Der Geist meines Vaters

Der Geist meines Vaters – Max Dauthendey

In diesem Buch sammelte der deutsche Schriftsteller Dauthendey Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert und verfasst daraus seine eigene, wundervoll erzählte Familiengeschichte.

Der Geist meines Vaters

Der Geist meines Vaters.

Format: eBook

Der Geist meines Vaters.

ISBN eBook: 9783849655044

 

 

Auszug aus dem Text:

Heute war ich am Grabe meines Vaters.

Unsere Familiengruft, in welcher mein Vater und meine Mutter begraben liegen, suche ich manchmal auf, um mich zu überzeugen, daß der Gärtner, dem das Grab in Obhut gegeben ist, seine Pflicht tut. Ich kaufe dann in der Gärtnerei, die neben dem Kirchhof liegt, ein paar blühende Blumenstöcke und lasse sie von einem Gärtnerburschen an das Grab tragen. Wenn der Gärtner am Grabstein die Blumentöpfe niedergestellt und sich wieder entfernt hat, lese ich gern die Jahreszahlen der Geburts- und Sterbetage auf der schwarzen Marmortafel.

1819 wurde mein Vater geboren, 1896 starb er. Also liegt nahezu ein Jahrhundert mit ihm hier unter dem Efeu begraben. Dieser kleine Erdenfleck hat Herz, Augen und Gedanken in sich aufgenommen, die einmal, so wie ich jetzt, durch Millionen Meilen hindurch im Weltraum die ferne Sonne fühlen und durch Millionen Meilen hindurch nachts die Sterne betrachten konnten.

Mein eigenes Herz aber und meine Augen und Gedanken können, wenn sie vor diesem Grabe stehen, die Gestalten der Toten nicht unter diese paar Fuß Erde zwingen. Meine Toten gehen mit mir hin zum Grabe und gehen mit mir vom Grabe fort. Nur wenn ich auf die Nebengräber sehe, die in langer Reihe den Weg säumen, an dem unsere Gruft liegt, nur dort in den anderen Gräbern sehe ich im Geist tote Menschen liegen. Aber wenn ein Trauernder in der Ferne auf den Friedhofwegen daherkommt, an einem Grabe stehenbleibt und, so wie ich, seine Verstorbenen besuchen will, dann fühle ich; auch die anderen, wenn sie an ihre Gräber treten, können keine Angehörigen sich ins Grab hineindenken. Die Toten sind auferstanden aus jedem Grab, sobald an dasselbe ein Trauernder ehrfurchtsvoll hintritt.

Ach, aus diesen kleinen Erdenzellen, die da in langen Reihen, in unzähligen Straßen durch den Kirchhof nebeneinander eingegraben sind, strömen aus jeder Zelle Welten von Erinnerungen. Die kleinen eingezäunten Blumenäckerlein enthalten oft Königreiche und Weltteile voll lebender Erinnerungen.

Auf unserer Grabtafel lese ich, in goldenen Buchstaben, St. Petersburg 1837 am 11. Mail An einem Maitag an der Newa, als die Sonne auf der goldenen Kuppel der Isaakskathedrale glänzte und das Newawasser die letzten Eisschollen aus dem Ladogasee zur Ostsee hintrieb, wurde meine Mutter geboren. Sie war ein Kind deutscher Kolonisten, die zur Zeit Peters des Großen aus Süddeutschland, aus Hanau, kamen und sich in Petersburg niederließen. Die Eingewanderten waren ihrem Beruf nach Wollenweber und Orgelbauer. Ich selbst hörte noch im Jahre 1889, als ich zum ersten Male in Petersburg war, eines Sonntags in der holländischen Kirche dort die Orgel, welche mein Urgroßvater mit seinen Händen gebaut hatte.

Die Familie meiner Mutter war streng religiös. Alle ihre Mitglieder gehörten der frommen Herrnhutergemeinde an. Als einziges Erbteil dieser Familie besitze ich noch eine Bibel, in welcher die Jahreszahl 1796 eingeschrieben ist, Der Vater und die Brüder meiner Mutter hatten eine Klavierfabrik, und als mein Großvater gestorben war, besaß meine Großmutter noch Säle voll Klaviere; diese Instrumente verlieh sie in Petersburg gegen einen monatlichen Entgelt.

Eine kleine Welt von fleißigen Arbeitern, Handwerksleuten und Meistern in ihrem Beruf tritt beim Ablesen der Geburtsjahreszahl meiner Mutter und ihrer Sterbejahreszahl 1873 aus dem Grabe vor mich hin ins Leben. Die Sorgen, die Nöte, die Familienfreuden, die religiöse Ergebenheit, die Demut des Arbeiterfleißes – alles dieses durchlebe ich, während ich Namen und Jahreszahl am Grabstein betrachte, und friedlich, wie im Grunde das Leben der Familie meiner Mutter war, friedlich wird mir im Herzen, sonnig und einfach. Pflichtgetreu und bescheiden sehen mich aus der Umgebung meiner Mutter Reihen von Augen an; mutige Augen, die an ihrem Deutschtum zwei Jahrhunderte lang festhielten und mitten in der russischen Hauptstadt deutsche Sitten, deutsche Sprache, deutsche Ehrbarkeit und deutsche Arbeitsamkeit pflegten.

Weltgrößer, europäischer möchte ich es nennen, wird aber mein Geist, wenn ich die Geburts- und Sterbejahreszahl meines Vaters: 1819-1896 betrachte. Der stolze Aufschwung, den das neunzehnte Jahrhundert in technischer Beziehung und auch in geistiger Aufklärung genommen hat, spiegelt sich kräftig wider im siebenundsiebzigjährigen Leben meines Vaters. Dieser hatte Mechanik und Optik erlernt und führte die Daguerreotypie in Petersburg ein. Durch eine Empfehlung der Herzogin von Dessau an die Kaiserin von Rußland kam er mit dreiundzwanzig Jahren nach Rußland.

Seines zwanzigjährigen Aufenthaltes unter der slawischen Rasse endlich überdrüssig, außerdem von plötzlichen Unglücksfällen verfolgt, trieb meinen Vater die Sehnsucht nach Deutschland aus Petersburg fort. Er kam mit seiner zweiten Frau, meiner Mutter, in die Heimat zurück und ließ sich, durch einen Zufall geführt, 1864 in Süddeutschland, in Würzburg nieder, wo er wieder ein Atelier baute, aber in den letzten Jahren seines Lebens hauptsächlich photographischen Erfindungen, chemischen Experimenten und chemischen Studien seine alten Tage widmete.

Hier in Würzburg wurde ich geboren, als mein Vater achtundvierzig Jahre alt war. Und heute, da ich dieses niederschreibe, stehe ich selbst im fünfundvierzigsten Lebensjahre. Nach vielen Fahrten, die ich durch Europa und über Europas Grenzen hinaus machte, und nach meiner letzten Reise rund um die Erde habe ich mich hier niedergelassen. Die Fenster meiner Wohnung sehen auf den alten Fluß hinaus, auf den sanften Main, der am Fuße des Marienberges unter steinernen Brücken leicht rauschend hingleitet. Auch mein Vater hatte hier einst bei einer der Brücken, vor mehr als fünfzig Jahren, als er aus Petersburg kam, an der »alten Mainbrücke« seine Wohnung genommen, und dort sehe ich noch heute, wenn ich am Kai spazierengehe, das Atelier, den kleinen Glaskasten, den er an der Rückseite eines großen Wohnhauses anbauen ließ. Wohl sind in der Stadt einige Straßen seitdem erweitert worden. Die Ringparkanlagen, die sich rund um die Stadt ziehen, die ich als neunjähriger Knabe anpflanzen sah und die jahrelang wenig Schatten gaben, sind jetzt dunkelschattig geworden, und hohe gewölbte Alleen führen dort an reichen Gebüschen und Blumenpflanzungen vorbei. Aber dem Innern der Stadt merke ich es kaum an, daß ich fünfundvierzig Jahre mit seinen Häusern älter geworden bin.

Nur die hohen Bäume der Glacisanlagen, die mit den Jahren zum Himmel wuchsen – und ihre Zweige und Wipfel gewaltig ausstrecken lernten, wie der älter werdende Mensch seine Gedanken –, hauptsächlich an diesen Bäumen kann ich es sehen, daß ich bald ein Menschenalter die fränkische Luft, den fränkischen Boden und die fränkischen Laute meine Heimat nenne.

Immer wieder bin ich vom Auslande zu dieser Stadt zurückgekehrt. Ich besaß keine Erde und kein Gut hier, das mich hätte anlocken können, stets wieder von neuem das Mainufer aufzusuchen. Das einzige Gut, das einzige Stückchen Erde, das ich mein nannte, als ich wiederkam, war das kleine Viereck Erde des Familiengrabes da draußen im Friedhofgrund. Die Blumen, die im Sommer hier auf dem Grabe stehen, haben mich mit ihrem Duft rund um die Erde verfolgt, und die Toten, die hier unter dem Efeu zu Erde werden, sind noch heute meine treuesten Begleiter, meine unterhaltendsten Erzähler in den wenig veränderten Straßen der alten fränkischen Stadt.

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