Judith Trachtenberg

Judith Trachtenberg – Karl Emil Franzos

Der tragische Roman erzählt die Geschichte eines jüdischen Mädchen, die von einem polnischen Grafen entführt wird und einen Heiratsantrag bekommt. Doch in Polen überlegt es sich der Graf anders. Er beginnt sie zu täuschen. Obwohl sich Judith dann, nicht zuletzt wegen des gemeinsamen Kindes durchsetzt, endet die Geschichte in einer Katastrophe.

Judith Trachtenberg

Judith Trachtenberg.

Format: eBook

Judith Trachtenberg.

ISBN eBook: 9783849655396

 

 

Auszug aus dem Text:

Vor etwa zwei Menschenaltern, in der Regierungszeit des Kaisers Franz, lebte in einer kleinen Stadt Ostgaliziens ein wackerer und vom Geschick reich gesegneter Mann, Nathaniel Trachtenberg mit Namen und seines Zeichens ein Lichtzieher. Er hatte dies Gewerbe von seinem Vater in bescheidenem Stande übernommen, es aber allmählich durch Tatkraft und Ausdauer hoch empor gebracht, indem er auch die Erzeugung von Wachskerzen hinzufügte und durch die Gediegenheit seiner Ware, vielleicht noch mehr durch die weise Mäßigung im Einfordern der Zahlungen fast alle Vornehmen des Landes zu seinen Kunden zu machen wußte. Mit dieser Festigung seines Reichtums hielt auch die innere Klärung des Mannes gleichen Schritt. Von der Natur mit guten Gaben ausgerüstet, erwarb er in stetem Verkehr mit den Adeligen und Beamten und durch die zahlreichen Reisen, welche er zu Geschäftszwecken nach dem Westen unternahm, im Lauf der Jahre größere Bildung, als damals den meisten seiner Glaubensgenossen gegönnt war. Er sprach und schrieb das Deutsche rein und geläufig, las regelmäßig die Wiener Zeitungen und in seinen Mußestunden sogar zuweilen einen Dichter, Lessing oder Schiller. Aber wie sehr sich dadurch seine Ansichten über Ziel und Zweck des Lebens von denen seiner armen, umdüsterten Glaubensbrüder entfernen mochten, so blieb er doch mit ihnen durch Tracht und Lebensführung eng verbunden und kam nicht bloß jedem Gebote des Glaubens, sondern auch jeder Satzung der Rabbinen mit ängstlicher Treue nach. »Sie kennen die Luft nicht, in der wir atmen müssen!« pflegte er seinen aufgeklärten jüdischen Geschäftsfreunden in Wien oder Breslau zu erwidern, wenn sie ihm leise Vorwürfe darüber machten. »Ob ich es wirklich für sündhaft halte, am Sabbat einen Stock zu tragen, ist gleichgültig; wesentlich aber ist, unsere Leute durch das Beispiel eines Mannes, den sie achten müssen, darüber zu beruhigen, daß man deutsche Bücher lesen, mit den Christen in reinem Deutsch sprechen und dabei doch ein frommer Jude bleiben kann. Darum wäre es fast ein Frevel, wenn ich heute meinen Talar zu einem deutschen Rock verschneiden ließe – und glauben Sie, daß mich dies meinen Edelleuten oder dem Herrn Kreiskommissär näherbrächte? Mitnichten, sie würden derlei nur als den ohnmächtigen Versuch verhöhnen, mich ihnen gleichzustellen! So müssen denn wir wenigen Gebildeteren im Lande vorläufig nach außen bleiben, wie wir sind!« Dies, fügte er stets hinzu, sei seine innerste Überzeugung, und wie ernst es ihm damit war, bewies er auch durch die Art, wie er seine heiligste Pflicht erfüllte, die Erziehung der beiden Kinder, welche die frühverstorbene, zärtlich geliebte Gattin hinterlassen.

Es war dies ein Knabe, Rafael, und ein um zwei Jahre jüngeres Mädchen, Judith, welches sehr schön zu werden versprach. Beide erhielten durch einen Lehrer, Herrn Bergheimer, welchen Trachtenberg aus Mainz in sein Haus berufen, eine sorgliche, den Anforderungen der neuen Zeit entsprechende Erziehung, aber mit nicht geringerer Sorge wachte der Vater über ihren Unterricht im Hebräischen und den Gebeten. »Ich will«, sagte er dem Lehrer, »nicht entscheiden, ob es ein Glück oder ein Unglück ist, als Jude geboren zu sein; ich habe darüber meine besonderen Gedanken, welche Sie, den kindlich frommen Mann, vielleicht tief erschrecken würden. Aber ein Schicksal ist es, und sein Schicksal soll der Mensch unverbittert tragen lernen. Darum suche ich meine Kinder in der vollen Pietät für das Judentum zu erziehen; die Demütigungen, welche ihnen aus ihrer Abstammung erwachsen werden, kann ich ihnen nicht lindern oder gar fernhalten, so suche ich ihnen wenigstens als Wegzehrung den Trost ins Leben mitzugeben, daß sie für etwas leiden, was ihrem Herzen teuer und der Schmerzen wert ist.« Diesen Gesinnungen entsprach es auch, daß er zwar jeden Keim des Christenhasses im Gemüte der Kinder mit Eifer bekämpfte, aber sie dennoch früh mit dem Gedanken vertraut machte, einst ihres Glaubens, ja ihrer Gesichtsbildung wegen schwere Kränkung erdulden zu müssen. »Sie sollen sich daran gewöhnen«, pflegte er mit traurigem Lächeln zu sagen und ließ es vielleicht nur darum geschehen, daß Rafael und Judith mit den Kindern einiger christlicher Honoratioren verkehrten. Allerdings gestatteten dies nur jene Familien, welche guten Grund hatten, dem reichen jüdischen Fabrikherrn die kleine Gefälligkeit zu erweisen, aber deren gab es, wie nun einmal die Verhältnisse der Landstadt lagen, nicht wenige.

Nathaniel Trachtenberg maß diesem Verkehr geringe Bedeutung bei, und vollends kam ihm nie zu Sinn, daß derselbe jemals in anderer Art, als ihm vorschwebte, Einfluß auf die Gemüter seiner Kinder üben könne. Und dennoch lag es hauptsächlich an diesen Eindrücken, wenn die Geschwister in einer ganz seltsamen Atmosphäre emporwuchsen, gleichsam auf der Grenzscheide, wo sich der dumpfe Brodem des Ghetto mit einer anderen, nicht reineren Luft mischte, welche von dem Weihrauchduft eines fanatischen Glaubens, von dem Moderdunst verfallener polnischer Adelsherrlichkeit geschwängert war. Von den Judenkindern der Stadt durch Sitten, Sprechweise und Wissen geschieden, standen sie ihren christlichen Gespielen nicht minder fern durch jenen anerzogenen Instinkt, jene tausend Äußerungen des Vorurteils, welche sich hüben und drüben fast unwillkürlich regten und jeden wahrhaft herzlichen Verkehr unmöglich machten. Aber wer je in ein Kindesherz geblickt, weiß ja, daß es auf die Stillung jedes Bedürfnisses verzichten kann, nur nicht des Dranges, Liebe zu geben und zu empfangen. Wie eifrig auch der Vater seinen Lieblingen das Gefühl des Alleinstehens in einer fremden oder fremd gewordenen Umgebung zu lindern suchte, so sollte doch die Zeit kommen, wo er sich gestehen mußte, die Bitternis solcher Vereinsamung für ein junges Gemüt nicht voll ermessen zu haben, die Zeit, da der sonst so lebenskundige Mann fast hilflos zusah, wie die beiden den ersehnten Anschluß an ihre Altersgenossen gleichsam mit Gewalt zu erzwingen suchten.

Es geschah dies, als Rafael das einundzwanzigste, Judith das neunzehnte Jahr erreichte. Beide hatten eben den Tanzkursus beendigt, welcher im gastlichen Hause des Kreiskommissärs von Wroblewski, eines der kostspieligsten Freunde Trachtenbergs, abgehalten worden war. Der Jüngling, welcher von Bergheimer durch häuslichen Unterricht für die Hochschule vorgebildet wurde, erklärte nun mit bitterer Entschiedenheit, er habe es satt, sich um seiner krausen Haare und runden Augen willen schlecht behandeln zu lassen; er werde nie wieder ein Christenhaus betreten und seinen Verkehr ausschließlich unter jenen suchen, zu denen er durch Abstammung und gemeinsames Leid gehöre. Im entgegengesetzten Sinne hatten die Erfahrungen dieses Unterrichts auf Judith gewirkt; sie ward in den christlichen Familien immer heimischer und rümpfte ihr Näschen, wenn sie die hebräische Lehrstunde erledigen mußte. Beiden trat das Machtgebot des Vaters entgegen und hinderte sie, ihren Neigungen ganz zu folgen, aber sie fügten sich doch nur so weit, als sie nicht anders konnten, oder vielmehr, wie sich Nathaniel in ruhigen und gerechten Stunden sagte, soweit sie eben konnten. Denn der kluge Mann hatte wohl erkannt, daß in beiden einer der stärksten Triebe der Menschenbrust seinen Willen durchkreuze, hier die befriedigte, dort die gekränkte Eitelkeit. Der arme Rafael war seinen kleinen Tänzerinnen doppelt häßlich erschienen, weil er ein Jude war, wogegen die früh gereifte Schönheit seines Schwesterchens ihre jugendlichen Hofmacher vielleicht um so mehr entzückte, weil sie der Jüdin gegenüber Hoffnungen hegten, deren sie sich bei Mädchen ihrer Kreise nie erdreistet hätten. Das war alles. Und doch kam dem Vaterherzen allmählich und immer öfter die Befürchtung, daß diese »Kinderei« vielleicht dereinst tief und verhängnisvoll auf ihr Los einwirken werde. Aber durch sein eigenes Wesen und Werden darauf hingeleitet, der klugen, scharfen Berechnung mehr zu vertrauen als unbestimmten Ahnungen, fühlte der Fabrikherr alle Sorgen schwinden, wenn er seiner sorglich ausgeheckten Zukunftspläne gedachte, welche durch diese Neigungen zum mindesten nicht durchkreuzt, ja sogar, wie er sich zuweilen selbst zu überreden suchte, gefördert werden konnten.

Er hatte den einzigen Sohn für das Studium der Rechte, den Beruf eines Rechtsanwalts bestimmt, nicht allein deshalb, weil er nach der Anschauung seines Volkes im Doktordiplom die höchste Auszeichnung des Juden erblickte, sondern weil er den Jüngling so recht zum Muster und Vorkämpfer seiner Glaubensgenossen erziehen wollte. Da nun Rafael sein Leben in Galizien verbringen sollte, so war es vielleicht gut, wenn ihn diese früh erwachte Hingebung an die Unterdrückten für seine Aufgabe stählte, während Judith, welche der Vater einem gebildeten, aufgeklärten Juden in Deutschland zu vermählen gedachte, in den christlichen Kreisen am besten jene Kenntnis feinerer Umgangsformen erlangen mochte, deren sie in der künftigen Heimat bedurfte. Durch diese Erwägungen geleitet, ließ Trachtenberg den Dingen, je länger, so lässiger, den Lauf und trat nur insoweit dem frühreifen Eigenwillen beider entgegen, als er hiervon eine Trübung ihrer geschwisterlichen Liebe befürchtete.

In der Tat gestaltete sich das Verhältnis beider nun immer peinlicher, und an wem die größere Schuld lag, war mindestens dem Vaterherzen zu entscheiden unmöglich. Sicherlich aber wurzelte das Zerwürfnis weder im Mangel an Liebe noch, wie es scheinen mochte, in der Verschiedenheit der Naturen. Denn wohl glichen Rafael und Judith einander körperlich in keinem Zuge – er ein linkischer, hagerer Jüngling, dem um das blasse, scharfgezeichnete Antlitz ein Urwald tiefschwarzen, krausen Haares starrte, sie eine weiche, süße, üppige Mädchenknospe, das helle, schöne Antlitz von goldrot schimmernden Flechten gekrönt –, wohl hob sich ihre Heiterkeit und Genußfreude doppelt grell ab von seiner düsteren, grübelnden, schwerflüssigen Art, dennoch wies es sich in ihrem innersten Wesen so deutlich als irgend möglich, daß sie einst unter demselben Herzen gelegen. Beide waren begabt, feinfühlig und empfindlich, beide ehrgeizig bis zur Eitelkeit, selbstbewußt bis zum Trotz und ein jedes dem anderen fast teurer als sich selbst. Aber gerade diese Gleichheit aller seelischen Kräfte mußte sie scheiden und erbittern; jedes hielt die eigenen Neigungen für die einzig trefflichen, vernünftigen und berechtigten, jedes fühlte sich durch den Tadel des anderen unmäßig verwundet, jedes härmte sich mit grimmiger Sorge um die Zukunft des anderen und drückte sich die billigen Stachelreden der Welt selbstquälerisch ins tiefste Herz ein; sie jede höhnische Bemerkung der polnischen Dämchen über den »finsteren Talmudisten«, er jedes giftige Hohnwort des Ghetto über die »Abtrünnige«. So kamen die Geschwister, während ihre Liebe heimlich fortglühte, äußerlich fast in Feindschaft und gerieten allmählich, von Trotz und Eitelkeit getrieben, viel weiter, als sie je selbst für möglich gehalten. Weil Judith jüdischen Verkehr immer hochmütiger mied, darum sagte sich Rafael in offener Feindseligkeit von den Christen los, weil er den tausend Geboten des Rituals immer ängstlicher nachkam, vernachlässigte sie dieselben gänzlich. Nur noch darin äußerte sich die einstige Zärtlichkeit, daß keines des Vaters Ohr und Herz mit Anklagen gegen das Geschwister bestürmte. In seiner Gegenwart fiel nie ein hartes Wort; freilich hielten sie sich für diesen Zwang doppelt schadlos, wenn sie einander allein gegenüberstanden.

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