Deutscher Novellenschatz, Band 6

Deutscher Novellenschatz, Band 6

Der “Deutsche Novellenschatz” ist eine Sammlung der wichtigsten deutschen Novellen, die Paul Heyse und Hermann Kurz in den 1870er Jahren erwählt und verlegt haben, und die in vielerlei Auflagen in insgesamt 24 Bänden erschien. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden in dieser Edition die sehr alten Texte insofern überarbeitet, dass ein Großteil der Worte und Begriffe der heute gültigen Rechtschreibung entspricht. Dies ist Band 6 von 24. Enthalten sind die Novellen: Gall, Luise von: Eine fromme Lüge. Grimm, Herman: Das Kind. Kruse, Laurids: Nordische Freundschaft. Meißner, Alfred: Der Müller vom Höft.

Deutscher Novellenschatz, Band 6

Deutscher Novellenschatz, Band 6.

Format: eBook/Taschenbuch

Deutscher Novellenschatz, Band 6.

ISBN eBook: 9783849660994

ISBN Taschenbuch: 9783849667399

 

Auszug aus dem Text:

Es gibt Begegnisse in der Welt, die, obgleich ins Innere der Menschen tief eingreifend, doch in ihrer äußeren Erscheinung, so wie manche schöne oder schlechte Tat, nur eine so flüchtige Aufmerksamkeit erregen, dass sie kaum bemerkt in den Wellen der Zeit untergehen, wie erschütternd sie auch dem scharfen, aber schweigenden Beobachter sich darstellen; unter solche gehört folgende Begebenheit. Der Leser, es sei vorausgesagt, wird sich vergebens bemühen, die näheren Beziehungen im Leben selbst aufzufinden, ja, je näher er dem Schauplatze der Begebenheit sich befindet, sogar manche Einzelheit unwahrscheinlich finden, weil Zeit, Locale der Katastrophe, kurz alle unwesentlichen Verhältnisse mit Fleiß, um ihn irrezuführen, anders gestellt sind, damit kein noch Lebender sich mit Wehmut erkannt fühlen möge; allein an der inneren Wahrheit der Geschichte ist nichts verrückt.

In Kopenhagen befindet sich ein eben nicht sehr großer, aber symmetrisch schöner achteckiger Platz, den vier einander gegenüberstehende Paläste in einem nicht ungefälligen Stile bilden; in ihrer Mitte steht die Statue eines wegen seiner Herzensgüte unvergesslichen Königs, der hoch von seinem Pferde herab das ihn liebende Volk noch immer zu segnen scheint. Drei dieser Paläste werden noch gegenwärtig von der königlichen Familie bewohnt, welche seit dem Brande des noch immer nicht ganz wieder erbauten königlichen Schlosses in imponierender Einfachheit dort verweilet. Der vierte, gegen die Reede zu gelegen, erhebt sich wie eine symbolische Vormauer gegen jeden feindlichen Angriff von der Seite des Meeres, während er eine wirkliche von alten Zeiten bestehende Vormauer des Reichs innerhalb seiner Wände umfasst, nämlich die immer fortdauernde Bildung der dänischen Marine. Es ist die königliche Seekadetten-Akademie, die hier der Wohnung des Königs völlig ähnlich dasteht, stolz, dass ihr, ebenso wenig wie den Schwertern ihrer Zöglinge, auch nicht der kleinste Makel anklebt.

Diese Mauern haben seit langen Jahren den Kern der dänischen Jugend, möchte ich sagen, in sich gefasst, nicht eben, dass vorzugsweise alle die Tüchtigsten und Hoffnungsvollsten hierher geschickt werden, — denn dazu ist der Umfang ihrer Bestimmung viel zu beschränkt, — sondern weil ihre Zöglinge vorzugsweise hier eine spartanische Erziehung erhalten, wodurch König und Vaterland so innig in ihren Gemütern verschmolzen und ihnen als Vorbild so nah und hoch gestellt werden, dass ihnen nur eins fast noch höher steht — ihre Ehre.

Mag auch diese Göttin dem philosophischen und religiösen Blicke sich als ein glänzendes Phantom darstellen; in den Annalen eines Reichs und in der sittigen Würde des Mannes übt sie immer eine fast göttliche Gewalt aus, und ich darf es laut sagen, die dänische Seeakademie ist ihr Tempel.

Unter den meistens schönen und vor allem kerngesunden Zöglingen zeichneten sich einst zwei hochaufgeschossene Jünglinge aus. Beide schön, talentvoll, mutig und fleißig, — weder von Geburt noch von Reichtum ist innerhalb dieser Mauern die Rede, — gleich in der Gunst ihres Chefs und in dem Wohlwollen ihrer Gefährten, standen sie sich, wenn auch nicht feindlich, so doch fremd, fast kalt einander gegenüber, obgleich weder Misshelligkeiten zwischen ihnen stattgefunden hatten, noch der Eine sich eigentlich deutlich bewusst war, was er an dem Andern auszusetzen fände. Wie streng auf die sittliche Bildung der Kadetten auch gehalten wurde, war es doch unmöglich, in diesem so wie in jedem geselligen Verein ganz vorzubeugen, dass nicht Neid und Selbstsucht einen geheimen Spielraum behielten: diese beiden Untugenden hatten schon in einem jugendlichen Herzen innerhalb dieser Mauern nur zu tiefe Wurzeln geschlagen.

John Former, so wollen wir ihn nennen, älter als beide vorerwähnte Jünglinge, war schon einige und zwanzig Jahre alt, und bereits fünf Jahre früher auf die Akademie gekommen. Indessen waren jene in ihrem unablässigen, obgleich fast unwillkürlichen gemeinsamen Wettstreit den zwischen ihm und ihnen stehenden Gefährten allmählich vorbeigeschritten und ihm so nahe gerückt, dass er befürchten musste, dass sie auch ihm vorbeispringen möchten, noch ehe er das ziemlich nahe Ziel erreicht hätte, wo ihm als anerkanntem Offizier die Anciennität bestimmt würde.

Dieser Jüngling war von dänischen Eltern sehr hohen Standes in Westindien geboren und hatte dort bis in ein Alter von fünfzehn bis sechzehn Jahren, von demütigen Sklaven umgeben, im Schosse des Reichtums und des Müßigganges, unter Verzärtelung von Seiten der Eltern und unter der niedrigsten Unterwerfung von der seiner Umgebung sich Ansichten vom Leben angeeignet, die mit den spartanischen Sitten der Akademie, wo er gewähnt hatte seine vorige Lebensweise fortsetzen zu können, im grellsten Kontraste standen. Er fand sich aber bitter getäuscht: statt wie früher durch seinen Reichtum, seinen Übermut und das Ansehen seiner Eltern zu gelten, wurde er hier nur nach seinem inneren Werte beurteilt und geschätzt, und dieser war sehr gering. Er sah sich hier dem Spotte weit kleinerer und jüngerer Knaben bloßgestellt, denen er nichts anhängen konnte, weil sie zum Teil geschmeidiger, mutiger und stärker als er waren, und in Beziehung auf die älteren Gefährten fand er sich in eine ebenso harte, obgleich nicht so schmähliche Unterwürfigkeit versetzt und mit derselben Geringschätzung behandelt, womit er früher auf seine Umgebung niedergeblickt hatte.

Aus seiner vorigen Indolenz notgedrungen erweckt, machte seine Seele ihre vorher schlummernden Kräfte und vor allen die, welche sie früh benutzt und am meisten hier nötig hatte, die Klugheit, geltend. Sein spähender, umsichtiger Blick hatte bald seine Lage umfasst. Zu klagen wagte er nicht; er sah bald ein, dass die Strafe, welche sein Weibergeklatsch — so wurde hier ohne Ausnahme jedes Vorbringen vor den Vorgesetzten genannt — veranlasst hätte, ihm keine Erleichterung, sondern nur größere geheime Rache von den Gefährten zuziehen würde; und wie gern er auch eine andere Bestimmung erwählt hätte, kannte er doch zu gut den unbeugsamen Willen seines Vaters, der unter den Sklaven gelernt hatte, auch sklavischen Gehorsam von seinen Kindern zu fordern, um diesem Wunsche Worte zu geben.

So lernte er bald aus der Not eine Tugend machen und sich fügen. Notwehr lehrte ihn,— seine ungeübten Kräfte auszubilden, und die Entdeckung, dass diese Achtung einflößten, gab ihm Mut, aber auch Tücke. Aus alter Gewohnheit und Trieb, seine Lage zu verbessern, schmeichelte er Lehrern und Gefährten; aber die Klugheit sagte ihm zugleich, dass dies auf eine sklavische Art nicht geschehen dürfe, und dass sein Bestreben nur, insofern er sich ihren Gesinnungen anschmiegte, mit Erfolg gekrönt werden könne; auch ward das Ehrgefühl bei ihm rege, und wie schwer es auch dem verzärtelten Jünglinge fiel, wurde er doch, obgleich nie der Erste, doch allmählich auch nie der Letzte in den spartanischen Spielen und Kampfübungen, die, besonders wenn die Lehrer nicht zugegen waren, nie ohne blaue Flecken oder geheime Wunden abgingen. Mit Zähneknirschen, mit geheimer Reue, dass er sich in den Verein der sogenannten Abgehärteten begeben hatte, gehorchte er, wenn zum Beispiel mitten in einer Winternacht das geheime Zeichen von einem Jüngling, den der Schlaf floh, gegeben wurde, und nun alle Verbündete schnell erweckt sich aus den warmen Betten stürzten, fast nackend in den Hof hinuntereilten, in dem weichen Schnee sich badeten und dann wieder zitternd vor Kälte das Lager suchten.

Und so geschah es, dass er nach und nach den unangenehmen Eindruck, den seine Erscheinung erregt, glücklich besiegte und durch Fleiß und stete Anstrengung der erwachten Seelenkräfte dem zunächst winkenden Ziele aller dieser Jünglinge, das Offizierszeichen zu tragen, entgegenschritt. Dies erreicht, hörte jeder ängstliche Wettstreit auf; einmal auf dieser Liste eingeschrieben, ist in der bestehenden Reihe die Rangfolge bis zum Admiral hinauf und die damit verbundene Subordination unveränderlich bestimmt, doch in jeder Klasse selbst herrscht eine völlige Gleichheit, und nur in Dienstsachen fühlt der Jüngere sich verbunden, dem Älteren auf der Liste zu gehorchen. Sich so bald wie möglich eine feste Anciennität zu erringen, — denn ein jeder in der Jugend vorbeieilende Schritt führt noch im Mannesalter den Befehlshaberstellen näher, — war daher das unermüdlich Streben jedes Schülers, und folglich auch des ehrgeizigen John. In der ersten Klasse trugen die ältesten Kadetten schon den Namen Unteroffizier. John war unter diesen einer der ältesten. Beide vorerwähnte Jünglinge, auf welchen besonders das anerkennende Vaterauge des scharfsichtigen Chefs haftete, waren unter den Jüngern derselben Klasse. Noch ein Examen stand bevor, und mit ihm gewiss die Erteilung des Offizierszeichens; obgleich aber von dieser Hoffnung trunken, zitterte er doch, dass jene beiden Jünglinge, die mit Riesenschritten vorgerückt waren, und von denen der ältere noch nicht das neunzehnte Jahr zurückgelegt, selbst indem letzten Augenblicke ihm, nach dem gewöhnlichen Ausdruck, vorbeispringen möchten.

Jeder von diesen arbeitete still für sich, sie sahen sich oft mit einem trotzigen, beinahe herausfordernden Blicke an; allein dabei blieb’s ; denn beide, edel gesinnt und alle kleinlichen Mittel verabscheuend, fanden sich gegenüber keinen Anlass zu einem offenen Bruch; obgleich mehrere ihrer Gefährten zu bemerken glaubten, dass John heimlich dahin arbeitete, indem er vielleicht hoffte, von einer Gewalttat, die beiden Schaden bringen würde, einen Vorteil zu ziehen, den er von seinen Talenten und seinem Fleiße nicht erwarten dürfe. Die Zeit der Prüfung fiel, wie gewöhnlich kurz vor dem Geburtstage des Königs, um durch ihren fröhlichen Erfolg die Begeisterung und die Liebe zu erhöhen, womit die Jünglinge jenem entgegensahen, umso mehr, da die Ernennungen und Prämien an diesem Tage bekannt gemacht und verteilt wurden.

Das Examen, das aus schriftlichen und mündlichen Aufgaben bestand und mehrere Tage dauerte, hatte schon begonnen. Die Jünglinge genießen während der Zeit keine Freistunden. Jede Minute ist der Anstrengung und dem Fleiße geweiht; aber nicht allein die ernsten Wissenschaften füllen ihre Zeit aus; die heiteren Künste machen auch ihre Ansprüche geltend. Es hatte sich längst ausgewiesen, dass John ein entschiedenes Talent für die Zeichenkunst besaß, und der Zufall wollte, dass er, der sich einen der schwersten Gegenstände aufgestellt, diesmal unwillkürlich mit den beiden Jünglingen Holger An— und Woldemar Re— — es ist uns nur gestattet ihre Taufnamen ganz auszuschreiben — sich in einem unvorhergesehenen Wettstreit befand. alle drei kopierten mit Tusche Kupferstiche, die an Größe, Schwierigkeit und Kunst der Ausführung vollkommen gleich waren.

Da geschah es eines Tages, als die drei Jünglinge mit anderen Gefährten zu einer ungewöhnlichen Stunde mit ihren Reißbrettern in dem großen Lehrsaale, der Allen offen stand, beschäftigt waren, dass Holger mit solcher Hast zu dem Chef berufen wurde, dass er die Zeichnung nur flüchtig mit dem feinen chinesischen Papier bedecken konnte und, ohne wie gewöhnlich erst das Brett auf sein Zimmer bringen zu können, forteilen musste. Als er eine Stunde nachher nach beendigtem Geschäfte zurückkehrte, fand er den Saal leer; die Übrigen waren schon mit ihren Reißbrettern fortgegangen, nur das seinige lag noch da. Obgleich es schon begann dunkel zu werden, wollte er doch das Versäumte nachholen und entblößte die Zeichnung. Aber man stelle sich sein Erschrecken vor, als er diese an mehreren Stellen auf eine scheinbar gewaltsame Weise verwischt fand. Er stand wie vernichtet. Nicht allein die Mühe mehrerer Wochen, sondern die schönste Hoffnung, welche er auf die dadurch zu gewinnenden Zahlen gegründet hatte, lag zerstört vor ihm. Zahlen sage ich, denn der Erfolg der Prüfung beruht dort auf einer gewissen Summe von Zahlen, welche den gelösten Aufgaben ihrem Werte nach beigelegt werden, und das von allen zusammengelegte Fazit bestimmt den Hauptcharakter.

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