Leander und andere Erzählungen

Leander und andere Erzählungen – Hermann Bahr

Dieser Sammelband beinhaltet u.a. folgende Geschichten des Wiener Schriftstellers: “Die treue Adele”,  “Mit der Nase”, “Der verständige Herr Dora”, “Der Prinz”, “Mein Engländer”, “Leander” u.a.

Leander und andere Erzählungen

Leander und andere Erzählungen.

Format: eBook.

Leander und andere Erzählungen.

ISBN eBook: 9783849654832

 

 

Auszug aus “Die treue Adele”:

Ja, gleich um die Ecke! Rechts, wenn man hinuntergeht, neben dem Gewürzkrämer, gerade dem Fenster gegenüber, wo die vier nassen Zwilchhosen hängen. In diesem schmalen, finsteren, aschgrauen, verwitterten und verwaschenen Langhause mit den zwei unheimlichen, grinsenden, dottergelben Flecken über dem Tor, unter dem grasgrünen Schild der alten Kuhlemann. Dort, wo die Laterne mit der zerbrochenen Scheibe ist. Es wird immerfort Drehorgel gespielt in dem feuchten, engen, winkeligen Hof mit den vielen Karren und der langen, von dampfender Wäsche belasteten Leine, den ganzen Tag. Ja, da wohnt sie. Wer ihr einmal nachgestiegen ist, weiß es. Das ganze Quartier weiß es.

Übrigens: das ist nicht so einfach, ihr nachzusteigen. Jeder Platz ist besetzt in dem Kondukt, von ständigen Abonnenten. Immer: den ganzen langen Weg bis zu dem großen Galanteriegeschäft in der breiten Straße, in dem sie die weichen, mattgelben, schwedischen Handschuhe verkauft und die braunen, fleckigen Rohre mit den dicken, goldenen Kugeln am Ende. Früh und spät: morgens, wenn sie mit hastig zusammengerafften Kleidern, die Hutnadel verbogen, den Cul lose und schief, an dem zierlichen Stiefelchen den dritten Knopf ins fünfte Loch verirrt, daß sich das Leder ächzend sträubt, das spitze, in einen Widerhaken ausgebogene Näschen, auf dessen hellflaumige Wurzel die blonden Flocken der widerspenstigen Stirnlocke niederbaumeln, fröstelnd in die kitzelnde Schmeichelei der grünlich-weißen Boa vergraben, allen Grüßen blind und jeden Augenblick in einen ahnungslosen Wanderer verrannt, atemlos und immer verspätet, wie ein kleiner Schraubendampfer dahinkeucht; abends, wenn sie mit zierlich glatter Taille, den Ärmel mit weiser Sorgfalt ein wenig zurückgeschlagen, daß sich das Armband zeigt, die runden Wangen leicht mit Puder eingestäubt, den rosigen Schleier kokett auf die kirschige Oberlippe gezogen, mit schweifendem Blicke, vor jedem Schaufenster ihre Neugierde anhaltend, jeder vorwitzigen Bewunderung mit einem glücklichen Lächeln dankbar, lässig und gemächlich, wie ein selbstgefälliges Segelschiff im sommerlichen Winde, nach Hause trottet.

Eine kuriose Menagerie, diese Abonnenten der Begleitung, die die kleine Tierbändigerin alle Tage hinter sich herschleppt! Da ist der klapperbeinige Leutnant, von den blauen Dragonern mit dem fuchsroten Schnurrbart und den ziegelroten Wangen und der veilchenroten Nase, ein brennender Dornbusch auf Stelzen! der immer sagt: »Man muß die Blümchen, die der liebe Gott gepflanzt hat, begießen, sonst verkümmern sie.« Dann der dicke Assessor mit dem glänzenden Gesicht, der eigentlich »prinzipiell die Witwen vorzieht«, aber doch nicht bloß Prinzipienreiter ist. Der junge Mann der alten Kuhlemann, der Hebamme, mit dem fetten, faltigen, schwarzen Kandidatenrock, ein dürrer, finsterer, behender Schatten, mit zwei unheimlichen, gierig lodernden Feuerballen in dem verkohlten und ausgesogenen Gesicht, der aus England her die heiligen Traktätlein und nach England hin die unheiligen Mägdlein besorgt, ein ergiebiger Tauschhandel. Dann der eilige Rechtsanwalt, der immer alle Hände voll zu tun hat, mit fuchtelnden Armen und zappelnden Beinen, und im Schnee noeh schwitzt, aber doch, sooft er die Kleine sieht, »Donnerwetter« sagt und seinen überstürzten Galopp einen Augenblick anhält, den Überschuß seiner bewegten Seele in ein großes, feuerrotes Tuch ausschnaubend, auf welchem die ganze Schlacht bei Wörth gemalt ist mit dem Kronprinzen zu Pferd, den Degen blank und hochgeschwungen. Dann der blonde August, der Agent, mit dem strohgelben, stacheligen Schnurrbart, die Liebe aller Kellnerinnen, weil er die besten Plätze in den Kneipen zu vergeben hat, und er weiß auch so schön zu tun und erzählt immer die schnurrigsten Geschichten, der sie nicht anschauen kann, ohne einen schmerzlichen Seufzer: »schade, jammerschade!«, und es immer wieder aufs neue versucht; denn er treibt sein Geschäft nicht bloß um Gewinn, sondern aus Neigung, mit Leidenschaft, wie ein Blumenzüchter. Und wenn es regnet, da ist dann noch überdies der ehrwürdige, alte Maler, der die wunderschönen, bleichen Madonnen malt, mit dem wehmütigen Lächeln und der frommen Himmelssehnsucht im schmachtenden Auge, aber nur wenn es regnet, daß man nur auf den Zehenspitzen über die Straße trippelt, mit angewandter Vorsicht – denn er will etwas sehen, etwas Gediegenes und etwas Reelles.

Am besten hatte es entschieden der dicke Doktor. Doktor, aus Höflichkeit der Leute nämlich, nicht eigentlich vor den Behörden, die immer gleich was Schriftliches verlangen. Und er zog auch schon lange genug auf den Hochschulen umher, daß er es wohl verdiente, und überall, in ganz Deutschland, jedes Halbjahr woanders, Nord und Süd.

Die Mediziner sind überhaupt glücklich daran mit den Frauen. Sie sind so verwendbar. Sie wissen allerhand Rat und wie man das vermeidet und wie man sich da heraushilft; wenn man es auch gerade nicht braucht, so weiß man doch nie, was einem nicht noch irgend einmal passiert. Und dann, es ist mit ihnen wie mit dem Pfarrer: da braucht man sich nicht zu genieren. Und natürlich, sie sich auch nicht. »In unserem Berufe!« sagen sie mit Würde und machen das ernsteste Gesicht zu den lustigsten Sachen. ‘

Und dann kann man lange nach einem suchen, mit dem man sich so prächtig amüsiert! Er schnarrte von Schnurren, wie eine Rakete, der Doktor. Er wußte immer das Neueste, und es war immer zum Totlachen. Er hatte auch immer Zeit, wenn man wollte. Und immer fiel ihm wieder was ein. Und Geschichten hatte er erlebt, nein, Geschichten! Wenn einer so in der Welt herumkommt, der erfährt es erst, was mit ihnen los ist, mit diesen vornehmen Damen. Jawohl! Und das will noch hochmütig sein, am Ende. Und dann war er so aufmerksam, wirklich nett. Gleich als er eingezogen war, das erste Mal, da sie sich auf der Treppe begegneten, hatte er ihr schon den Puls gefühlt, ob sie nicht krank sei. Ohne daß es was gekostet hätte. Und dann meinte er, sie hätte vielleicht einen kleinen Herzfehler. Und zum Kaffee hatte er immer vorzüglichen Kuchen mit Schlagsahne.

Dahingegen der lange Friedrich! Er war zur nämlichen Zeit eingezogen wie der Doktor: auch ganz oben, im vierten Stocke, unter dem Dache, die Stube nebenan. Sie sah ihn kaum mehr an. Es war nichts los mit dem; und überdies trug er die Haare auf der Seite gescheitelt, und nicht einmal durchgezogen. Solche Leute läßt man einfach links liegen, sagte sie mit der zuversichtlichen Entschlossenheit desjenigen, der genau weiß, was er zu tun und zu lassen hat.

Er hatte ein besonderes Pech mit ihr, der lange Friedrich mit den roten Händen und den kurzen Hosen, abgestoßen und ausgefranst am Ende, mit wegstehenden Fäden. Er liebte sie.

Er liebte sie, wie man mit siebzehn Jahren liebt, wenn man in einer kleinen Stadt unter großen Büchern aufgewachsen ist, in Träumen, und alte Philologie studiert. Er hatte lange das Bedürfnis nach Liebe: ein Bedürfnis nicht nur des erwachenden Herzens, ein Bedürfnis des reifenden Geistes, um seine Bildung zu ergänzen und seinen Klassikern gerecht zu werden. Nun hatte er die Liebe. Seit dem ersten Tage, da er sie das erste Mal gesehen, wußte er’s.

Was nun? Zunächst machte er Gedichte. Einen Monat lang, anderthalb. Dann wurde er verwegen. Seine Begierde warf die Zügel ab. Er dachte sogar daran, sie einmal anzureden.

An diesem Tage, nachdem er lange mit sich gekämpft, wagte er es. Als er ihr begegnete, unten auf dem Treppenabsatz, zögerte er einen Augenblick, sah sich nochmals nach allen Seiten um, ob sie auch wirklich allein wären, von keinem Verräter belauscht, und indem er sich rasch einige Beispiele heroischen Mutes aus der Geschichte zu Hilfe rief, wagte er es: mit einer linkischen Gebärde zog er den Hut, sagte stammelnd: »Guten Tag, Fräulein«, und bis in die Schläfe hinein errötend, indem er mit einem stolpernden Satze gleich vier Stufen auf einmal nahm, war er atemlos um das Tor verschwunden. Was tun? Was tun? Schreiben? Sagen würde er es ihr doch nie können.

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