag er still in seinem Bette und lachte und lachte und rief seine Ziege, seinen Hund, seine Katze und seinen Papagei und sagte: »Meine Lieben, wir sind tot! Freut euch, wir liegen im Grabe!«

Die Tiere nickten schläfrig und dehnten sich träg. Der Schmied aber träumte von seinem stolzen, weißen Grabe, darüber der Nordwind sein Lied sang und daran die beschneiten Tannen auf hohen Felsen standen wie Weiße trauernde Frauen.

Nur die eine Frau trauerte nicht.

Still lag der Schmied und röchelte, wenn er an diese Frau dachte.

Nein, sie trauerte nicht!

Sie hatte ihn ins Irrenhaus gebracht, ihn für einen Narren erklären lassen, daß sie geschieden wurde von ihm und den Talmüller heiraten konnte.

In das Irrenhaus hat sie ihn gebracht, und derweil er dort war, Hochzeit gemacht und getanzt!

Weil sie nicht bleiben wollte in seiner Einsamkeit, weil sie sich oft fürchtete vor ihm und vor dem, was er sprach und tat.

Fürchtete vor ihm, von dem am Ende der klügste aller Ärzte gesagt hatte, er sei ein gutmütiger Sonderling und sonst nichts.

Hatte sich scheiden lassen! Und er hatte sie geliebt.

So lag er und röchelte tief innerlich, bis der Papagei rief:

»Schmied, denk nicht dran, denk nicht dran!«

Das war das einzige, was Peter dem seltsamen Vogel eingelernt hatte.

….

 

 

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