Rosa und Ninette

Rosa und Ninette – Alphonse Daudet.

Im Licht des Wissens, dass Scheidung nur im ersten Moment das Gefühl der Freude und Erleichterung gibt, kreierte Daudet die Charaktere in diesem Buch. Der Dramatiker Regis und seine Frau erkennen, dass sie nicht mehr zueinander passen und beim Versuch, ihre Scheidung zu vollziehen, spielen Rosa und Ninette entscheidende Rollen.

Rosa und Ninette

Rosa und Ninette

Format: eBook

Rosa und Ninette.

ISBN:  9783849652876

 

Auszug aus dem ersten Kapitel:

 

Seit vierzehn Tagen geschieden und noch ganz im Freudenrausch über das Ende seiner Qual, spähte Regis von Fagan am heutigen Morgen durch die weit geöffneten Fenster seiner neuen Junggesellenwohnung nach dem Erscheinen seiner Töchter, deren Besuch ihm das Gericht an zwei Sonntagen im Monat zugesprochen hatte. Heute war ihr erster Sonntag, und unter dem Haufen von Frauenbriefen, die es seit einigen zwanzig Jahren auf den Tisch des beliebten Lustspieldichters geregnet, hatten ihm wenige das Herz so bewegt, wie dieses einfache, gestern angelangte Bilett:

»Mein lieber Vater!

»Wir werden morgen früh mit dem Zehnuhr-Zuge in Passy sein. Fräulein wird uns bis 37 Boulevard Beauséjour begleiten und uns abends ganz pünktlich neun Uhr wieder abholen.

Deine
Dich sehr liebende und verehrende Tochter
Rosa von Fagan.«

Darunter hatte in einer großen, noch etwas ungelenken Handschrift die jüngere Schwester ihren Namen »Ninette« geschrieben.

Und jetzt in der Unruhe der Erwartung fragte er sich, ob sie auch wirklich kommen, ob die arglistige, betrügerische Mutter oder jenes undurchdringliche Fräulein nicht im letzten Augenblick einen Vorwand erfinden würden, um sie zurückzuhalten. Nicht daß er an der Liebe seiner Kinder gezweifelt hätte! Aber sie waren so jung – Rosa kaum sechzehn, Nina noch nicht zwölf Jahre alt – so schwach alle beide, sich feindlichen Einflüssen zu widersetzen, und zwar um so mehr, als sie, seit der Scheidung der Eltern aus dem Kloster zurückgekommen, der Mutter und der Gouvernante gänzlich überlassen waren. Sein Rechtsanwalt hatte sehr richtig zu ihm gesagt: »Die Partie steht nicht gleich, mein lieber Regis. Sie werden nur zwei Tage im Monat haben, um sich Liebe zu erwerben!« Gleichviel, mit seinen Zwei Tagen, wenn er sie gut anwandte, fühlte sich der Vater stark genug, um sich das Herz seiner Lieblinge zu bewahren. Aber diese zwei Tage mußte er auch voll und ganz, ohne Abzug haben. Und um so unruhiger, je mehr die Zeit vorrückte, erregter durch dieses, Stelldichein als durch irgend ein anderes, ob persönlicher oder geschäftlicher Natur, in seinem Leben, bewegte sich Fagan zornig hin und her, beugte seinen langen Oberkörper zu den Fenstern hinaus und schaute bald rechts, bald links den grünen, friedlichen Boulevard entlang, den auf einer Seite die durch ein Gitter und eine Hecke verdeckte Eisenbahn, auf der anderen eine elegante Häuserreihe mit Vorplätzen und Blumentöpfen und gepflegten Rasenplätzen begrenzten,

»Guten Tag, Vater … wir sind es!«

»Ihr! Aber von wo denn … wie denn?«

In seiner fieberhaften Aufmerksamkeit auf die Uhr, die Züge, die Spaziergänger des Boulevard, hatte er sie nicht kommen sehen; und so hatten sie das kleine Vorzimmer durchschritten und standen jetzt vor ihm, gewachsen, schien es ihm, frauenhafter geworden seit den zwei oder drei Monaten, daß er sie nicht gesehen hatte. Seine Hände zitterten, als er ihnen ihre anschließenden Jacketts und ihre mit Federn garnierten Hüte ablegen half. Auch die Kleinen machte die neue Situation ein wenig verlegen. Gewiß, ihr Vater war immer ihr Vater, der heitere, liebenswürdige Papa, der mit ihnen so hübsch gespielt, sie als kleine Mädchen auf seinen Knien hatte tanzen lassen; aber er war nicht mehr der Mann ihrer Mutter, und das war eine Veränderung, die sie nicht würden haben ausdrücken können, die sie aber fühlten und die sich in dem naiven Erstaunen ihrer Augen kundgab.

 

Diese efangenheit verschwand jedoch allmählich während der Besichtigung der den Mädchen noch unbekannten Wohnung, in welche die helle Maisonne hereinschien und deren Zimmer teils auf den Boulevard, teils auf das Hausgärtchen hinausgingen, das durch benachbartes Laubwerk vergrößert wurde. Fast alle Möbel waren neu. Nur in dem Arbeitszimmer fanden die Kinder die Bibliothek und den großen Schreibtisch wieder, an dem die väterliche Vorsicht die Ecken hatte abrunden lassen, welche den kleinen Köpfen beim Versteckspiel gefährlich werden konnten. Wie viel Erinnerungen in jedem Winkel dieses massiven Möbels, in jedem Messingbeschlag seiner Schiebladen! …..

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