Unter dem schwarzen Bären

Unter dem schwarzen Bären – Karl Gutzkow

In diesem autobiographischen Werk erzählt der Autor Erlebtes aus den Jahren 1811 – 1846.

 

Unter dem schwarzen Bären

Unter dem schwarzen Bären.

Format: eBook

Unter dem schwarzen Bären.

ISBN eBook: 9783849655648.

 

 

Auszug aus dem Text:

Vertrauensvoll ergreift ein Kind die Hand des Lesers. Es spricht: Komm mit! Ich will dich führen –! Wohin –? In eine Zeit um dreißig, wohl vierzig Jahre zurück! So könnte es zunächst antworten. Doch sagt es lieber gleich: Ich führe dich an den Rand der Ewigkeit, an den Uranfang der Tage, den auch du kennst, wenn du nur dein Ohr an das innerste Klopfen deines Herzens legen willst; ich führe dich zurück in die Zeit deiner ersten Jugend, wo der Mensch den Ahnungen der Ewigkeit so nahesteht, den ersten Dämmerungen alles geschichtlichen Lebens!

Der Schauplatz des Jugendmärchens, das alle erlebt haben und das wahrer ist als alle Geschichte, liegt wie in einer dunkeln, einsamen Kammer. Ist das uranfängliche Chaos eures Lebens, die unermeßliche, öde, dunkle Stille um euch her, der Mutterschoß eures geistigen Lebens nicht wie jene dunkle Boden- oder Polterkammer des Hauses, wohin eine Zeitlang der ausgediente Tannenbaum der Jugend verbannt wird und was nicht alles durcheinanderliegt! Entkleidet seiner goldnen Herrlichkeit, von der Glut seiner glänzenden Lichter halb versengt, wandert das vertrocknete grüne Reis in eine winterkalte Kammer zur schmutzigen Wäsche, zu leeren Kübeln, zu alten Besen. Ach, soll denn auch der liebe Baum sogleich in den Ofen? Es weinte doch die Dryade zu bitter, wenn sie schon am dritten Weihnachtstage in den Flammen sterben müßte. Die Eltern schonen das Herz der Kleinen und töten ihre Seligkeit nicht mit zu grausamer Eile.

Diese dunkle Kammer – dieser abgelegene Winkel unsrer heilig gehaltenen Erinnerungen, diese dunkle Dachbodenverbindung mit dem Ewigkeitstraum des vegetativen Kinderlebens, unter den Sternen geträumt – erhellt sich dann manchmal nach Jahren. Die schmutzige Wäsche des Alltagslebens, die alten Kübel der Sorge, die Besen des Schicksals werden beiseite geworfen, und der alte, noch nicht verbrannte Tannenbaum bekommt seine stramme Richte wieder und schmückt sich und strahlt in goldner Herrlichkeit. Was euch allen in Augenblicken solcher Freude (hervorgerufen leider! meist nur durch Leid und Wehmut des Alters) einen Berg zaubern würde, an dessen grünem Fuße ihr geboren wurdet, oder ein storchennestgehütetes Giebeldach im Dorfe, oder eine Hütte im Walde, oder einen Palast in rauschenden Städten, dasselbe Wunder führt denn nun zunächst den Knaben, der euch heute erzählen will, auf einen der schönsten Plätze Europas und der Welt.

Da, wo jetzt in der norddeutschen Hauptstadt Friedrichs des Großen Standbild auf die Umgebungen der Häuser, Kirchen, Paläste, die neuen Menschen, veränderten Sitten, gegenwärtigen Meinungen in stiller Mitternacht ein Gewesen! niederzuflüstern scheint, während der Anbruch des Morgens das glorreichste Auferstanden! verkündigt, am Beginn der freundlichen Boulevards, die, schon seit lange nur von wilden Kastanien geschmückt, immer noch “Unter den Linden” heißen, gegenüber der Wohnung des Prinzen von Preußen und späteren Kaisers und einem düsterschweigsamen, erinnerungsreichen Säulenhause, dem Palais der Oranier, liegt ein nicht hohes, aber in seinem Umfang majestätisches Gebäude.

Wer vorübergeht und ein Mann nach der Uhr ist, bleibt hier eine Weile stehen. Die Uhrkette wird gezogen und der Weiser der Taschenuhr bedächtig nach jenem großen Zeitmesser gerichtet, der an dem Hauptportal über einem langsam und feierlich bewegten Perpendikel schwebt. Diese akademische Uhr schlägt meines Wissens nicht laut. In alten Tagen unterhielt neben ihr auf der zerbröckelnden gelben Wand eine Sonnenuhr die Kontrolle des felsenfesten, unumstößlichen Dogmas der Normaluhr, die kritische Gegenprobe der angegebenen Stunden. Ginge in Berlin die Uhr der Akademie falsch, so wäre “etwas faul im Staate Dänemark”. Der Punkt, den Archimedes suchte, um die Welt aus ihren Angeln zu heben, liegt dem Berliner zwischen seiner akademischen Uhr hüben und dem Barometer Petitpierres drüben. Gib mir, wo ich stehen soll! predigen für die frommen Geheimräte die Büchsels und Krummachers in den Matthäus- und Dreifaltigkeitskirchen; Müller und Schulze haben nur einen festen Glauben: den an die Uhr der Berliner Akademie.

Ein wunderbares, ein Riesengebäude! Ein Pantheon aller Künste und Wissenschaften! Tempel der Minerva nach allen ihren Beziehungen – auch zum Kriege; Preußens Minerva muß ja als einjährige Freiwillige Schild und Lanze führen. Rings die Musen, in der Mitte Mars. Asyl der Künstler und Rennbahn der Kavalleriepferde. Die Trompete der Ulanen durcheinanderwirbelnd mit der Trompete Famas, die hier in einem Kämmerlein der akademische Historiograph des Landes zu blasen hat. Über der akademischen Uhr sollte aus der Mauer Pegasus springen; das Pferd ist es, dessen geflügelter oder zugleich hufbeschlagener Bedeutung dies ganze gewaltige Quadrat gewidmet ist, das man zu meinem Bedauern abzubrechen gedenkt.

Nach der Lindenfront hinaus liegen die von Friedrich dem Großen nach einem Brande wiederhergestellten Sammlungs- und Unterrichtssäle der hier vom ersten Preußenkönig schon in seiner Kurfürstenzeit errichteten Akademie der schönen Künste. Mehr zur Rechten, dem früher Prinz-Heinrichschen Palais, der heutigen Universität zu, beginnen die Säle und Sammlungen der Akademie der Wissenschaften, zu denen sich noch in der Stall- oder Universitätsstraße, der rechten Seitenflanke, die Druckerei der Akademie mit persischen, arabischen und Sanskritlettern, also halb gelehrten Setzern, gesellt. Auf der dritten Linie des Quadrats, die zur jetzigen Dorotheen-, früher “Letzten” (!) Straße hinausgeht, lag der akademischen Uhr gegenüber die damals von dem Astronomen Bode geleitete Sternwarte. Nach der vierten, der Charlottenstraße zu, führte eine Treppe zur Anatomie hinauf und zu den Hörsälen des alten, hier schon vor der Universitätszeit blühenden “medizinischen Kollegiums”. Alle andern Längenseiten, Turmpavillons und Vorsprünge dieses enzyklopädischen, allumfassenden Baues hatten eine Bestimmung, die man unter Umständen keine prosaische nennen kann, wenn sie auch mit dem wissenschaftlichen und artistischen Charakter der übrigen Teile nicht in nächster Berührung stand. Sie wurden zu Pferdeställen verwandt, teils für das Gardedukorps- oder Kürassier- oder Ulanenregiment, teils für die Bespannung der königlichen Prinzen und Seiner Majestät des Königs selbst.

Dies abenteuerliche, seltsame, lichte und dunkle, klassische und romantische Gebäude, ein Pegasusstall nach Hufbeschlag und Flügelschwung, mußte einem in demselben am 17. März 1811 gebornen Kinde, das ohnehin wie jedes Kind in einem Span geschnitzter Baumrinde Silberflotten, in einem blitzenden Kiesel Dresdener Grüne Gewölbe sieht, so gut wie das halbe Universum erscheinen. Ihr Armen, die ihr hier nur die Uhr, die Kunstausstellungen, die akademischen Leibnizsitzungen, die Boppschen Sanskritlettern, die funkelnde Kometenwarte, den Rudolphischen Kursus über Splanchnologie nebst den demonstrativen Spirituseingeweidegläsern, die Königlich Preußischen Wagenremisen und die Hauptwache der Ulanen seht, wie viel ist euch von der noch übrigen wahren Poesie dieses Pantheons oder Pandämoniums entgangen! Die inneren Höfe, die Pluvien dieses Tempels, die lauschigen Mysterien innerhalb dieser vier Straßen, unzugänglich allen Neugierigen, streng gehütet von den Kastellanen mit Rohrstöcken, von den königlichen Leibkutschern mit Peitschen, von den Schildwachen mit dem Sarraß – da gab es erst zu schauen, zu lauschen, zu schleichen, zu naschen, zu wühlen, mit romantischen Hilfsmitteln zu spielen! Inmitten dieser vier Langseiten gab es allerlei wirres Gemäuer. Düstre grasbewachsene Gänge führten zu schauerlichen viereckigen oder runden Türmen. Ohne Zweifel war das Innere des Quadrats dem Kinde wichtiger als die akademischen Säle, wo Schleiermacher zu Friedrichs des Großen Geburtstag über Plato, Wilken über die Kreuzzüge las oder Gottfried Schadow neuangekommene vespasianische Badewannen mit seiner kostbaren, allerweltbekannten Hausverstandslogik balneologisch und vom Standpunkte moderner Bequemlichkeit musterte. Hier zeichneten die künftigen Düsseldorfer, die Julius Hübner, Hopfgarten, später die Bendemann, Sohn, Hildebrandt als erste Studienklässer nach Gipsabgüssen, dort wurden eben von Italien Gemäldekisten zur Kunstausstellung ausgepackt und das Campagna-Romana-Stroh wie gemeines pommersches oder uckermärker Stroh vom Gendarmenmarkt behandelt. Hier ordnete man die Bücher der Akademiker oder zog von der Presse ein neues Werk von W. von Humboldt über die Kawisprache, in deren von einem Mustersetzer leise vor sich hin buchstabierte Gurgellaute sich das Roßwiehern einer Reitschulbahn für Gardekavallerie mischte. Dort krächzten um die Himmelskugel der Bodeschen Sternwarte Scharen von Raben, die der vergoldete, blitzhelle Glanz des großen Globus ebenso anlocken mochte wie der Leichengeruch von der grauenvollen, jeden Abend mit frischen Leichen versorgten Anatomie her. Aber wichtiger waren dem Knaben die schmetternden Trompeten, die Signale und Ablösungen von einer der Mittelstraße gegenüber gelegenen Wache, das Wiehern und Kettenrasseln von hundert Pferden, die durch Trommelschlag und Pistolenschüsse an kriegerischen Lärm gewöhnt wurden. Wichtiger waren ihm die kleinen Gartenplätze, die grünen Rasenbänke, die Lauben von wildem Wein und türkischer Bohnenblüte, die Fenster mit Terrassen von Goldlack, Levkoien, Astern, die großen Kästen mit Kresse, die ihre zinnoberroten, beizend-duftenden Blüten an Bindfäden bis hoch über die Fensterrahmen hinaus prangen ließ, welche Idyllenwelt dann von Kutschern, Bereitern, alten pensionierten Hofdienern griesgrämlich gehütet wurde. Da stand ein einziger, aber riesengroßer Nußbaum, der dem ersten Rosselenker des Königs gehörte und mit den drastischsten Mitteln gehütet wurde vor den lüsternen Blicken der Knaben, die schon glücklich waren, nur ein einziges duftendes Blatt von ihm zu erhaschen, das sie mit sanftem Fingerstrich in seinem zarten Geäder von dem Blattgrün befreiten und als übriggebliebenes zierliches Geripp in den “Brandenburgischen Kinderfreund” legten. Hier war alles Idylle. Die reizendsten Lockungen der Natur lagen in diesem stillen Seitenhof mit seinem einzigen Nußbaum, einzigen Blumenbrett und einziger grüner Rasenrabatte. Die Wohnung des so bevorzugten Selbstherrschers vom allerhöchsten Wagenbock lag mit jenem schattigen, früchteschweren Nußbaum, unter dem eine grüngestrichene Bank die Geduldeten zur Ruhe einlud, so versteckt, so malerisch, so dicht gelehnt an einen großen pittoresken Turm, von dessen eisengegitterten Fenstern oft mit Sehnsucht hinuntergeblickt wurde wie auf ein Landschaftsbild.

…..

 

 

Dieser Beitrag wurde unter G, Gutzkow-Karl, Meisterwerke der Literatur veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.