Die Rahl

Die Rahl – Hermann Bahr

Ein zeitgenössischer Roman um eine Theatermimin und ihre verbotene Beziehung zu einem jüdischen Kind. Hermann Anastas Bahr war ein österreichischer Schriftsteller, Dramatiker sowie Theater- und Literaturkritiker. Er gilt als geistreicher Wortführer bürgerlich-literarischer Strömungen vom Naturalismus, über die Wiener Moderne bis hin zum Expressionismus.

Die Rahl

Die Rahl.

Format: eBook.

Die Rahl.

ISBN eBook: 9783849654788

 

 

Auszug aus dem Text:

»Nein, ist es denn möglich? Der Herr Professor, wirklich! Nein!« Und verwundert, verwirrt, verlegen ließ Frau Marie den Professor ein. Und da saßen sie nun einander gegenüber, nach so vielen Jahren. Der Professor sagte: »Ich störe hoffentlich nicht?« Und dann, als sie ihm den Hut und den Stock nahm, sagte er: »O danke! O bitte! Bitte sehr!« Und dann sagte er noch, durch die helle Stube sehend: »Sie haben es hier sehr freundlich. Ja, das haben Sie immer verstanden.« Er kam ihr plötzlich sehr alt vor, so traurig klang es.

Ihre Stimme sagte noch immer: »Nein, welche Überraschung! Nein, das ist aber schön!« Doch ihre Gedanken eilten weit herum. Und plötzlich fiel ihr ein, wie seltsam es war. Sie erschrak. »Es ist doch um Gotteswillen nichts geschehen? Oder hat Franz –?«

»Nein,« sagte Samon. »Beruhigen Sie sich nur, Frau Heitlinger! Sie haben keinen Grund, sich aufzuregen, es ist nichts geschehen. Aber es handelt sich allerdings um Franz, über den ich gern einmal mit Ihnen sprechen möchte.« Sein Gesicht veränderte sich, er schob den Kopf vor, faltete die Stirne, warf die Lippen auf und indem er über die Brille weg, ein wenig blinzelnd, nach der Decke sah, schien er sich ihr zu erheben, zu entfernen. Und plötzlich begriff sie, daß ihn die Buben nicht mochten. Das war also der Herr Professor Samon!

»Also bitte!« sagte sie, ängstlich ungeduldig.

»Nun ja,« sagte Samon, indem er, über sie weg, in die Wand sah. »Ich habe ja im allgemeinen über Ihren Sohn Franz bisher niemals zu klagen gehabt. Bei einer gewissen flatterhaften Neigung, die Dinge leichter zu nehmen, als es seinem Alter ansteht, er ist ja immerhin schon über sechzehn, hat er bisher doch stets einen anerkennenswerten guten Willen gezeigt, er faßt leicht auf, das Gedächtnis ist willig und da ich ihn bisher auch allen Ermahnungen und Ratschlägen stets zugänglich fand, war kein Anlaß, an einer günstigen Entwicklung zu zweifeln, wie Sie dies wohl aus seinen Zeugnissen entnehmen konnten.«

In seiner Stimme war etwas, das Frau Marie gegen ihn erbitterte. Wer gab diesem fremden Menschen das Recht, ihr Kind mit der Elle abzumessen, als hätte er es zuzuschneiden? Diesem Herrn Samon, den sie nur ausgelacht hatte? Und sie sagte: »Gewiß, Herr Professor, er ist doch der Erste in der Klasse. Und ich weiß ja, daß Sie sicher nicht besonders für ihn eingenommen sind. Selbstverständlich, nicht wahr?« Mit einem koketten Spott sagte sie das und ihr versorgtes, schon recht müdes Gesicht war nun vor Zorn ganz jung.

»Nein,« sagte der Professor, »ich bin ebensowenig für ihn, als ich gegen ihn bin. Ich darf das nicht kennen. In der Schule gilt nur die Leistung.« Er sah noch immer in die weiße Wand, aber seine Stimme hatte jetzt keine Strenge mehr, sondern eine sanfte Rührung. Und so floß es noch einmal von seinen Lippen: »Die Leistung! Das ist unser Gesetz, Frau Heitlinger! Persönliche Neigungen oder Abneigungen, wenn solche in irgendeinem Falle vorhanden wären, obwohl ich für meine Person gestehen muß, daß sie bei mir niemals, ich kann es getrost sagen, niemals vorhanden sind, was sich ja übrigens eigentlich von selbst verstehen sollte, aber jedenfalls: persönliche Neigungen oder Abneigungen beherrschen, ja völlig unterdrücken zu können gehört zu den ersten Forderungen, die mein Beruf an uns stellt. Und ich habe ja nichts als –.« Hier hielt er ein und die Würde, mit der er diesen Satz noch begann, sank. Und mit verdunkelter Summe sagte er: »Ich habe ja sonst nichts als meinen Beruf, Frau Marie!« Er erschrak und fügte begütigend oder entschuldigend hinzu: »Verzeihen Sie diese vielleicht etwas unpassend vertrauliche Ansprache, zu welcher ich mich aber in Anbetracht meiner früheren Beziehungen, insbesondere zu Ihrem von mir so hochverehrten Herrn Vater, immerhin berechtigt glauben darf. Nicht wahr, Frau Heitlinger?« Und jetzt, mit den harten Fingern beider Hände die Brille rückend, sah er von der Wand weg wieder auf sie und in sein starres Gesicht kam ein menschlicher Zug.

Ich kann ja auch tückisch sein, dachte Frau Marie. Denn jetzt war alles sonst aus ihr weg. Erinnerungen an damals, das leise Mitleid mit dem austrocknenden Manne, alle Zärtlichkeit für einst, alles plötzlich ausgelöscht. Sie fühlte jetzt nur noch den Feind. Und gegen diesen Feind galt es ihren Franz zu schützen. Nichts mehr wußte sie sonst. Und so begann sie, leise, lieb, vom Vater und von den alten Zeiten und wie der Vater den Herrn Professor geschätzt habe und wie der arme Vater, wenn er noch lebte, froh wäre, seinen Enkel unter der Führung des Herrn Professors zu wissen!

»Ja,« sagte Samon, »der Herr Rechnungsrat war ein vortrefflicher Mann. Und er meinte es Ihnen gut, Frau Heitlinger!«

Sie verstand den Vorwurf, ihr wurde heiß, der ganze Trotz ihrer Jugend stieg wieder auf. Aber, ihre Stimme verstellend, fuhr sie von den alten Zeiten fort: wie sie mit dem Vater an schönen Sonntagen in den Wiener Wald hinausgingen, oder sie sang Schubert und der Herr Samon begleitete sie, oder der Vater legte mit ihm abends eine Patience, ganz eifersüchtig, weil der Herr Samon immer noch schwierigere wußte. Und sie machte ihre Stimme ganz sanft, ganz weich und sagte, leise seufzend: »Ja das waren wohl schöne Zeiten!«

Und der Herr Professor Samon vergaß sich und sagte: »Bis dann der Andere kam.« Da hörte sie wieder den Haß, vor dem es ihren Franz zu schützen galt. Und es fiel ihr ein, wie »der Andere« sich freuen würde, den feindlichen Lehrer zu überlisten. Und als ob ihr der Andere zuhörte, über ihre Künste lachend, sagte sie noch einmal, mit versunkener Stimme: »Das waren wohl schöne Zeiten!« Und dann sah sie plötzlich auf, schien verlegen zu lächeln und sah weg. Und vor sich hin sagte sie: »Das ist mir immer noch der einzige Trost, daß ich den Buben bei Ihnen weiß, unter Ihrer Führung. So bin ich sicher, daß ihm nichts geschehen kann. Sonst würde mir wohl der Mut längst gesunken sein.« Sie freute sich, daß es ihr gelang, seinen Ton anzunehmen.

Im Gefühl seiner Würde jetzt wieder in die Wand sehend, über Frau Marie weg, sagte Samon: »An mir soll es nicht fehlen, Frau Heitlinger. Das heißt natürlich nur so weit es mir möglich ist, Ihren Knaben zu fördern, ohne dadurch den übrigen etwas zu entziehen. Sie können sich darauf verlassen, daß ich ihn wie meinen eigenen Sohn halten will.« Hier wurde er unsicher und verbesserte sich: »Ich kann das nämlich von allen meinen Schülern sagen. Ich halte sie sämtlich so.«

»Wie viele sind es im ganzen?« fragte Frau Marie; es reizte sie, sich an ihm irgendwie zu rächen, ohne noch recht zu wissen wofür.

»Alle Klassen, die ich habe, zusammen gerechnet,« antwortete Samon arglos, »sind es fünfhundertundsiebzehn. Und alle umfasse ich mit demselben Ernst und mit derselben Liebe.«

»Fünfhundertundsiebzehn!« rief Frau Marie. »Und wenn ich denke, was mir der eine Bub schon Sorgen macht!« Sie hatte Lust ihn bewundernd anzusehen, fürchtete sich aber ihren Spott zu verraten.

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