Herz der Finsternis (Deutsche Neuübersetzung)

Herz der Finsternis (Deutsche Neuübersetzung) – Joseph Conrad

Herz der Finsternis (engl. Originaltitel Heart of Darkness) ist eine Erzählung aus dem Jahre 1899, mit der Joseph Conrad zu anhaltendem Weltruhm gelangte. Der Flussdampferkapitän Marlow reist im Auftrag einer belgischen Handelskompanie tief in den Kongo. Auf seiner Reise erlebt er unverständliche Wirrnisse, Sinnlosigkeit und eine unvorstellbare Ausbeutung der Schwarzen. Die Reise den Fluss entlang entwickelt sich immer mehr zur Reise in sein eigenes unbewusstes Inneres …

Herz der Finsternis (Deutsche Neuübersetzung)

Herz der Finsternis (Deutsche Neuübersetzung).

Format: Taschenbuch/eBook.

Herz der Finsternis (Deutsche Neuübersetzung).

ISBN Taschenbuch: 9783849669386

ISBN eBook: 9783849653170

 

Auszug aus dem ersten Kapitel:

 

Die Nellie, eine Segelyacht, schwoite um ihren Anker, die Segel waren gerafft, und das Schiff ruhte. Die Flut hatte eingesetzt, der Wind war fast still, und da wir flussabwärts fahren wollten, war das Einzige, was wir tun konnten, auf die Flut zu warten.

Die Mündung der Themse erstreckte sich vor uns wie der Beginn einer endlosen Wasserstraße. Draußen, auf offener See, wirkten das Meer und der Himmel, als ob sie nahtlos miteinander verschweißt wären, und in dem hellen Raum schienen die gebräunten Segel der mit der Flut stromaufwärts fahrenden Lastkähne stillzustehen, als seien sie Bündel aus spitz zulaufenden, roten Leinwänden und schimmernden, lackierten Sprietbäumen. Ein Dunst lag auf den niedrigen Ufern, die flach ins Meer hinausliefen und dort verschwanden. Die Luft war dunkel über Gravesend, und weiter hinten schien sie sich zu einer traurigen Finsternis zu verdichten, die bewegungslos über der größten und großartigsten Stadt der Welt hing.

Der Direktor der Handelsgesellschaft war unser Kapitän und unser Gastgeber. Wir vier beobachteten entzückt seinen Rücken, als er im Bug stand und seewärts blickte. Auf dem gesamten Fluss gab es nichts, das nur annähernd so seemännisch aussah. Er glich einem Piloten, der für einen Seemann die Vertrauenswürdigkeit schlechthin verkörpert. Es war schwer zu verstehen, dass seine Aufgabe nicht da draußen in der leuchtenden Mündung lag, sondern hinter ihm, in der brütenden Dunkelheit.

Zwischen uns lag, wie ich bereits sagte, das Band des Meeres. Es hielt nicht nur unsere Herzen hoch während der langen Zeiträume der Trennung, sondern ließ uns auch tolerant werden für den Seemannsgarn des jeweils anderen – und sogar gegenüber anderen Überzeugungen. Der Anwalt – der beste der alten Gefährten – hatte wegen seines Alters und seiner Tugenden das einzige Kissen an Deck und lag auf dem einzigen Teppich. Der Buchhalter hatte bereits eine Schachtel mit Dominosteinen hervorgekramt und erprobte seine Baukunst mit den Steinen. Marlow saß im Schneidersitz rechts hinten und lehnte sich an den Besanmast. Er hatte eingefallene Wangen, einen gelblichen Teint, einen geraden Rücken, ein asketisches Aussehen, und mit seinen nach unten zeigenden Armen und den nach außen zeigenden Handflächen glich er einem Götzenbild. Der Direktor hatte sich überzeugt, dass der Anker guten Halt hatte, machte sich auf den Weg nach achtern und setzte sich zu uns. Wir tauschten ein paar nichtssagende Worte aus. Danach herrschte an Bord der Yacht Stille. Aus dem einen oder anderen Grund haben wir das Dominospiel nicht begonnen. Wir waren alle grüblerisch und wollten nur entspannt in die Luft starren. Der Tag endete in stiller Gelassenheit und exquisitem Glanz. Das Wasser schien friedlich; der makellose Himmel war eine gütige Unermesslichkeit aus unbeflecktem Licht; der Nebel auf den Essex-Marschen sah aus wie ein hauchdünner und glänzender Stoff, der an den bewaldeten Hügeln im Landesinneren hing und die niedrigen Ufer in durchsichtige Falten hüllte. Nur die Dunkelheit im Westen, die über dem Oberlauf brütete, wurde jede Minute düsterer, als ob sie die Annäherung der Sonne ärgern würde.

Und schließlich sank die Sonne tiefer und tiefer, ein geschwungener, fast unmerklicher Bogen, und verwandelte sich von glühendem Weiß in ein stumpfes Rot ohne Strahlen und ohne Hitze, als ob sie plötzlich erlöschen würde, Dem Tode geweiht durch die Berührung mit dieser Finsternis, die sich über einer Ansammlung von Männern ausbreitete.

Mit der Zeit kam eine Veränderung über das Wasser, und die Idylle verlor an Glanz, wurde aber ausdrucksstärker. Der alte Fluss in seinem weitläufigen Bett, ausgebreitet in der friedvollen Würde eines Wasserwegs, der zu den äußersten Enden der Erde führt, sah nach Jahren des guten Dienstes an der Rasse, die seine Ufer bevölkerte, dem Ende des Tages unerschüttert entgegen. Wir betrachteten den ehrwürdigen Strom nicht aus der lebhaften Flut eines kurzen Tages, der kommt und für immer geht, sondern im erhabenen Licht bleibender Erinnerungen. Und in der Tat ist nichts einfacher für einen Menschen, der, wie das Sprichwort sagt, “mit Ehrfurcht und Zuneigung dem Meer gefolgt ist”, als den großen Geist der Vergangenheit am Unterlauf der Themse zu wecken. Der Gezeitenstrom fließt in seinem unaufhörlichen Dienst hin und her, vollgepackt mit Erinnerungen an Menschen und Schiffe, die er bis zum Frieden des eigenen Hauses oder zu den Schlachten des Meeres getragen hatte. Er hatte alle Männer, auf die die Nation stolz ist, gekannt und ihnen gedient, von Sir Francis Drake bis Sir John Franklin, Ritter allesamt, mit oder ohne Titel – fahrende Ritter des Meeres. Er hatte alle Schiffe getragen, deren Namen wie Juwelen in der Dunkelheit der Zeit blinken, von der Golden Hind, die voller Schätze in ihren runden Flanken zurückkehrte, um von Ihrer Königlichen Hoheit besucht zu werden und so aus der gigantischen Geschichte zu verschwinden, bis hin zu Erebus und Terror, die an anderen Eroberungen beteiligt waren – und nie zurückgekehrt sind. Er hatte die Schiffe und die Männer gekannt. Sie waren von Deptford, von Greenwich und von Erith losgesegelt – die Abenteurer und Siedler; Schiffe des Königs und Handelsschiffe; Kapitäne, Admirale, die dunklen “Eindringlingen” des Handels mit den Ländern im Osten und die “Auftragsgeneräle” der Ostindien-Flotte. Jäger nach Gold oder Ruhm, sie alle waren an diesem Strom aufgebrochen, mit dem Schwert und oft auch der Fackel in der Hand, Boten des mächtigen Landes, Hüter eines Funkens des heiligen Feuers. Welche Pracht war nicht auf den Fluten dieses Flusses hinein in die Geheimnisse einer noch unbekannten Erde gesegelt!…… Die Träume der Menschen, der Samen des Commonwealths, die Keime der Imperien.

Die Sonne ging unter; die Abenddämmerung legte sich auf den Strom und am Ufer begannen Lichter zu erscheinen. Der Chapman-Leuchtturm, ein dreibeiniges Etwas, das im Watt stand, strahlte hell. Lichter von Schiffen, die in der Fahrrinne unterwegs waren – ein stetiger Strom von Lichtern, die auf und ab fuhren. Und weiter westlich am Oberlauf zeichnete sich die monströse Stadt immer noch unheilvoll gegen den Himmel ab, bei Sonnenschein eine brütende Finsternis, unter den Sternen ein greller Schein.

“Und auch das”, sagte Marlow plötzlich, “war einmal einer der dunkelsten Orte der Erde.”

Er war der einzige unter uns, der immer noch “dem Meer folgte”. Das Schlimmste, was man von ihm sagen konnte, war, dass er seinen Stand nicht repräsentierte. Er war ein Seemann, aber er war auch ein Wanderer, während die meisten Seeleute, wenn man es so ausdrücken möchte, ein sesshaftes Leben führen. Sie bleiben gerne zuhause, und ihr Zuhause ist immer bei ihnen – das Schiff; und deswegen ist ihr Land – das Meer. Ein Schiff ist wie das andere, und das Meer ist immer das gleiche. In der Unveränderlichkeit ihrer Umgebung gleiten die fremden Ufer, die fremden Gesichter, die sich verändernde Unermesslichkeit des Lebens einfach vorbei, verschleiert eher durch eine leicht verächtliche Ignoranz als einem Hang für Geheimnisse; denn es gibt nichts Geheimnisvolles für einen Seemann, außer dem Meer selbst, das die Gebieterin seiner Existenz und so unergründlich wie das Schicksal selbst ist. Als Erholung genügt ihm nach seinen Arbeitsstunden ein gemütlicher Spaziergang oder eine Tour an Land, um ihm das Geheimnis eines ganzen Kontinents zu enthüllen – und im Allgemeinen findet er das Geheimnis nicht mal interessant. Seemannsgarn besitzt eine unmittelbare Schlichtheit, und seine ganze Bedeutung kann man in einer Nussschale fassen. Aber Marlow war nicht typisch dafür (wenn man seine Neigung zum Spinnen von Seemannsgarn ausschließt), und für ihn lag die Bedeutung einer Episode nicht innen wie ein Kern, sondern außen, die Geschichte, die sie hervorgebracht hatte, umschließend – so wie ein Schein einen Schleier hervorbringt, ähnlich einem dieser nebligen Schleier, die manchmal durch die geisterhafte Beleuchtung des Mondlichts sichtbar gemacht werden…..

 

 

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