Kritik der Gegenwart

Kritik der Gegenwart – Hermann Bahr

In diesem Band veröffentlichte Bahr seine besten Essays und Aphorismen. Der in Linz geborene und in München verstorbene Bahr verfasste im Laufe seines Lebens über vierzig Theaterstücke, zirka zehn Romane, viele kritische Schriften sowie eine Autobiographie.

Kritik der Gegenwart

Kritik der Gegenwart.

Format: eBook.

Kritik der Gegenwart.

ISBN eBook: 9783849654849

 

 

Auszug aus dem Text:

16. Nov. 1919

Ibsen schrieb einst an Brandes: »Ueberhaupt gibt es Zeiten, da die ganze Weltgeschichte mir wie ein einziger großer Schiffbruch erscheint – es gilt sich selbst zu retten!« Schiffbruch überall, das ist die Grundstimmung seines Lebens und: wie retten wir uns? die Grundfrage seiner Werke gewesen. Keiner hat stärker empfunden, was aus dem Menschen werden könnte, keiner schmerzlicher, was dem Menschen unterschlagen wird, keiner grimmiger, wer es ist, der uns um uns selber betrügt: er wußte, daß der Staat, unter welchem Namen, in welchen Masken immer, die Seelen frißt, daß er uns keine Wahl läßt, als indem wir uns ihm ergeben, uns selber zu vernichten oder aber, um unser selbst mächtig zu werden, ihn, und daß es also für einen Mann, der sich nicht verraten oder doch verleugnen will, gar kein anderes Verhältnis zum Staat gibt, als das der Revolte. Wenn Ibsen uns mehr als eben auch wieder bloß ein artiges Geistesspiel gewesen wäre, hätten wir uns niemals einbilden können, Freiheit sei gewonnen, sobald der alten Staatsmaschinerie nur ein neuer Hut aufgesetzt und ihren Fängen ein rotes Tuch umgehängt wird, und mein lieber, herzensdummer Freund Egon Erwin Kisch, Journalist, Dichter, Soldat, Rotgardist und allerweil Prophet, wäre nicht so verdutzt, sich jetzt in der glorreichsten aller Republiken unversehens, wie mir aus Wien geschrieben wird, nach der berühmten kaiserlichen Verordnung von l854 zu fünf Tagen Arrest verknurrt zu sehen. Denn daß, selbst wenn dereinst das Gedächtnis aller Kaiser in der ganzen Welt erloschen wäre, doch Oesterreich noch immer nach der kaiserlichen Verordnung von 1854 regiert werden wird, das steht fest, fester als die Republik! Ich kenne sie, diese kaiserliche Verordnung von 1854, das »Prügelpatent«, ich kenne sie persönlich aus meiner Studentenzeit, an ihr ist mir ja damals unser altes Oesterreich erst ganz klar geworden, von dem sie wirklich das beste Kompendium war. Ihr Inhalt ist ungefähr, in Kürze, daß, wer absolut nicht verurteilt werden kann, weil gar kein Paragraph auf ihn paßt, daß der um dieser Frechheit willen nach der kaiserlichen Verordnung von 1854 verurteilt werden soll; sie bedeutet auch eine große Ersparnis an Zeit, weil man seitdem nicht mehr lang in Gesetzen herumzusuchen braucht, sondern überhaupt gleich verurteilen kann; sie macht eigentlich jedes Strafgesetz überflüssig und hat auch noch den Vorzug, daß sie nicht erst, wie das Strafgesetz, etwas zu Strafendes voraussetzt, sondern ruhig auch auf den unsträflichsten Menschen angewendet werden kann, so daß sich mit ihr auf Wunsch jederzeit die ganze Bevölkerung sogleich verhaften läßt. Als ich vor sechsunddreißig Jahren, ein wilder Student in Graz, nach dieser lieben Verordnung verurteilt worden war, kam ich, etwas unsicher zu meinem guten Vater heimkehrend, auf einen rettenden Einfall: ich gab meine Schuld ohne weiteres zu, focht aber diese Verordnung juristisch an; und ich hatte mich nicht verrechnet, der Vater, ein aufrechter Altliberaler, schämte sich selbst, daß es derlei Kautschukparagraphen in unserer aufgeklärten Monarchie noch gab, und wies mich nur zur Entschuldigung darauf hin, daß dieses Patent ja noch ein Produkt der allerschlimmsten reaktionären Zeit und offenbar nur »aus Versehen« stehengeblieben sei, wie ein vergessener alter Regenschirm. Daß jener altösterreichische Liberalismus aus lauter solchen »Versehen« bestand, hat mein Vater nicht bemerkt, ich aber habe keinen Augenblick daran gezweifelt, daß auch die Republik sich der stehengebliebenen Regenschirme bedienen und lustig weiter kaiserlich verordnen wird. Ach, daß doch Viktor Adler auferstünde, nur für einen Tag, um sich dieses Gaudium anzusehen!

18. Nov.

»Die Schlamperei der Revolution hat uns das ganze alte Oesterreich unangetastet erhalten,« sagt Walter Rode in einer kleinen Schrift über »Wien und die Republik« (Verlag Karl Wilhelm Stern, Wien und Leipzig) und an einer anderen Stelle fragt er da: »Glaubt man, daß unsere Bureaukratie, weil sie die Fähigkeit bewiesen hat, den alten Staat zugrunde zu richten, deswegen einen ganz neuen, noch nicht dagewesenen Staat aufbauen kann?« Ich will ihm nicht widersprechen, keineswegs, muß aber doch nun meinerseits fragen, ob er denn glaubt, in Oesterreich wäre jemals eine andere Revolution möglich gewesen als eine schlamperte, mit Erlaubnis und unter den wohlwollenden Augen der Bureaukratie? Schlamperei und Bureaukratie sind ja wahlverwandt. Zunächst entstand unsere Bureaukratie schon aus Schlamperei. Aus einer Schlamperei der Dynastie, die sich sonst nie diese Laus in den Pelz gesetzt, und aus einer Schlamperei des Hochadels, der sonst nicht für bloßen Schein auf die Macht verzichtet hätte. Ja noch mehr: ihrem Wesen nach ist diese Bureaukratie von Anfang an nichts als unsere nur in Staatsbetrieb gesetzte Schlamperei. Andere Menschenarten wollen und handeln; die österreichische hat dazu weder Kraft noch Lust. Sie braucht daher immer einen, der »es ihr richtet«. Niemand unter uns weiß, was er will; es muß also jemand da sein, der es ihm sagt. Das hilft ihm aber auch noch nicht viel: denn niemand unter uns kann wollen, wir möchten bloß; es muß also dann jemand da sein, der ihm dieses Manko deckt. Und schließlich muß, weil niemand unter uns, selbst wenn er wollte, handeln kann, auch noch jemand da sein, durch den es geschieht. Dies alles zusammen heißt auf österreichisch »sich etwas zu richten wissen« und recht eigentlich als öffentliches Organ dieser Kunst ist die Bureaukratie entstanden, als die Habsburger sich schon so weit verösterreichert hatten, daß auch sie sich ohne die Kunst des »Richtens« nicht mehr zu helfen wußten, ungefähr um dieselbe Zeit, als sie Lothringer wurden. Es sah seitdem nur noch aus, als ob sie regierten; sie selber wußten aber ganz gut, daß längst der Hofrat regierte: daher auch ihr wachsender Ehrgeiz, immer weniger Habsburger zu sein und immer mehr zum Hofrat zu werden, was sich dieser aber, der wirkliche Hofrat, energisch verbat, indem er schließlich zu frondieren begann und sich schließlich statt der Habsburger jenes Amphibium mit dem sozialisierenden Kopf und dem christlichsozialen Gemüt nahm, dessen rastloser Mund von Karl Renner betrieben wird. Wie der Hofrat gestern für die Habsburger dieses Amphibium eingetauscht hat, kann er morgen natürlich auch das Amphibium wieder vertauschen, das Amphibium kann aber nicht den Hofrat vertauschen, weil es ein österreichisches Amphibium ist und also selber immer erst jemanden braucht, der ihm das alles zu richten weiß. Nein, alles kann man in Oesterreich fortschicken, schließlich auch den Rest von Oesterreich selbst, aber nur den Hofrat nicht, es wäre denn, daß unter uns ein Menschenstamm erschiene, der wollen kann, wollen und seinen Willen selber tun! Aber, wie man in Wien zu sagen pflegt: Woher denn nehmen und nicht stehlen? Und wenn er selbst erschiene, dann würde Wien erst wieder sagen: Der kann uns gestohlen werden! … Allerhand Kluges steht in Rodes Schrift. Den geistigen Gehalt der Regierung formuliert er so: »Revolution und Gegenrevolution verkrusten sich zu einer Koalition, in der die Handhabung der landesüblichen Schikanen dem Proletariat als Diktaturersatz überlassen wird.« Auch die tragische Situation Wiens, die sich die meisten Wiener noch immer nicht eingestehen wollen, erkennt er: »Wien hat aufgehört, ein Herrschaftszentrum zu sein. Nicht mehr sind die Länder zwangsweise an Wien gebunden; Wien ist auf die Kräfte seiner natürlichen Anziehung beschränkt.« Aber ich fürchte, selbst er überschätzt diese »Kräfte der natürlichen Anziehung« noch. Was bleibt denn Wien eigentlich noch? Es war die Kaiserstadt. Es war die Hauptstadt eines großen Reiches. Es war ein Wahrzeichen der barocken Welt. Die Welt ist längst nicht mehr barock, der Kaiser ist weg, das Reich ist weg. Es bleibt die Hauptstadt von Niederösterreich. Und seine Schönheit, Anmut und Laune bleibt ihm, für die nur leider aber keine Zuschauer mehr da sind; und gerade Wien hat immer sehr den Zuschauer gebraucht, für den und an dem es immer erst zu voller Entfaltung kam! Wien ohne den Zuruf eines begeisterten Publikums, Wien vor leeren Bänken, Wien mit sich allein? Speidel, der Wien so durchschaut hat, wie das nur fremden Augen gelingen kann, versichert freilich einmal: »Der Wiener hat stets die Kunst besessen, sich aus widerwärtigen Lagen durch eine wunderbare Schnellkraft der Seele rasch wieder herzustellen.« Worauf wartet diese »Schnellkraft der Seele« dann eigentlich noch? Fühlt Wien noch immer nicht, was ihm rings überall droht? Ressentiment, hundertjähriges Ressentiment, das Ressentiment dumpf Arbeitender gegen den festlichen, leicht lebenden Herrn! Jeder alte Mann in der Provinz, der vor Jahren einmal als hungernder Student unter der Tegetthoff-Säule stand und neidisch die bekränzten Wagen zur Hauptallee rollen sah, brummt heute befriedigt: Los von Wien! … Jetzt muß Wien einmal zeigen, was es aus eigener Kraft vermag. Verschwender, dritter Akt. Aber kein Valentin weit und breit!

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