Mein Lebensabend – Peter Altenberg
Die Autobiografie eines der beruhmtesten osterreichischen Schriftstellers, geboren 1859 in Wien, gestorben 1919 ebenda, gestaltet sich wie sein Leben. Zerpfluckt in Aphorismen, manchmal wirr und dennoch sehr unterhaltsam, gehoren seine Geschichten zu den Klassikern.
Format: eBook.
Mein Lebensabend.
ISBN eBook: 9783849654696
Auszug aus “Erinnerungen”
Ich soll für ein großes Blatt meine »Memoiren« schreiben. Ja, sind denn nicht alle diese tausend Impressionen in meinen neun Büchern bereits meine »Memoiren?« Ach, Sie meinen zum Beispiel so:
Es waren einmal zwei gutsituierte hübsche Brüder, die einen Engroshandel mit kroatischer Bauernware hatten. Es war im Jahre 1857. Da begab es sich, daß die beiden eleganten Brüder in Wien auf einem »Eliteball« waren, wo zwei Schwestern ob ihrer Schönheit dem Erzherzog Karl Ludwig vorgestellt wurden. Um die Jüngere hielt nun der jüngere Bruder am nächsten Vormittag an. »Ja, mein lieber Herr, das wäre ja ganz prächtig, denn Sie sind wohlsituiert und unsere Töchter besitzen nur ihre Schönheit. Aber vor Hermine muß Pauline die ältere, Achtzehnjährige, verlobt sein!« Da ging der jüngere Bruder denn hin zu dem älteren Bruder und erzählte ihm diese Angelegenheit. Da sagte der ältere Bruder: »Ich darf deinem Glück nicht im Weg stehen, Pauline ist ebenso schön wie deine Hermine, ich werde heute noch mich mit ihr verloben!« Dieser ritterlichen Bruderliebe verdanke ich meine Anwesenheit auf Erden! Meine Mama hieß Pauline.
Matura
Interessiert es Sie, daß ich bei der »Matura« im Wiener »Akademischen Gymnasium« für meinen Aufsatz: »Inwiefern ist ›Iphigenie‹ von Goethe ein ›deutsches‹ Drama?!« »ganz ungenügend« erhielt? Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß ich heute, nach vierzig Jahren, nicht bei diesem Thema durchfiele! Die Anderen, meine werten, eigentlich unwerten Kollegen, merkten sich einfach alles, was man ihnen so im Laufe der »Oktava« darüber beigebracht hatte! Ich aber hörte nie zu. Denn »Iphigenie« gefiel mir aufrichtig, aber »inwiefern«, interessierte mich nicht. Nach einem halben Jahre mußte ich im »Theresianischen Gymnasium« die Prüfung wiederholen.
Das Thema des »Deutschen Aufsatzes« lautete diesmal: »Einfluß der Entdeckung Amerikas auf die Kultur Europas.« Ich schrieb, nach längerem Nachdenken, das gewichtige Wort: Erdäpfel!
Es ist merkwürdig, weshalb man an 18- bis 19jährige Gehirne Anforderungen stellt, noch dazu bei Prüfungsaufregung, die die 40jährigen unaufgeregten Gehirne auch nicht so ganz leisten könnten?!? Was Wunder, daß man unter diesen Umständen aus Verzweiflung zum Dichter wird?! Da braucht man Gott sei Dank nichts »Positives« zu wissen.
Die Kindheit
Als ich acht Jahre alt war und »Privatunterricht« genoß, sagte man meinen Eltern, es sei für meine »Entwicklung« notwendig, daß ich »öffentlich« unterrichtet werde! Man schickte mich daher in die »Herrmanns-Schule« Schulerstraße. Ich verstand kein Wort, was vorgetragen wurde. Nach acht Tagen war ich wieder »privat«. Überhaupt, wo ich auch öffentlich lernte Zeit meines Lebens, ich verstand nie ein einziges Wort. Das war bei mir »pathologisch«. Es begann schon im Gymnasium. Ich hielt alles für chinesisch. Ebenso auf der »Universität«. Ich hielt vor allem alles für überflüssig und verzwickt. Ich wollte »das Leben direkt, nicht auf gelehrten Umwegen«! In Stuttgart in der Hof-Buchhandlung wollte ich in drei Monaten das theoretisch erlernen, was die »angestellten Kommis« in fünf Jahren erst nicht erlernen! Man sagte mir: »Die Praxis ergibt es!« Ich erlernte weder Theorie noch Praxis. Es war langweilig und geisttötend, obzwar man wenigstens mit »geistigen Werten« handelte. Ich floh von Stuttgart mit ausgeborgtem Geld und hielt es in »Reichenau bei Payerbach, Hotel Thalhof«, für fördernder. Da war herbstlicher Wald, feuchtes Moos, Bergnebel, des Brünnleins Plätschern bei Nacht. Ich vermißte »die Arbeit« gar nicht, mein Vater sagte, er wisse nicht, wohin ich steuere, aber es sei nicht seine Sache. Ich steuerte in die Almen des Schneebergs. Wohin steuern die andern? Pfui!
Der Hofmeister
Ich hatte einen Hofmeister, den ich fanatisch verehrte, den jetzigen Augenprofessor L.K. Meine um zwei Jahre jüngere Schwester Marie, jalso zehnjährig, hatte eine Schweizer Gouvernante, Amelie Leutzinger. Wir lebten infolgedessen drei Jahre lang ein wahres seelisches Paradiesleben und beneideten niemanden, denn wir waren zufrieden mit der ganzen Lebenskonstellation im Elternhaus. Plötzlich glaubte Mama zu erkennen, daß Hofmeister und Gouvernante sich nicht ganz gleichgültig seien. Obzwar meine Schwester und ich das schon längst als ein festigendes Band der gesamten Beziehungen im Elternhause nur mit Freuden begrüßten und konstatierten, war Mama, einer älteren und vorurteilsvolleren Generation entsprossen, anderer, vor allem skeptischerer Ansicht, und sagte eines Tages ostentativ bei irgendeiner Gelegenheit zu meinem geliebten Hofmeister: »Sie sollen sich ausschließlich, ja ausschließlich auf die Freundschaft mit meinem Sohne konzentrieren, verstehen Sie mich?«
Ja, er verstand und kündigte.
Infolgedessen verweigerten meine Schwester und ich durch drei Tage die Nahrung. Am vierten Tag wurde die »Kündigung« seinerseits zurückgenommen und Amelie Leutzinger ging freiwillig in die Schweiz zurück. Mein Väter sagte damals zu Mama: »Pauline, bitte, menge dich nicht mehr in so heikle Angelegenheiten unserer Kinder hinein!«
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