Deutscher Novellenschatz, Band 13

Deutscher Novellenschatz, Band 13

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 13 von 24. Enthalten sind die Novellen: Heyden, Friedrich von: Der graue John. Mügge, Theodor: Am Malanger Fjord. Pichler, Adolf: Der Flüchtling.

Deutscher Novellenschatz, Band 13

Deutscher Novellenschatz, Band 13.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 13.

ISBN eBook: 9783849661212

ISBN Taschenbuch: 9783849666750

 

Auszug aus dem Text:

I.

Es mögen jetzt wohl fast zwanzig Jahre vorübergegangen sein, seit ein großes Boot von sechs Rudern, mit einer Halbkajüte versehen, an der Küste des norwegischen Hochlandes hinfuhr, das jenseits des großen Westfjords und des Polarkreises, bis nach Tromsö hinauf ein wildes Labyrinth von Felsen, Inseln, Inselbrocken und zahllosen Sunden und Meeresarmen darstellt, welche tief in den Schoss der Gebirge und Klüfte dringen. Damals konnte man noch nicht wie jetzt mit dem Regierungsdampfschiff rasch und leicht diese wüsten Irrwege durchfahren, erst mehrere Jahre später wurde damit der Anfang gemacht; die einzige Möglichkeit, von einer Handelsstelle der Kaufleute zur anderen zu gelangen, blieb das Ruderboot, mit welchem freilich nur langsam weiterzukommen war.

Es war ein Sommertag, so schön und still, warm und sonnenvoll, als hinge der blaue fleckenlose Himmel über einem südlichen Lande; ein einziger Blick aber reichte hin, um diese Täuschung zu zerstören.

Der Passagier des Bootes, welches er gemietet hatte, um damit nach der Handelsstelle von Lenvig zu gelangen, saß oben auf dem Halbdeck und betrachtete nachsinnend und schweigend den düsteren ungeheuren Kranz zerrissener Felsen und Felsennadeln, die überall aus dem Meere aufwuchsen, spitz und zackig ihre kahlen Häupter in die klare Luft tauchten und ihre Wände und schroffen Seiten im hellen Sonnenlicht glänzen ließen. Soweit das Auge reichte, war nichts zu entdecken als dies öde, lautlose Felsengewirr, die hohe Nordlandküste in ihrer schweigenden Wildheit, die Meeresschlünde, welche sich darin verloren, nur da und dort ein grüner Streif, ein weiß leuchtendes Birkengebüsch, eine Felsenspalte, wo schwarze traurige Nadelbäume wuchsen, oder ein kleines Tal, durch das ein Bach in hastigen Sprüngen und Wasserstürzen niederschoss. Auf den Klippen und Steinen, die aus dem blanken stillen Meere ragten, saßen ebenso schweigsame Vögel in dichtgedrängten Haufen. Rotkämmige Alken steckten die Köpfe zusammen, viele andere entenartige Vögel und große Möwen sonnten sich behaglich und ließen das Boot vorüberziehen, ohne sich zu rühren; nur bei einem heftigen Geplätscher der Ruder oder dem lauten Ruf der Bootsleute fuhr ein Schwarm in die Tiefe und verschwand darin ohne Lärm, und Geschrei.

Der Reisende warf sich missmutig auf die andere Seite und starrte über ein weites Wasserbecken auf die zahllosen Klippen und Brocken zwischen den großen Inseln Hindöe und Senjenöe. Ganz dieselben Felsen, dieselbe Öde, dieselbe wilde Größe der Natur und dasselbe Schweigen traten ihm entgegen. Dann und wann nur, wie von einer unsichtbaren Hand gehoben, brach sich das Meer an irgendeinem Steine und warf eine schäumende Fontäne hoch in die Luft, gleichsam um zu zeigen, dass es träume, aber nicht schlafe.

Der Reisende sah auf die Schaumflocken, welche das Boot umschwammen, er verfolgte die großen rot und blau gezeichneten Quallen, wie sie wunderbar glänzend ihre langen Arme nach Raub ausstreckten; dann lachte er spöttisch vor sich hin, indem er sich selbst mit diesen seltsamen gallertartigen Geschöpfen verglich. Es war ein Mann aus guter Familie, der im Süden des Landes längere Zeit ein einträgliches Amt bekleidete, aber durch mehrere gewaltsame Handlungen und zunehmende Schulden es endlich dahin gebracht hatte, dass er es rätlich fand, als Landrichter oder Sorenskriver, das heißt geschworener Schreiber, hier oben ans äußerste Ende Nordlands, an den Malanger Fjord, versetzt zu werden. Herr Lars Stureson sah ganz so aus wie ein Mann, dem man Paschalaunen zutrauen kann, und seine Verwandten im Staatsrat und im Storthing mochten wohl recht haben, wenn sie glaubten, dass die Leute an den Lappmarkischen Küsten dergleichen besser vertragen könnten als die stolzen Bauern und Hofbesitzer in den südlichen Grafschaften.

Es war ein ungemein großer, kräftiger und breitschultriger Mann in der Mitte der dreißiger Jahre. Sein stolzes hartes Gesicht war rot und voll und trug mancherlei Zeichen, dass er bei Toddy und Punsch alle Nebenbuhler besiegt hatte. Schlaue und bewegliche graublaue Augen milderten die festen massiven Formen seines Kopfes, und im ganzen genommen, war er ein stattlicher Herr, der sowohl Ehrfurcht und Furcht, aber auch Wohlwollen und Achtung erwecken konnte.

Lars Stureson war verheiratet gewesen und nach einer unglücklichen Ehe Witwer geworden. Er machte daher die Reise allein. Das Boot war mit seinen Koffern und Kasten gefüllt, die das Notwendigste enthielten, was er in der Einsamkeit seines neuen Wohnortes zu brauchen dachte. Eine Nordlandsjacht, die von Bergen ausgelaufen war, sollte ihm Möbel aller Art und mancherlei Luxusgegenstände, sein Haus auszustatten, nachliefern.

Hier saß er nun halb liegend auf dem schmalen Deck, einige Bücher neben sich und zwischen denselben eine halbgeleerte Flasche, aus der er dann und wann einen Zug tat. Die Quallen, dachte er für sich, sind in ihrer Art die Landrichter und Vögte des Meeres. Es gibt viel stärkere und größere Geschöpfe darin, aber keines vergreift sich so leicht an ihnen. Vögel und Fische fliehen ihre Berührung ebenso wie die Menschen, denn jeder wird gebrannt, der ihnen zu nahe kommt. Sie aber rudern mit ihren langen gefingerten Armen unbekümmert durch die Wellen. Das ganze Ding ist nichts als Magen! Alles, was sie greifen können, halten sie fest, was sie berühren, wird ihre Beute, wird in den Magen gepackt und muss lassen, was es besitzt. Unter solchen Gedanken schaute er nach dem Himmel hinauf und rief mit einem kräftigen Fluch: “Gott mag es wissen, wie ich hier leben soll! Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht am liebsten in die Luft hinaufblicke, um von diesem verwünschten Lande nichts zu sehen! Felsen, Klippen, brandende Wasser, nach Fischtran stinkende Fischer und gaunernde Krämer – das soll deine Gesellschaft sein, Lars Stureson! Wann und wie sollst du davon erlöst werden?”

Indessen war Bewegung in das Boot gekommen. Leise Wellen begannen es zu schaukeln, ein Wind flog kühl über das Wasser hin und zog krause Katzenpfoten – wie die Schiffer es nennen – darauf zusammen. Die Sonne neigte sich dabei tief dem Westen zu, der eine feurige Röte ausstrahlte, welche an allen hohen Bergen und Spitzen glühte.

Der Landrichter zog seine Uhr: es war in der zehnten Abendstunde. In den langen Sommertagen geht hier die Sonne wochenlang nicht unter den Horizont, und die Nacht ist nur eine Dämmerung von wenigen Stunden. Aber mit ihr kam nun die Strömung der Ebbe aus den Fjorden und Sunden dem Boot entgegen und versetzte es in schwankende Bewegung. Die Ruderer strengten alle Kräfte an und brachten das Boot dicht an die Küste, jedoch in dem enger werdenden Kanal, der Senjenöe vom Festland trennt, wurde die Strömung heftiger und der Wind schärfer. Mit mühevoller Arbeit war doch nur geringes Weiterkommen zu merken, und als der Landrichter eine Weile zugeschaut hatte und sah, wie die brennende Röte an den Bergspitzen abnahm, während blaue Schatten aus den Schluchten langsam heraufkletterten, konnte er sich nicht enthalten, eine Frage an die Schiffsleute zu richten.

“Es wird spät”, rief er hinunter, “wir kommen langsam vorwärts!”

“Wind und Strömung gegen uns, Herr”, antwortete einer.

“Und wie weit noch nach Lenvig?”

“Zwei Meilen”, sagte der Mann. “Werden sie schwer schaffen, ehe die Flut kommt.”

Der Reisende sah die unwirtliche Küste an; nirgends war die Spur einer Menschenwohnung zu entdecken, und offenbar hatte er wenig Lust, die Stunden der Nacht, so mild und hell sie war, im Freien zuzubringen.

“Ist keine Handelsstelle in der Nähe?” fragte er.

Es war, als hätten die müden Ruderer nur auf diese Frage gewartet. “Ja, Herr, ja!” riefen sie zusammen. “Ein wenig mehr herauf liegt Christie Hvalands Stelle.”

“Eine feine Stelle, Herr”, fügte der Führer des Bootes hinzu, “Christie Hvaland ist ein guter und angesehener Mann, der fünf Jachten nach Bergen schickt.”

“So wird er uns einen Platz an seinem Herde gönnen”, sagte Stureson “Fahrt zu, Leute, je eher wir hinkommen, je besser.”

Mit diesem Bescheide kam vermehrte Kraft in die Ruderer, und als der letzte Schimmer zerrann, lag das Haus des Kaufmanns in der Tiefe einer Bucht vor ihnen.

Malerisch genug sah es aus, obwohl es ein Balkenhaus war, wie alle diese Häuser sind. Aber es lag von einem Halbkreis weißlicher Felsen im Rücken geschützt, die ihre kahlen Spitzen über ein üppig dichtes Buschwerk von Birken hervorstreckten. Der Raum bis zum Meere mochte kaum hundert Schritte betragen, doch war er mit einem dichten Grasteppich bedeckt, und an der einen Seite des langen Blockhauses kündigte ein umzäunter Platz sogar die Anlage eines Gärtchens an. Packhäuser erhoben sich auf Pfahlwerken aus dem Meere, einige von den seltsamen hochschnäbeligen Nordlandsjachten lagen vor ihnen, an der Ufertreppe schaukelten große Boote neben kleineren, und oben auf dem Gange am Packhause liefen die Bewohner der Handelsstelle zusammen, als sie das fremde Fahrzeug erblickten.

Nach wenigen Minuten hatte dies angelegt, und Lars Stureson sprang die Treppe hinauf mitten in den Kreis von Dienstleuten, Fischern und Weibern, die ihn neugierig betrachteten. Er rannte dabei an einen stämmigen kleinen Burschen, der einen Glanzhut auf dem Kopf hatte und, den Arm in die Seite gestemmt, ihn bewegungslos erwartete.

“Nimm es nicht übel”, sagte der Landrichter, als der Mann unter dem Gelächter seiner Nachbarn zur Seite taumelte. “Friede ins Haus, ihr Leute! Wo ist Herr Christie Hvaland?”

“Hier!” rief ein Mann, der in die Tür getreten war, an welche er sich lehnte und aus einer halblangen Pfeife gleichmütig weiterrauchte. Er musterte dabei den Fremden mit scharfen Blicken ohne irgendein Zeichen freundlicher Teilnahme und ohne sich im Rauchen stören zu lassen.

Nach der ersten üblichen Begrüßung bat der Landrichter um Obdach für diese Nacht, da Wind und Strömung das Boot am Fortkommen hinderten.

  …

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