Der Erste Weltkrieg (Band I – III)

Der Erste Weltkrieg (Band I – III) – Karl Theodor Helfferich

Dr. Karl Theodor Helfferich war ein deutscher Politiker, Bankier und Wirtschaftswissenschaftler. Während des Ersten Weltkriegs verantwortete er unter anderem die Kriegsfinanzierung Deutschlands und war sogar Vizekanzler. Sein umfassendes Werk zum Ersten Weltkrieg, hier vorliegend in einer Ausgabe mit allen drei Bänden, “Die Vorgeschichte des Weltkriegs”, “Vom Kriegsausbruch bis zum uneingeschränkten U-Bootkrieg” und ”Vom Eingreifen Amerikas bis zum Zusammenbruch”, war eine der ersten Aufarbeitungen des Krieges aus deutscher Sicht.

Der Erste Weltkrieg (Band I - III)

Der Erste Weltkrieg (Band I – III)

Format: Taschenbuch/eBook

Der Erste Weltkrieg (Band I – III).

ISBN: 9783849653224 (eBook)

ISBN: 9783849669218 (Taschenbuch)

 

Auszug aus dem Kapitel “Die Verschiebung der Mächtegruppierung seit Bismarcks Abgang”

 

Bismarck hat das neue Preußen geschaffen, Preußens Vorherrschaft in Deutschland begründet und das Deutsche Reich aufgebaut in Kriegen, die er, wenn nicht herbeigeführt, so doch politisch vorbedacht und diplomatisch vorbereitet hat; vorbedacht und vorbereitet in einer Weise, dass der Gegner isoliert und eine der eigenen Macht überlegene feindliche Koalition verhindert wurde. Nach dem Krieg von 1870/71 und der Begründung des Reichs war er nach seinem eigenen Geständnis beherrscht von dem “cauchemar des coalitions” in einem Maße, dass ihm dieser Alpdruck oft den Schlaf raubte. Ebenso wie Moltke, der vorausgesagt hat, dass wir in fünfzig Jahren um die Errungenschaften von 1870 würden kämpfen müssen, hat Bismarck klar erkannt, dass eine Versöhnung des besiegten, in seinem alten nationalen und kriegerischen Stolz schwer getroffenen Frankreich auf viele Jahrzehnte hinaus nicht möglich sein werde, und dass damit jeder anderen Großmacht, die sich zur kriegerischen Auseinandersetzung mit Deutschland entschließen sollte, von vornherein ein nicht zu unterschätzender Bundesgenosse gesichert sei. Die Gefahr der Bildung gegnerischer Koalitionen hat durch diese Tatsache eine besondere Verschärfung erfahren ; sie hat für die Politik des Deutschen Reichs von Anfang an eine Erschwerung geschaffen, wie sie die Politik keines anderen Staates belastete.

Es ist bekannt, wie Bismarck diese Verhältnisse gemeistert hat. Bei seinem Rücktritt hinterließ er uns eine Mächtegruppierung, die sich in kurzen Zügen folgendermaßen umreißen lässt:

Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien in dem Schutzbündnis des Dreibundes zusammengeschlossen. Russland durch den geheimen Rückversicherungsvertrag von jeder Allianz mit offensiven Zielen gegen das Deutsche Reich abgehalten. England in der Gesamtorientierung seiner Politik dreibundfreundlich, wenn auch frei von irgendwelchen vertragsmäßigen Bindungen.

Bismarck selbst hatte den Wert von Bündnissen und Verträgen nie überschätzt. Niemand wusste besser als er, dass Bündnisse und Verträge, sollen sie in den Lagen, für die sie geschlossen sind, Stich halten, der Untermauerung durch die Übereinstimmung der wirklichen Interessen der vertragschließenden Teile bedürfen. Vor allem war sich Bismarck klar über den bedingten Wert der Zugehörigkeit Italiens zum Dreibund: auf der einen Seite war der italienisch-Österreichische Gegensatz nicht aus der Welt zu schaffen, sondern nur durch Vorteile, die Italien im Dreibund fand, oder stärkere Gegensätze zwischen Italien und anderen Ländern, namentlich Frankreich, zu überbieten; dann bedurfte Italien angesichts seiner Küstengestaltung, wie Bismarck stets anerkannt hat, einer Anlehnung an den maritimen Schutz Englands. Diese Voraussetzungen für ein Sichwohlfühlen Italiens im Dreibund waren, als Bismarck im Jahre 1890 zurücktrat, vorhanden: der Gegensatz zwischen Italien und Frankreich, hervorgerufen insbesondere durch die Festsetzung Frankreichs in Tunis, aufs äußerste verschärft durch einen heftigen Zollkrieg, ließ die gegen Österreich gerichteten irredentistischen Aspirationen zurücktreten. England, das in den Fragen des Mittelmeers und in kolonialen Angelegenheiten in Gegnerschaft mit Frankreich stand, und das sich durch die russische Ausdehnung nach Osten in seinen asiatischen Interessen, vor allem in seiner Herrschaft über Indien, bedroht sah, hielt damals noch ein Zusammengehen mit dem Dreibund — trotz mancher Reibungen mit Deutschlands jungen Kolonialbestrebungen — für die richtige Politik. In Russland allerdings hatten die Nachwirkungen des Berliner Kongresses, die immer stärker werdenden panslawistischen Bestrebungen, der Gegensatz zu Österreich-Ungarn in den Balkanfragen, schließlich das Misstrauen Alexanders III. gegenüber der Bismarckschen Politik den Wert des im Jahre 1887 erneuerten deutsch-russischen Rückversicherungsvertrages so stark ausgehöhlt, dass bereits in den letzten Jahren der Bismarckschen Kanzlerschaft die Gefahr des Zweifrontenkriegs für Deutschland akut zu werden drohte.

Das Gebäude der Sicherung Deutschlands gegenüber einer übermächtigen feindlichen Koalition, wie es Bismarck seinen Nachfolgern überließ, war ein äußerst kunstvolles. Es trug die Gewähr seines Bestandes nicht in sich selbst, sondern ruhte in wichtigen Teilen auf einem leicht veränderlichen Grunde, dessen Tragfähigkeit schon in der Vergangenheit nur durch unablässige Achtsamkeit und ununterbrochene Bemühungen erhalten werden konnte und für die Zukunft durch kaum abwendbare Entwicklungen schwer bedroht erscheinen musste.

Alsbald nach Bismarcks Rücktritt begann das von ihm geschaffene und schließlich von ihm nur noch mühsam aufrechterhaltene System abzubröckeln.

Der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland im Jahre 1890 folgte in kurzer Zeit die russisch-französische Entente, die sich im weiteren Verlauf zu dem Zweibundsvertrag verdichtete. Die Gefahr des Zweifrontenkriegs war damit vom Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an zu einer dauernden geworden. Alle deutschen Bemühungen, das russisch französische Bündnis zu lockern, blieben in der Folgezeit ergebnislos.

Das Verhältnis zu England blieb zunächst noch ein gutes. Während wir durch den Helgoland-Sansibar-Vertrag von 1890 koloniale Reibungspunkte aus unsern Beziehungen zu England beseitigten, bestand die britisch-französische Kolonialrivalität fort und erreichte im Jahre 1898 mit dem Zwischenfall von Faschoda ihren Höhepunkt. Noch mehr fiel ins Gewicht, dass der starke Gegensatz zwischen England und Russland sich in unverminderter Schärfe erhielt. Unter solchen Umständen konnte man in Deutschland die Hoffnung hegen, dass es einer umsichtigen Politik gelingen werde, die für uns bedrohlichste Koalition — den Zusammenschluss Englands mit dem seine Spitze gegen Deutschland und seine Verbündeten richtenden Zweibund — zu verhindern.

Diese Hoffnung schien sich zu bestätigen, nachdem in England die Erregung über die ” Krügerdepesche” (Januar 1896) sich gelegt hatte und die britische Regierung, trotz der damals schon erwachten Handelseifersucht, den Versuch einer entschiedenen Annäherung an Deutschland machte. Kein Geringerer als Josef Chamberlain setzte sich in jener Zeit öffentlich für einen germanisch-angelsächsischen Dreibund ein, bestehend aus Deutschland, Großbritannien und Irland und den Vereinigten Staaten von Amerika. Aber dieser Annäherungsversuch fand sowohl bei der deutschen öffentlichen Meinung, die gerade damals infolge des Burenkrieges stark gegen England erregt war, wie auch bei der Reichsregierung, die sich zwischen England und Russland freie Hand wahren wollte, keine ermutigende Aufnahme. Die Entwicklung kulminierte in dem zwischen Deutschland und England im Herbst 1900 abgeschlossenen Abkommen über China (in Deutschland zumeist “Yangtse-Abkommen” genannt), in dem die beiden Mächte sich gegenseitig auf den Grundsatz der offenen Tür festlegten und sich eine Verständigung für den Fall vorbehielten, dass eine andere Macht die chinesischen Wirren benutzen sollte, um territoriale Vorteile zu erlangen. Dieses Abkommen wurde in der internationalen Öffentlichkeit als ein Zusammenschluss Deutschlands und Englands gegen die russischen Aspirationen auf die Mandschurei aufgefasst. Aber gerade in diesem entscheidenden Punkte stellte sich eine ernste Verschiedenheit der Auslegung zwischen der deutschen und der großbritannischen Regierung heraus. Als wenige Monate nach dem Abschluss des Abkommens die Frage durch Russlands Vorgehen akut wurde, erklärte Fürst Bülow im Reichstag, dass sich das deutsch-englische China-Abkommen nicht auf die Mandschurei beziehe; darüber sei auch bei den Verhandlungen über das Abkommen den britischen Staatsmännern kein Zweifel gelassen worden. Demgegenüber erklärte Lord Salisbury im Unterhaus, dass die Behauptung, Deutschland habe bei den Verhandlungen die Mandschurei ausgenommen, nicht den Tatsachen entspreche. Auf diese Weise kam es statt zu einer ihre Spitze gegen Russland kehrenden deutsch-englischen Annäherung zu einer tiefgehenden, die weitere Entwicklung wohl endgültig beeinflussenden deutsch englischen Verstimmung und zu einer von Russland freudig begrüßten, aber mit keinem Dank entgoltenen deutschen Rückendeckung für die russische Ostasien-Politik.

Der weitere Verlauf der Dinge erhielt sein Gepräge durch die Annäherung zwischen England und Frankreich, die sich schließlich unter Einbeziehung des russischen Bundesgenossen der Französischen Republik zur Triple-Entente ausweitete. Es muss festgestellt werden, dass bereits im Sommer 1903 der nachmalige Staatssekretär des Auswärtigen, Sir Edward Grey, als oppositioneller Abgeordneter den Versuch des Zusammengehens mit Deutschland in den ostasiatischen Angelegenheiten als einen erwiesenen Missgriff bezeichnete und daraus die Folgerung zog, eine Annäherung an Russland zu empfehlen.

In Frankreich wirkte die Demütigung von Faschoda einige Zeit stark nach. Im Burenkrieg ergriff die öffentliche Meinung in Frankreich kaum minder lebhaft gegen England Partei als in Deutschland. Aber bald waren Kräfte am Werk, die gerade aus der Demütigung von Faschoda eine neue Orientierung der französischen Politik gegenüber England herleiteten. Faschoda hatte gezeigt, dass gegen Deutschland und gegen England Frankreich seine Großmachtstellung nicht würde behaupten können. Das alte Revanchebedürfnis gegenüber Deutschland erwies sich in dieser Lage als stärker denn die neue Erbitterung über die Vergewaltigung durch England. Delcassé als französischer Minister des Auswärtigen leitete in stiller und zäher Arbeit die britisch-französische Annäherung ein. Er fand in England günstigen Boden. Dort hatte man endgültig die Hoffnung, in Deutschland ein Werkzeug gegen Russland gewinnen zu können, aufgegeben; die Handelseifersucht gegen Deutschland wuchs mit der Entfaltung der deutschen Wirtschaftskraft, namentlich des deutschen Außenhandels, der deutschen Unternehmungen im Ausland und der deutschen Handelsflotte, von Jahr zu Jahr; die Vergrößerung der deutschen Kriegsflotte, eine durch die Vermehrung des Außenhandels und das Wachstum der Handelsflotte gerechtfertigte Entwicklung, erregte mehr und mehr Besorgnis; und schließlich bestieg nach dem Tode der Königin Victoria im Januar 1901 Edward VII. den britischen Thron …..

 

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