Jugend

Jugend – Dora Duncker

Eine Novellensammlung der deutschen Schriftstellerin, die unter anderem auch viele Jahre den Kinderkalender “Buntes Jahr” herausgab. Inhalt: “Jugend”, “Seine Letzte”, “Unüberwindlich”, “Gundula”, “Die Tragödie einer Ehe.”

Jugend

Jugend.

Format: eBook

Jugend.

ISBN eBook: 9783849655129

 

 

Auszug aus dem Text:

Auf der geräumigen Terrasse des »Tirolerhofes« in Innsbruck ist es allmählich stiller geworden.

Die Reisenachzügler, die der blaue Septemberhimmel verlockt hat, die köstliche Sommerrast noch in den Herbst hinein auszudehnen, sind mit Rucksack und Alpenstock ausgezogen, um den frischen Neuschnee, den die kalten Nächte gebracht haben, in der Nähe zu betrachten. Die bequemeren Reisebummler, die zumeist auf dem Weg über den Brenner begriffen sind, haben ihre Handbücher genommen und sind in die malerische Stadt hineingeschlendert, der die schneehäuptigen Bergriesen neugierig auf die Dächer und in die engen Straßen schauen.

Von der Servitenkirche schlägt es zwölf Uhr, als der letzte Frühstücksgast sein Reisebuch vom Tisch nimmt und durch die tiefe, breite Torwölbung des alten patriarchalischen Hauses auf die sonnenbeschienene Straße hinausgeht.

Die schlanke, vornehm gekleidete Dame, die bisher still in der Nähe der schützenden Glaswand gesessen hat, scheint nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben. Jetzt, da sie allein geblieben ist, springt sie elastisch auf, durchmißt ein paarmal den großen Raum, beugt sich über die Holzbrüstung zu den blühenden Oleanderbäumen in dem kleinen Garten hinab und bleibt dann plötzlich mitten in der Sonne stehen, die lichtbraunen Augen auf die schneebedeckten Schroffen gerichtet, die sich in zarten Konturen von dem blauen, wolkenlosen Himmel abheben.

Wie sie so dasteht, mitten im Sonnenschein, geht etwas Lachendes, Erwartungsvolles, Jugendfrohes von ihr aus. Die bleichen Fäden, die sich schon hie und da in das volle goldblonde Haar mischen, die kleinen Falten und Fältchen um Mund und Augen, die die Vierzigjährige verraten, die senkrechte Falte zwischen den merkwürdig dunkeln Brauen, die energisch auf den feinen, geraden Nasenrücken zuläuft und von schmerzlich Nachdenklichem erzählt, sind in diesem Augenblick wie fortgewischt. Mit leichten, frohen Schritten geht sie wieder auf ihren Platz an der Glaswand zurück. Sie schiebt die kleine rotbraune Juchtenmappe, mit der sie bisher lässig gespielt hat, vor sich hin, als ob sie sie öffnen wolle. Dann lächelt sie und legt die vornehme, mit wenigen kostbaren Steinen geschmückte Hand darüber.

Ein Ausdruck stiller, köstlicher Sicherheit geht über ihr schönes Gesicht.

Ein leichtes Knistern des gedielten Bodens schreckt sie auf. Ein livrierter Hoteldiener kommt auf sie zu, einen Brief in der Hand. Einen Augenblick erschrickt sie. Seiner Sache nicht ganz sicher, fragt er: »Fräulein Lena v. Magnussen aus Berlin?« Ihre Blicke erhellen sich wieder.

»Ganz recht, für meine Tochter.«

»Werden die Herrschaften im Hause speisen? Lunch oder Diner?«

»Das Diner um sieben Uhr. Meine Tochter ist mit ihren Freunden auf dem Patscherkofel. Wir werden vier Plätze brauchen.«

Der Diener verneigt sich höflich und wendet sich zum Gehen.

Frau v. Magnussen ruft ihn noch einmal zurück. Eine feine Röte steigt in ihrem Gesicht bis zu den blonden Haarspitzen auf, als sie jetzt sagt:

»Reservieren Sie für alle Fälle einen fünften Platz.«

»Sehr wohl, Gnädigste.«

Sie wartet, bis der Diener in dem großen Speisesaal verschwunden ist. Dann nimmt sie einen Schlüssel aus dem silbergeflochtenen Geldtäschchen und öffnet die kleine Juchtenmappe.

Sie nimmt einen Brief, in einem geöffneten Umschlag steckend, heraus und überfliegt die Aufschrift mit zärtlichen Augen.

In großen, festen Zügen steht die Adresse da:

»Frau Charlotte v. Magnussen aus Berlin, zurzeit Innsbruck, Tirolerhof.«

Gestern mit der ersten Post ist der Brief aus München gekommen. Jetzt ist es zwölf Uhr vorüber.

In sechs bis sieben Stunden, bei Anbruch der Dunkelheit, wird er da sein, werden sie einander wiedersehen nach fünf langen Jahren der Trennung.

Wie sie diese fünf Jahre getragen hat, weiß sie jetzt selbst nicht mehr, jetzt, da ihr die wenigen Stunden, die sie noch von ihm trennen, unüberwindlich erscheinen.

…..

 

 

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