Christuslegenden (Deutsche Neuübersetzung) – Selma Lagerlöf
Selma Lagerlöf war die erste Frau, die den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die in diesem Buch gesammelten Geschichten und Legenden über Jesus Christus sind in Skandinavien weit verbreitet und werden zu Weihnachten und Ostern oft erzählt. Es sind leicht zu lesende, wunderschön erzählte Legenden, die Jesus, seine Jünger, die Kaiser Augustus und Tiberius und einen Kreuzritter zum Gegenstand haben. Dies ist die deutsche Neuübersetzung aus dem Jahr 2020.
Format: Taschenbuch/eBook
Christuslegenden.
ISBN Taschenbuch:9783849668914
ISBN eBook: 9783849659196
Auszug aus dem Text:
Als ich fünf Jahre alt war, überkam mich eine große Trauer! Ich kann kaum sagen, ob ich seitdem jemals eine größere empfunden habe.
Das war, als meine Großmutter starb. Bis zu diesem Tag saß sie immer auf dem Ecksofa in ihrem Zimmer und erzählte Geschichten.
Ich erinnere mich, dass Großmutter von morgens bis abends Geschichte für Geschichte erzählte, und dass wir Kinder daneben saßen, ganz still, und ihr zuhörten. Es war ein herrliches Leben! Keine anderen Kinder waren so glücklich wie wir. Es ist nicht viel, was mir von meiner Großmutter in Erinnerung blieb. Ich weiß aber, dass sie sehr schöne, schneeweiße Haare hatte und gebeugt ging, und dass sie immer dasaß und Strümpfe strickte.
Und ich erinnere mich sogar daran, dass sie jedes Mal, wenn sie eine Geschichte beendet hatte, ihre Hand auf meinen Kopf legte und sagte: “All das ist so wahr, wie dass ich dich sehe und du mich siehst.”
Ich erinnere mich auch daran, dass sie Lieder singen konnte, aber das tat sie nicht jeden Tag. Eines der Lieder handelte von einem Ritter und einem Meertroll und hatte diesen Refrain: “Es bläst kalt, kalt über dem Meer.”
Dann fällt mir auch ein kleines Gebet ein, das sie mich gelehrt hat, und ein Vers aus einem Kirchenlied.
An all die Geschichten, die sie mir erzählt hat, kann ich mich nur schwach und unvollständig erinnern. Nur an eine erinnere ich mich so gut, dass ich sie wiederholen kann. Es ist eine kleine Geschichte über die Geburt Jesu.
Nun, das ist fast alles, was ich mir über meine Großmutter ins Gedächtnis bringen kann, außer dem natürlich, was ich noch am besten weiß: die große Einsamkeit, als sie weg war.
Ich erinnere mich an den Morgen, als das Ecksofa leer blieb und es unmöglich war zu verstehen, wie die Tage jemals enden sollten. Daran entsinne ich mich gut. Das werde ich nie vergessen!
Und natürlich, dass wir Kinder die Hand der Toten küssen mussten, und dass wir Angst hatten, dieses zu tun. Aber dann sagte uns jemand, dass es das letzte Mal sein würde, dass wir Großmutter für all die Freuden danken könnten, die sie uns bereitet hatte.
Und dann weiß ich noch, wie die Geschichten und Lieder vom Gehöft weggefahren wurden, eingeschlossen in einem langen, schwarzen Sarg, und dass sie nie wieder zurückkamen.
Etwas war aus unserem Leben verschwunden. Es schien, als ob die Tür zu einer schönen, verzauberten Welt – die wir zuvor nach Belieben betreten und verlassen konnten – nun geschlossen war. Und es gab niemanden mehr, der wusste, wie man diese Tür öffnet.
Aber ich erinnere mich auch daran, dass wir Kinder nach und nach gelernt haben, mit Puppen und Spielzeug zu spielen und wie andere Kinder zu leben. Und dann kam es mir vor, als ob wir unsere Großmutter nicht mehr vermissen oder uns an sie erinnern würden.
Aber auch heute noch, nach vierzig Jahren, da ich hier sitze und die Legenden über Christus sammle, die ich dort im Orient gehört habe, erwacht in mir diese kleine Geschichte von Jesu Geburt, die meine Großmutter zu erzählen pflegte, und ich fühle mich fast schon gezwungen, sie noch einmal zu erzählen und ebenfalls in meine Sammlung aufzunehmen.
Es war ein Weihnachtstag und alle Leute waren in die Kirche gefahren, außer Großmutter und mir. Ich glaube, wir waren ganz allein im Haus. Wir durften nicht mitgehen, weil die eine zu alt und die andere zu jung war. Und wir waren beide traurig, weil man uns nicht zur Frühmesse gebracht hatte, um den Gesang zu hören und die Weihnachtskerzen zu sehen.
Aber als wir in unserer Einsamkeit zusammensaßen, begann Großmutter, eine Geschichte zu erzählen.
“Es war einmal ein Mann”, sagte sie, “der in die dunkle Nacht hinausging, um sich glühende Kohlen zu leihen, mit denen er ein Feuer entfachen konnte. Er ging von Hütte zu Hütte und klopfte. ‘Liebe Freunde, helft mir!”, sagte er. “Meine Frau hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, und ich muss ein Feuer machen, um ihr und dem Kleinen Wärme zu spenden.’
“Aber es war schon sehr spät, und alle Leute schliefen. Niemand antwortete.
“Der Mann ging immer weiter. Schließlich sah er weit entfernt das Leuchten eines Feuers. Da ging er in diese Richtung und sah, dass das Feuer im Freien brannte. Viele Schafe schliefen um das Feuer herum, und ein alter Hirte saß daneben und wachte über die Herde.
“Als der Mann, der sich Feuer leihen wollte, zu den Schafen kam, sah er, dass drei große Hunde zu Füßen des Hirten schliefen. Alle drei erwachten, als sich der Mann näherte, und öffneten ihre großen Kiefer, als wollten sie bellen; aber es war kein Geräusch zu hören. Der Mann bemerkte, dass sich die Haare auf ihren Rücken aufstellten und die scharfen, weißen Zähne im Feuerschein glänzten. Sie stürzten sich auf ihn. Er spürte, dass einer von ihnen an seinem Bein zerrte, einer seine Hand biss und ein anderen an seiner Kehle hing. Aber ihre Kiefer und Zähne gehorchten ihnen nicht, und der Mann erlitt nicht die geringste Verletzung.
“Dann wollte der Mann noch weiter gehen, um endlich das zu bekommen, was er benötigte. Aber die Schafe lagen Rücken an Rücken und so nah beieinander, dass er nicht an ihnen vorbeikam. Da stieg der Mann auf ihre Rücken und ging über sie hinweg zum Feuer. Und keins der Tiere erwachte oder bewegte sich.”
Bis dahin durfte Großmutter ununterbrochen erzählen. Aber an diesem Punkt konnte ich nicht anders, als sie zu unterbrechen. “Warum ist das nicht passiert, Oma?”, fragte ich.
“Das wirst du gleich hören”, sagte Großmutter und fuhr mit ihrer Geschichte fort.
“Als der Mann fast das Feuer erreicht hatte, sah der Hirte auf. Er war ein mürrischer, alter Mann, unfreundlich und hart zu den Menschen. Und als er den seltsamen Mann kommen sah, ergriff er seinen langen Hirtenstab, den er immer in der Hand hielt, wenn er seine Herde bewachte, und warf ihn ihm nach. Der Stab flog direkt auf den Mann zu, aber bevor er ihn erreichte, bog er auf eine Seite ab und flitzte an ihm vorbei, weit hinaus auf die Wiese.”
Als Großmutter da angekommen war, unterbrach ich sie wieder. “Großmutter, warum hat der Stab den Mann nicht getroffen?” Großmutter machte sich nicht die Mühe, mir zu antworten, sondern setzte ihre Geschichte fort.
“Dann ging der Mann zum Hirten und sagte zu ihm: ‘Guter Mann, hilf mir und leih mir ein wenig Feuer! Meine Frau hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, und ich muss ein Feuer machen, um ihr und dem Kleinen Wärme zu spenden.’
“Der Hirte hätte am liebsten ‘Nein’ gesagt, aber als er so darüber nachdachte, dass die Hunde den Mann nicht verletzen konnten, die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren und der Stab ihn verfehlt hat, bekam er ein wenig Angst und wagte es nicht, ihm das zu verweigern, worum er ihn bat.
“‘Nimm so viel, wie du brauchst!”, sagte er zu dem Mann.
“Aber da war das Feuer fast erloschen. Es waren keine Holzscheite oder Äste mehr darin, nur ein großer Haufen glühender Kohlen, und der Fremde hatte weder Spaten noch Schaufeln, womit er diese hätte wegtragen können.
“Als der Hirte das sah, sagte er noch einmal: ‘Nimm so viel, wie du brauchst!’ Und er war froh, dass es dem Mann nicht gelingen würde, Kohlen mitzunehmen.
“Aber der Mann bückte sich, nahm mit bloßen Händen Kohlen aus der Asche und legte sie in seinen Mantel. Weder verbrannte er sich die Hände, als er sie berührte, noch verbrannten die Kohlen seinen Mantel; er trug sie weg, als wären sie Nüsse oder Äpfel gewesen.”
Aber da wurde die Geschichtenerzählerin zum dritten Mal unterbrochen. “Oma, warum verbrannten die Kohlen den Mann nicht?”
“Das wirst du gleich hören”, sagte Großmutter und fuhr fort:
“Als der Hirte, der so ein grausamer und hartherziger Mensch war, all das sah, begann er sich zu fragen: ‘Was für eine Nacht ist das, in der die Hunde nicht beißen, die Schafe keine Angst haben, der Stab nicht trifft und Feuer verbrennt?” Er rief den Fremden zurück und sprach zu ihm: ‘Was für eine Nacht ist das? Und wie kommt es, dass alle Dinge dir gegenüber so teilnahmsvoll sind?’
“Da sagte der Mann: ‘Ich kann es dir nicht sagen, wenn du es selbst nicht siehst.’ Er wollte seines Weges gehen, damit er bald ein Feuer machen und seine Frau und sein Kind sich wärmen konnten.
“Aber der Hirte wollte den Mann nicht aus den Augen verlieren, bevor er herausgefunden hatte, was das alles zu bedeuten hatte. Er stand auf und folgte dem Mann, bis sie an den Ort kamen, an dem er lebte.
“Da sah der Hirte, dass der Mann nicht mal eine Hütte hatte, in der er leben konnte, sondern dass seine Frau und sein Baby in einer Berggrotte lagen, wo es nichts als kalte, nackte Steinmauern gab.
“Der Hirte dachte, dass das arme, unschuldige Kind vielleicht in der Grotte erfrieren könnte; und obwohl er so ein hartherziger Mann war, berührte ihn dieser Anblick und er überlegte, dass er ihnen helfen musste. Er löste seinen Rucksack von der Schulter, nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell, gab es dem Fremden und sagte, er solle das Kind darauf schlafen lassen.
“Und sobald er offenbarte, dass auch er barmherzig sein konnte, wurden seine Augen geöffnet, und er sah, was er vorher nicht sehen konnte, und hörte, was er vorher nicht hören konnte.
“Er sah, dass rings um ihn herum ein Kreis aus kleinen, silbernen Engeln stand, von denen jeder ein Streichinstrument in der Hand hielt, und alle in lauten Tönen davon sangen, dass in dieser Nacht der Erlöser geboren wurde, der die Welt von ihren Sünden befreien würde.
“Da verstand er, warum in dieser Nacht alle Dinge so glücklich waren, dass sie nichts falsch machen wollten.
“Und nicht nur um den Hirten herum standen Engel, er sah sie überall. Sie saßen in der Grotte, draußen auf dem Berg, und sie flogen am Himmel. Sie kamen in großen Gruppen, und als sie an ihnen vorbeigingen, hielten sie inne und warfen einen Blick auf das Kind.
“Da war ein solcher Jubel und solche Freude, Gesang und Frohlocken! All das sah er nun in der dunklen Nacht, während er vorher nichts erkennen konnte. Er war so glücklich, dass ihm seine Augen geöffnet worden waren, dass er auf die Knie fiel und Gott dankte.”
Hier seufzte die Großmutter und sagte: “Was dieser Hirte sah, könnten auch wir sehen, denn die Engel fliegen an jedem Heiligabend vom Himmel herab. Ach, wenn wir sie nur sehen könnten.”
Da legte Großmutter ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: “Du musst dich daran erinnern, denn diese Geschichte ist wahr, so wahr, wie ich dich sehe und du mich siehst. Und diese Wahrheit wird nicht erst durch das Licht von Lampen oder Kerzen enthüllt, und sie ist nicht auf Sonne oder Mond angewiesen; das einzig Wichtige ist, dass wir unsere Augen öffnen und die Herrlichkeit Gottes sehen können.”
…