Essentielle Schriften, Band 2

Essentielle Schriften, Band 2 – Gregor von Nyssa

Gregor von Nyssa war von 372 bis 376 und von 378 bis zu seinem Tod Bischof von Nyssa. Er wird im römischen Katholizismus, der östlichen Orthodoxie, der orientalischen Orthodoxie, dem Anglikanismus und dem Luthertum als Heiliger verehrt. Gregor, sein älterer Bruder Basilius von Caesarea und ihr Freund Gregor von Nazianz sind unter dem Namen “Kappadokische Väter” bekannt. Gregor verfügte nicht über die administrativen Fähigkeiten seines Bruders Basilius oder den zeitgenössischen Einfluss von Gregor von Nazianz, aber er war ein gelehrter Theologe, der bedeutende Beiträge zur Trinitätslehre und zum Nizänischen Glaubensbekenntnis leistete. Die philosophischen Schriften Gregors wurden von Origen beeinflusst. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat das Interesse an den Werken Gregors erheblich zugenommen, insbesondere was die universale Erlösung betrifft, was zu einer Infragestellung vieler traditioneller Interpretationen seiner Theologie geführt hat. Dieser Band beinhaltet die Schriften “Acht Homilien über die acht Seligkeiten”, “Gespräch mit Makrina” und “Das Leben Makrinas.”

Essentielle Schriften, Band 2

Essentielle Schriften, Band 2.

Format: eBook/Taschenbuch

Essentielle Schriften, Band 2

ISBN eBook: 9783849660444

ISBN Taschenbuch: 9783849667894

 

Auszug aus dem Text:

Acht Homilien über die acht Seligkeiten

Erste Rede: “Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich!”

Einleitung.

 Als er die Scharen erblickte, stieg er auf den Berg, und nachdem er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. Da öffnete er seinen Mund und lehrte sie, indem er sprach: „Selig die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich!“

Wer unter den Versammelten ist wohl imstande, in der Gefolgschaft des Wortes Gottes1 mit diesem von der Erde, hinweg aus dem Gesichtskreis beschränkter, niedriger Anschauungen, emporzusteigen auf den geistigen Berg erhabenster Betrachtung? Dieser Berg ist jedem Schatten entrückt, der von den nur allzu hohen Erdhügeln des Bösen ausgeht, und läßt, auf allen Seiten vom Strahle des wahren Lichtes beleuchtet, in der reinen Himmelsluft der Wahrheit uns alles ringsumher zu unseren Füßen sehen, was jene nicht schauen können, die in engen Tälern eingeschlossen sind. Die Beschaffenheit und die Größe dessen aber, was man von dieser Höhe aus erblickt, legt Gott durch sein Wort selbst dar, indem es seligpreist, welche mit ihm emporsteigen, und dabei gleichsam mit dem Finger zeigt sowohl auf das Himmelreich und auf das Land da droben als auch auf die Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Tröstung und auf die Verwandtschaft mit Gott, dem Herrn des Universums, dann auf die Frucht ausgestandener Verfolgung, die in der Vereinigung mit Gott besteht, sowie noch auf alles andere, was wir, vom Worte Gottes aufmerksam gemacht, hoch oben auf dem Berge, gleichsam wie von  hoher Warte aus mit dem Auge der Hoffnung zu sehen vermögen. Weil also der Herr den Berg besteigt, so wollen wir auf Isaias hören, der uns zuruft: „Kommet, lasset uns emporsteigen auf den Berg des Herrn!“ (Is. 2, 3). Und wenn wir infolge unserer Sündhaftigkeit schwach werden, so wollen wir nach des Propheten Wort die müden Arme und die ermattenden Knie aufs neue stärken (Is. 35, 3). Denn wenn wir auf dem Gipfel angelangt sind, so werden wir dort den finden, der jede Krankheit und Schwäche heilt, der unsere Ohnmacht auf sich nimmt und unser Elend trägt (Is. 53, 4). Wollen daher auch wir zum Aufstieg uns beeilen, damit wir, mit Jesus2 auf dem (aus Ber. lies: „dem“ statt „den“) ersehnten Gipfel angelangt, ringsumher all die Güter sehen, welche das Wort jedem zeigt, der ihm auf die Höhe folgt. Nun, so möge denn Gott, das Wort3, auch für uns seinen Mund öffnen und uns lehren, was zu hören Seligkeit ist.

 

I

Machen wir den Anfang der Betrachtung mit dem Anfang der Bergpredigt4! Derselbe lautet: „Selig sind die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich!“ Wenn ein Mensch, voll Gier nach Geld, auf Schriften stößt, die ihm einen Schatz an einem bestimmten Ort verraten, der Platz aber, der den Schatz enthält, dem Geldgierigen viel Schweiß und Mühe schon im voraus ankündigt, wird dieser nun den Anstrengungen gegenüber erschlaffen, auf den Gewinn leichthin verzichten und trotz seines Gelddurstes es für süßer halten, keine Mühe aufzuwenden als reich zu werden? Nein, abermals nein! Im Gegenteil, rasch wird er seine Freunde rufen, von allen Seiten Hilfe herbeiholen und mit einem ganzen Aufgebot von Arbeitskräften darangehen, den verborgenen Schatz zu seinem Eigentum zu machen. Damit ist, meine Brüder, jener Schatz gemeint, auf den die Heilige Schrift aufmerksam macht und der auch unter einem gewissen  Dunkel verborgen liegt. Verlangend nach lauterem Golde, wollen wir uns daher eifriger Gebete wie vieler Hände bedienen, damit wir den Reichtum heben und dann gleichmäßig den Schatz teilen, so daß jeder ihn ganz erwerbe. Denn, handelt es sich um eine Verteilung der Tugend, so kann sie allen, die nach ihr streben, gegeben werden, und jedem fällt sie ganz zu, ohne daß die Mitbesitzer irgendwie benachteiligt werden. Bei der Verteilung von irdischem Reichtum allerdings schädigt einer, der mehr an sich reißt, die anderen, mit denen er teilen soll; denn wer einen größeren Anteil nimmt, vermindert notwendig den Anteil seiner Genossen. Der geistige Reichtum aber macht es wie die Sonne, indem er allen Anteil an sich gewährt, die ihr Augenmerk auf ihn richten, und ganz in das Eigentum eines jeden übergeht. Da demnach alle den gleichen Gewinn aus ihrer Anstrengung erhoffen dürfen, so mögen uns alle in gleicher Weise durch ihre Gebete bei unserer Betrachtung unterstützen.

An erster Stelle müssen wir nun, wie ich glaube, erwägen, was denn Seligkeit an und für sich bedeutet. Seligkeit ist nach meinem Dafürhalten der Inbegriff alles Guten, worin auch die Erfüllung eines jeglichen berechtigten Verlangens eingeschlossen ist. Auch aus der Vergegenwärtigung des Gegenteils von dem, was Seligkeit bedeutet, können wir zu größerer Klarheit gelangen. Das Gegenteil von „glückselig“ ist „mühselig“. Mühseligkeit hinwiederum ist die Plage, welche unangenehme, schmerzliche Gefühle erzeugt. Je nachdem der Mensch glückselig oder mühselig ist, ist seine Gemütsverfassung ganz verschieden: wer glückseliggepriesen wird, kann sich freuen und froh genießen, was die Gegenwart ihm bietet; wer aber unselig oder unglücklich genannt wird, kann sich über seine Lage nur betrüben und Leid empfinden. Was nun aber in Wahrheit glückselig ist, das ist das göttliche Wesen. Denn was wir uns immer auch darunter vorstellen mögen, auf jeden Fall ist voll Seligkeit jenes reine Leben, das unendliche, unbegreifliche Gut, die unaussprechliche Schönheit, die lautere Anmut, Weisheit und Kraft, das wahrhaftige Licht, die Quelle alles Guten, die das Universum beherrschende Macht, das  einzig Liebenswerte, das stets Unveränderliche, das immerfort in Wonne Strahlende, die ewige Freude, jenes Wesen, das wir nie nach Gebühr schildern können, auch wenn wir alles Herrliche von ihm aussagen, was wir nur immer ersinnen können. Denn teils erreicht unser Denken die Wirklichkeit nicht, teils können wir unsere Gedanken, falls sie sich hoch emporschwingen, nicht in die entsprechenden Worte kleiden.

Da aber Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen, so wird an zweiter Stelle derjenige seligzupreisen sein, dem wir auf Grund seiner Teilnahme an der wirklichen, unendlichen Glückseligkeit diesen Namen geben. Denn wie hinsichtlich der leiblichen Wohlgestalt das schöne Original in der lebendigen Person vorliegt und den zweiten Rang die in einer Nachbildung dargestellte Schönheit einnimmt, so trägt die menschliche Natur als Abbild der höheren göttlichen Glückseligkeit die Züge edler Schönheit an sich, so lange sie auch die übrigen dem unendlich Glückseligen zukommenden guten Eigenschaften5, ebenfalls abbildungsweise, an sich aufweist. Als aber der Schmutz der Sünde die Schönheit des Abbildes verwischt hatte, erschien der, welcher mit seinem lebendigen und ins ewige Leben fortströmenden Wasser uns abwäscht, so daß wir die Häßlichkeit der Sünde ablegen und in seliger Schönheit wieder erneuert werden. Und wie der Kunstverständige hinsichtlich der Gemälde zu den Unkundigen sagen kann, jene Person sei schön gemalt, die so und so beschaffene Körperteile hat, z.B. solche Haare, solche Augen, so gezeichnete Brauen, so eine Gestaltung der Wangen und alle anderen Erfordernisse, die zu einer vollkommenen Schönheit gehören, so beschreibt auch der, welcher die Seele wie in einem Gemälde dem allein wahrhaft Seligen nachbilden möchte, in seiner Zeichnung alle Einzelheiten, die in uns vereinigt sein müssen, um mit Recht seliggepriesen werden zu können. Zuerst nun verkündet er: „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich!“

 

II

 Doch was würden wir aus dem vom Herrn so freigebig erteilten Unterricht für einen Gewinn ziehen, wenn uns nicht der in den Worten liegende Sinn enthüllt würde? Denn auch in der Heilkunde bleiben viele wertvolle und seltene Arzneimittel für den hierin Unwissenden unverwendbar und unnütz, bis uns die medizinische Wissenschaft lehrt, wozu jedes dienlich ist. Was bedeutet nun „das Armsein im Geiste“, als dessen Frucht der Besitz des Himmelreiches verheißen wird? Einen doppelten Reichtum lernen wir aus der Schrift kennen: einen, der hochgeschätzt, und einen, der verworfen wird. Hochgeschätzt wird der Reichtum an Tugenden, verworfen der materielle, irdische, weil jener ein Gut der Seele, dieser dagegen geeignet ist, den sinnlichen Menschen zu täuschen und zu verführen. Letzteren zu sammeln, verbietet der Herr, weil er der Verzehrung durch Motten und den Nachstellungen der Diebe ausgesetzt ist; den Reichtum an höheren Gütern dagegen befiehlt er, eifrig anzustreben, weil keine Macht der Zerstörung an ihn heranreicht (Matth. 6, 19 f.); mit der Motte und dem Diebe hat er auf den hingewiesen, der die Schätze der Seele rauben möchte. Wenn nun die Armut das gerade Gegenteil des Reichtums ist, so liegt es nahe, auch eine doppelte Armut anzunehmen: eine, die zu verwerfen, und eine, die seligzupreisen ist. Wer arm ist an Mäßigung oder an dem kostbaren Gut der Gerechtigkeit oder an Weisheit oder an Klugheit, oder wer überhaupt an einem der wirklich kostbaren Güter Mangel leidet und wie ein Bettler erscheint, ist unglücklich wegen seiner Dürftigkeit und bedauernswert wegen seiner Armut an den wahrhaft wertvollen Gütern. Wer aber an allem, was böse ist, kraft seiner freien Willensentscheidung Not leidet und von den teuflischen Gütern nichts in seinen Kammern hinterlegt hat, sondern im Geiste glüht und durch diesen die Armut am Bösen für sich als Schatz aufbewahrt, der ist es wohl, dem das Wort Gottes die Armut, welche es seligpreist, zuerkennt und deren Lohn das Himmelreich ist.

 

III

 Doch kehren wir zu unserem Gegenstande zurück, um nach Schätzen zu graben, und lassen wir nicht ab, wie ein Bergmann zu forschen, um das Verborgene an das Tageslicht zu befördern. Es heißt: „Selig sind die Armen im Geiste!“ Schon früher wurde es in gewisser Hinsicht hervorgehoben und soll jetzt wiederholt werden, daß das Ziel und Ende des Tugendstrebens in unserer Verähnlichung mit Gott besteht. Nun entzieht sich aber Gott, weil er vollständig ohne Leidenschaft und ohne Makel ist, einer* durchaus* vollkommenen Nachahmung von seiten der Menschen; denn es ist unmöglich, daß sich das in Leidenschaften befangene Menschenleben allseitig jener Natur angleiche, die keiner Leidenschaft fähig ist. Wenn nun Gott nach dem Apostel „allein selig“ ist (1 Tim. 1, 11), die Menschen aber einerseits nur durch ihre Angleichung an Gott an der Seligkeit teilnehmen, andererseits die allseitige Nachahmung Gottes durch uns ausgeschlossen ist, so ist folglich eine vollkommene Seligkeit für das menschliche Leben unerreichbar. Teilweise jedoch bietet sich Gott den Menschen, die wollen, zur Nachahmung dar. Inwiefern? Mit „der Armut im Geiste“ scheint mir das Wort die freiwillige Verdemütigung zu bezeichnen. Als Beispiel hiefür stellt uns der Apostel jene „Armut“ Gottes vor, die er im Auge hat, wenn er von Gott sagt, daß er „unsertwegen arm wurde, damit wir durch seine Armut reich würden“ (2 Kor. 8, 9). Da nun alle anderen Eigenschaften, die wir an Gott erkennen, das Maß der menschlichen Natur übersteigen, die Demut und die Erniedrigung aber uns gewissermaßen angeboren ist und innig mit uns verwachsen ist, die wir da auf Erden wandeln, aus der Erde unser Dasein fristen und zur Erde wieder zurückkehren, so hast du, wenn du Gott in dem nachahmst, was deiner Natur entspricht, auch die selige Schönheit angezogen.

Niemand aber glaube, daß die Tugend der Demut mühelos und leicht erworben werde! Im Gegenteil ist sie schwerer zu erlangen als jede andere Tugend, wie sie  auch heiße. Warum? Deshalb, weil, während der Mensch nach Aufnahme des guten Samens sich dem Schlaf überließ, gerade der gefährlichste Bestandteil des entgegengesetzten Samens, nämlich das Unkraut des Hochmutes vom Feinde unseres Lebens ausgestreut ward und Wurzel faßte. Denn durch dieselbe Sünde, durch die unser Widersacher sich auf die (aus Ber. lies: „die“ statt „der“) Erde herabstürzte, riß er das unglückliche Menschengeschlecht in gemeinsamem Falle mit sich; und kein anderes Übel ist für uns so schlimm, wie das des Hochmutes6. Da nun die Leidenschaft des Hochmutes fast mit jedem, der an der menschlichen Natur teilnimmt, sozusagen verwachsen ist, so stellt der Herr, um denselben gewissermaßen als das Grundübel aus unseren Seelen zu entfernen, die Mahnung an die Spitze der Seligpreisungen, den freiwillig arm Gewordenen nachzuahmen, der wahrhaft glückselig ist, damit wir in dem Punkte, in welchem wir es vermögen, das heißt durch freiwillige Armut nach Kräften ähnlich werden und dadurch auch Anteil an der Seligpreisung erhalten.

Denn so heißt es: „Ihr sollt so gesinnt sein, wie Jesus Christus, der, obschon er göttlichen Wesens war, es nicht für Raub ansah, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm“ (Phil. 2, 5). Was ist armseliger für Gott als die Knechtsgestalt? was ist niedriger für den König der Welt als die Niedrigkeit unserer Natur zu teilen? Der König der Könige und der Herr der Herren nimmt freiwillig Knechtsgestalt an; der Richter über die ganze Menschheit wird einem irdischen Fürsten zinspflichtig! Der Herr der Schöpfung kehrt in einer Höhle ein; er, der das Weltall umfangen hält, findet keinen Platz in der Herberge, sondern muß sich ausgestoßen in die Krippe unvernünftiger Tiere legen lassen! Der ganz Reine und Unbefleckte läßt sich zur Annahme der schmutzigen menschlichen Natur herab; und nachdem er den Weg durch unsere ganze Armseligkeit zurückgelegt hatte, geht er so weit, daß er auch dem Tod sich unterzieht! Sehet da das Vollmaß der Demut: das Leben verkostet den Tod, der Richter wird vor den  Richterstuhl geschleppt, der Herr, durch den alle leben, unterwirft sich dem Todesurteil des Richters; der Gebieter über alle himmlischen Mächte und Gewalten stößt nicht die Hände der Schergen von sich! Nach diesem Beispiele, mahnt der Apostel, richte sich das Maß deiner Demut!

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